Skyle. Esther Bertram

Skyle - Esther Bertram


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Hawk«, sprach ihn eine dünne Stimme von der Seite an. Ein Sklavenjunge reichte ihm den weißen hochgeschlossenen Militärmantel. Hawk schlüpfte hinein und knöpfte ihn zu. Dabei strich er über die eingestickten Doppelsonnen am Kragenaufschlag, das Wappen des Sommerrats. Dann nahm er dem geduldig wartenden Jungen auch seinen weißen Langbogen ab. Er nickte ihm zum Dank zu, bevor er zu seinem Rekrutierungsoffizier aufschloss, der einige Meter den Flur hinunter auf ihn wartete. Auf dem Weg zog er seine schwarze, verspiegelte Sonnenbrille aus der Manteltasche und ließ seinen kobaltblauen Augen dahinter verschwinden.

      »Wie viele?«, fragte er und ließ sich die Rekrutenliste reichen.

      »Vierunddreißig, Sir.«

      Hawk überflog die Liste, auf der Namen, Alter und Herkunft der neuen Rekruten standen, ehe er sie zurückreichte. Er hatte das alte, fehlerbehaftete Bewertungssystem abgeschafft. Stattdessen wohnte er als oberster Befehlshaber der Truppen alle zwei Monate dem Auswahlverfahren in Phoenix bei. Es war eine willkommene Abwechslung.

      Sie traten hinaus ins gleißende Licht der Zwillingssonnen. Hawks Hand glitt unbewusst zu dem Rjtak-Talwar an seinem Gürtel. Manchmal ließ er sich auf einen Trainingskampf mit seinen Soldaten ein. Nach den endlosen Debatten des Rates hoffte er beinahe, dass ihn heute jemand um einen Kampf bat.

      Auf dem Trainingsplatz hinter den Baracken angekommen, sah er, dass die Rekruten bereits in Paare eingeteilt und mit Holzwaffen ausgestattet worden waren. Als er an ihnen vorbeiging, verstummten ihre Gespräche und machten respektvoller Stille Platz. Mit verschränkten Armen stellte er sich zu seinen Ausbildern unter das Sonnensegel. Ein Windstoß fuhr ihm durchs schwarze Haar und brachte den Geruch nach Wüste und Hitze mit sich und die tausend Düfte des Bazaars.

      Hawk nickte seinem Rekrutierungsoffizier zu. »Beginnt.«

      • 6 •

      Es war später Nachmittag und die Zwillingssonnen verbargen sich hinter einem milchigen Schleier, als Raven zum Headhunter-Schoner zurückkehrte. Er schwang sich über die Reling und ließ den Leinensack auf die frisch gescheuerten Planken fallen. Dann streckte er sich und gähnte.

      Dröhnende Schritte ertönten hinter ihm. Ohne sich umzudrehen wusste Raven, dass Kingston stinksauer war.

      »Raven, du verfluchter Dreckskerl! Wo bist du gewesen?«

      Raven grinste den Kapitän des Schoners an, der sich vor ihm aufgebaut hatte. »Jagen.«

      Kingstons buschige Augenbrauen waren zornig zusammengezogen. »Ich habe gesagt, bei Sonnenaufgang laufen wir aus!«, blaffte er. »Bis dahin hat jeder zurück an Bord zu sein!«

      »Gleiches Recht für alle Besatzungsmitglieder«, mischte sich Needles, seine Vize, ein.

      »Jetzt hängen wir in diesem verdammten Hafen fest, bis die Westwinde wieder einsetzen!«, polterte Kingston.

      Beiläufig zog Raven eine Zigarette aus seiner Tasche. Er schnippte und ein tanzendes Flämmchen aus Dämonenfeuer erschien auf seiner Fingerspitze, mit dem er seine Zigarette entzündete. Er stieß mit der Stiefelspitze gegen den Leinensack. »Such dir zwei Köpfe aus«, sagte er.

      Inzwischen waren einige Besatzungsmitglieder nähergekommen, die Raven mit finsteren Blicken bedachten. Raven ignorierte sie, seine Zigarette zwischen den Lippen, während er eine weitere drehte. Needles bückte sich und entknotete den Strick, mit dem Raven den Sack verschlossen hatte. Sie blickte hinein und verzog das Gesicht, zu gleichen Teilen angewidert und anerkennend.

      Kingston trat neben sie. Er zog den Sack ein Stück weiter auf, ohne die feuchten Blutflecken auf dem durchnässten Material zu berühren.

      Nach einem Blick hinein sah er Raven überrascht an. »Die waren gestern unter den Neubetitelten. Wo hast du die gefunden?«

      »Weiter östlich«, antwortete Raven vage und reichte Kingston die frisch gedrehte Zigarette.

      Der Kapitän nahm sie mit einem Grunzen entgegen. »Das ändert nichts daran, dass wir deinetwegen mehrere Tage hier festsitzen! Es gibt auf diesem Schiff Regeln, an die du dich genauso zu halten hast wie alle anderen!«

      Raven sah Kingston mit finsterer Miene an. »Dann nimm von mir aus drei! Ich brauche eh dein Siegel für zwei der anderen.« Er konnte förmlich sehen, wie Kingston die Summe der Kopfgelder überschlug und die Anteile durchrechnete. Raven ließ das Dämonenfeuer auf seiner Fingerspitze aufflammen und hielt es Kingston hin. Mit einem abfälligen Schnauben entzündete Kingston seine Zigarette daran.

      Schließlich nickte der Kapitän. »Das war das letzte Mal, Raven«, knurrte er, bevor er zur Gangway davonging.

      »Ja, ja!«, entgegnete Raven und verschnürte mit schnellen Handgriffen den blutdurchtränkten Sack. Er machte sich nicht die Mühe, seine Selbstzufriedenheit zu verbergen, als er ihn sich über die Schulter warf und Kingston vom Schiff zum Marinestützpunkt folgte.

      • 7 •

      Mit dem Handrücken wischte sich Wolf den Schweiß von der Stirn. Er blickte am Schiffsrumpf nach oben.

      »Versucht noch mal, es zu drehen!«, rief er hinauf.

      »In Ordnung!«, kam prompt die Antwort, und nach wenigen Augenblicken bewegte sich neben ihm das schmale Rudersegel.

      Wolf setzte sich zufrieden auf die Fersen zurück. Neben ihm klopften sich zwei der Arbeiter, die ihm in den letzten Stunden zur Hand gegangen waren, gegenseitig auf die Schultern.

      Vom Deck des Schiffes tönte Applaus zu ihnen herunter. »Varg, du hast es geschafft! Du bist der Größte!«

      Wolf lächelte verlegen ob des Kompliments. »Na, noch wissen wir nicht, ob es auch in den Luftströmungen funktioniert.«

      »Natürlich funktioniert es! Deine Konstruktionen funktionieren immer!« Neben ihm hatte sich gerade Jacques, einer der Vorarbeiter, abgeseilt. »Wirklich, Varg! Du bist ein Genie, was Schiffsbau angeht. Ich verstehe nicht, warum du die Beförderungen, die dir der Chef anbietet, immer ablehnst. Du könntest inzwischen längst in Humming Waters deine eigene Werft leiten!«

      Wolf winkte ab. »Ich habe dir doch schon erklärt, warum ich nicht will. Ich bin glücklich mit dieser Stelle, ich will nirgendwo anders arbeiten.« Wäre es nur nach seinem Verdienst gegangen, hätte Wolf die nächsten Jahrzehnte nicht mehr arbeiten müssen. »Mir gefällt es viel besser, selbst Schiffe zu bauen, als nur die Pläne dafür zu entwerfen.« Er rümpfte die Nase. »Zu viel Papierkram.«

      Jacques schüttelte den Kopf. »Ich werde aus dir nicht schlau, Varg«, stellte er fest und fuhr sich mit der Hand durch den braunen Vollbart. »Aber wie auch immer: gute Arbeit! Dieses Ruder hat uns wirklich Kopfzerbrechen bereitet.« Er lachte dröhnend und verschwand mit einem Winken im angrenzenden Trockendock.

      Wolf blickte ihm nach. Wie gut, dass niemand von den Handwerkern auf der Werft wusste, was die wahren Beweggründe für Wolfs konsequente Ablehnung der Führungspositionen waren, die ihm immer häufiger angeboten wurden.

      Ferry, ein begabter Geselle mit dunkelblondem Haar, kam auf Wolf zu. Wolf mochte den Burschen, der stets zuverlässig und gewissenhaft seine Arbeit erledigte und ihm häufig eine Thermoskanne mit Kaffee mitbrachte. Wolf versuchte im Gegenzug, dem jungen Handwerker so viel wie möglich beizubringen. Er erkannte echtes Talent, wenn er welches sah.

      Ferry grinste von einem Ohr zum anderen. »Mann, Varg, das war einfach unglaublich. Eine Meisterleistung! Weißt du, was ich glaube?«, fragte er. »Ich glaube, die Zeit ist reif, dass wir mal zusammen feiern gehen. Immerhin arbeiten wir schon seit gut zwei Jahren gemeinsam auf der Werft.«

      Wolf rieb sich über den Nasenrücken. »Ich weiß nicht so recht …«

      Zwei weitere Schiffsbauer hatten sich zu ihnen gesellt. »Komm schon, hab dich nicht so!«

      Ferry sah Wolf fragend an. »Was meinst du? Heute Abend im White Dragon?«

      Wolf runzelte die Stirn. »Der White Dragon an der oberen Hauptstraße? Da war ich noch nie.«

      Die


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