Skyle. Esther Bertram

Skyle - Esther Bertram


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Er dachte über ihr aktuelles Bauprojekt nach. Wenn die bestellten Ösen heute ankämen, könnten sie das Schiff endlich fertigstellen und mit den Reparaturen am nächsten beginnen. Das Gewitterkupfer musste ausgetauscht werden. Es war bereits am Vortag aus den Werkstätten der Alchemisten geliefert worden. So würden sie den Auftrag schnell erledigen können.

      Wolf stopfte sich das letzte Stück Madeleine in den Mund und hob die Nase in den Wind.

      Dort, wo er jetzt hinwollte, konnte ihn sein Geruchssinn ebenso gut führen wie sein Gehör. Der Tiegel war eine laute, stinkende Ansammlung aus Läden, Werkstätten und Laboren. Die ätzenden Beizen, Farben und die merkwürdigen Gebräue konnte man, wenn der Wind ungünstig stand, in der ganzen Stadt riechen. Die Hammerschläge, das Zischen der Maschinen und das Rauschen der Blasebälge hörte man schon von weitem. Er musste sich also nur auf Nase und Ohren verlassen, um seinen Weg durch Autonne Gale zu finden.

      Das Licht der Zwillingssonnen ergoss sich über die Dächer der Stadt, die Straßen füllten sich mit Leben. Die verschiedenen Gerüche, die ihn umgaben, und der steigende Lärmpegel erschwerten es Wolf, sich richtig zu orientieren. Im Tiegel begrüßten ihn die Gerüche von kaltem Metall und heißem Kaffee. Er folgte ihnen und blieb vor einer offenen Schmiede stehen. An der Werkbank war der Schmied gerade damit beschäftigt, filigrane Verzierungen für ein kunstvolles Eisentor zu fertigen. Bestimmt war es für eine der Villen oberhalb der Stadt gedacht. Der Schmied begrüßte ihn mit einem Nicken, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Wolf beobachtete gespannt, wie er Blüten und Blätter aus dem heißen Metall formte.

      Die Zwillingssonnen standen bereits hoch am Himmel, als Wolf schließlich seinen Weg fortsetzte. Eigentlich hatte er vorgehabt, vor den anderen Schiffsbauern auf der Werft zu sein. Jetzt würden sie ihn wieder aufziehen. Er lächelte bei dem Gedanken. Merkwürdig, wie gut er sich in den vergangenen acht Jahren hier eingelebt hatte. Das änderte allerdings nichts an dem Umstand, dass er zu spät dran war.

      Über ihm glänzten die Dachfirste, noch feucht vom Regen der Nacht. Wolf blinzelte ins Sonnenlicht. Schien so, als würde er mal wieder auf seine Alternativroute ausweichen müssen. Er bog in eine dämmrige Seitengasse ein. Sie schien leer. Links und rechts ragten die Hauswände zwei bis drei Stockwerke in die Höhe.

      Die eingeflochtenen Silberperlen in der langen Strähne an seiner rechten Schläfe blitzten auf. Er beugte leicht die Knie, um Schwung zu holen, stieß sich vom Boden ab und landete auf dem Dachfirst. Aus seinem lockeren Zopf lösten sich einige Strähnen und wehten ihm ins Gesicht. Der Wind blies hier oben stärker. Er sah über das schimmernde Meer aus schiefergedeckten Dächern, Türmen und Fabrikhallen, hinab zum Hafen und zur Küste, wo sich die weiße, endlose Masse des Wolkenmeers erstreckte.

      Wolf summte zufrieden eine kleine Melodie und genoss für eine Weile Sonnen und Wind auf seinem Gesicht. Dann maß er mit einem Blick die Entfernung zum nächsten Dach, nahm zwei Schritte Anlauf und sprang.

      • 4 •

      Kajin!«

      »Oh, Kajin! Willkommen!«

      »Kajin! Ich habe frische Hang-Wurzeln da! Für dich mache ich einen guten Preis!«

      Lächelnd winkte Lynx den Händlern zu. »Danke, heute nicht! Ich schicke nächstes Mal eines der Mädchen vorbei!«, rief sie über den Marktlärm hinweg.

      »Was? Das ist aber schade! So ein hübsches junges Ding wie du hat doch sicher ein paar Cœurs für einen alten Mann wie mich übrig. Außerdem haben die Wurzeln wirklich hervorragende Qualität!«

      Sie schenkte ihm ein Lächeln und sah davon ab, den grauhaarigen Bauern zu berichtigen. »Danke, Gustave, aber diese Woche nicht. Wenn du allerdings Serro da hast, nehme ich gerne etwas.«

      Gustave verzog das faltige, braun gebrannte Gesicht. »Tut mir leid, Liebes, aber damit kann ich nicht dienen.«

      »Aber ich habe Serro!«, rief der Händler neben ihnen, doch Gustave tat seine Einmischung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.

      Lynx bemerkte die tiefen Sorgenfalten auf der Stirn des Mannes. Gustave wirkte erschöpft. Sie wechselte einen kurzen Blick mit Sakura, die neben ihr ungeduldig auf den Zehen wippte. Auf ihr Kopfnicken hin verschwand das Mädchen, um einige weitere Besorgungen von der Liste zu machen, solange Lynx mit dem Bauern sprach.

      »Wie geht es dir, Gustave?«

      »Gut, gut.«

      »Was macht deine Familie?«, fragte Lynx und setzte das Barkeepergesicht auf, mit dem sie selbst die schlecht gelauntesten Gäste zum Reden brachte.

      »Meiner Frau geht es gut, sie ist so resolut wie immer.«

      Lynx, die seine Gattin kannte, lächelte. »Das freut mich zu hören! Und deine Kinder?«

      Ein Schatten legte sich auf Gustaves Gesicht. »Mein ältester Sohn und mein Enkel haben sich die Wolkengrippe geholt.« Er spuckte aus. »Dieser verdammte Regen!«

      Lynx' Blick wanderte unwillkürlich zum strahlend blauen Himmel. Er war eine Ausnahme. In Autonne Gale und auf den umliegenden Inseln hatte es seit Wochen beinahe ununterbrochen geregnet, und zwar so viel, dass es bereits schwierig wurde, auf dem Markt die Vorräte für den White Dragon zu besorgen.

      »Ich hatte schon fast vergessen, wie blauer Himmel aussieht«, sagte sie zu Gustave.

      Dieser nickte. »Daran sind die Alchemisten schuld, darauf wette ich meinen Nurek-Karren!«

      Der Händler vom Nachbarstand mischte sich wieder ein. »Verbreitest du schon wieder deine Verschwörungstheorien, alter Mann? Hast du nichts Besseres zu tun, als junge Frauen damit zu belästigen?« Er verzog den Mund zu einem abfälligen Lächeln. »Wie wäre es, wenn du stattdessen versuchen würdest, deine Waren loszuwerden?« Er hielt inne. »Ach, nein, ich hatte vergessen: Du kannst ja nicht einmal die einfachsten Wünsche deiner Kunden erfüllen!«

      Lynx schaute den Mann an. »Wenigstens ist Gustaves Verhalten tadellos. Und glücklicherweise gibt es noch andere Stände, an denen ich Serro kaufen kann.«

      Der Händler wurde blass. ›Kajin‹, wie man sie hier nannte, war bei den Händlern von Autonne Gale wohlbekannt. Es sich mit der Besitzerin des wohl berühmtesten Wirtshauses der Stadt zu verscherzen, ging niemals gut aus. Lynx ignorierte den Mann geflissentlich und wandte sich wieder Gustave zu.

      »Nimm es Benoit nicht übel, Kajin«, bat Gustave leise. »Er meint es nicht so. Er hat bei der Standvergabe für das nächste Jahr ein schlechtes Los gezogen.«

      Lynx schnaubte. »Das hätte er sich vorher überlegen sollen«, entgegnete sie, dann wurde ihr Gesichtsausdruck milder. »Ich habe ein bewährtes Hausmittel gegen die Wolkengrippe. Ich werde eines der Mädchen nachher damit vorbeischicken.«

      Gustave schüttelte den Kopf. »Das kann ich unmöglich annehmen, Kajin.«

      »Oh, ich überlasse es dir nicht umsonst! Wenn es wirkt, erwarte ich, dass du mir für den Rest des Jahres einen guten Preis für deine Hang-Wurzeln machst.«

      »In Ordnung.« Gustave sah sie unsicher an und sie lächelte beruhigend. »Nur Hang-Wurzeln, mehr nicht. Du schuldest mir keinen Gefallen.«

      Erleichterung huschte über die Züge des alten Mannes.

      »Bis bald, Gustave! Lass mich wissen, ob das Mittel gewirkt hat.« Damit drehte sie sich um und setzte ihren Weg durch das bunte Gewimmel des Marktes fort.

      Jetzt im Frühherbst herrschte im Marktviertel von Gale lebhafte Betriebsamkeit. Händler aus allen Teilen des Herbstreiches waren zusammengekommen, um ihre Waren feilzubieten. Es wurde angepriesen, gefeilscht und geplaudert, und wie immer blieben die Leute stehen, um Lynx Platz zu machen. Der Preis für die Popularität des White Dragon war ihre Anonymität, und Lynx war bereit, ihn zu zahlen. Solange niemand ihren wahren Namen kannte, war sie sicher.

      Sie schlenderte zu der Aussichtsplattform hinüber, die über die Dächer der hangabwärts liegenden Häuser gebaut worden war und den Marktplatz zur Meerseite begrenzte. Umgeben von den Gerüchen der Garküchen und Gewürzhändler


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