Skyle. Esther Bertram

Skyle - Esther Bertram


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Zwillingssonnen kreuzten gut ein Dutzend Luftschiffe auf dem Wolkenmeer vor der Stadt. Einige von ihnen trugen das Zeichen des Herbstkönigs auf ihren Segeln, andere die Wappen der großen Handelshäuser, und eines hatte die hellgrünen Segel eines Marineschiffes aus dem Frühlingsreich. Die kleineren, wendigeren Gleiter schossen auf den Luftströmungen über der Stadt hin und her und segelten weiter ins Landesinnere. Eine Handvoll Katamarane nutzte die günstigen Winde, um mit geblähten Segeln die Stadt rasch hinter sich zu lassen.

      Sie verlor sich für eine Weile im Anblick des Wolkenmeeres und der Schiffe. Erst Sakura holte sie wieder in die Gegenwart zurück.

      »Kajin! Ich habe alles besorgt, was auf der Liste stand!« Sie strahlte Lynx an, Grübchen auf den Wangen.

      Lynx nickte. »Vielen Dank. Dann fehlen jetzt nur noch die Gewürze, und dann können wir zum Dragon zurück.«

      Sakura nickte begeistert. »Darf ich mitkommen?«

      »In Ordnung. Wie wäre es, wenn du die Auswahl und das Feilschen übernimmst?«

      »Klar, überlass das mir!« Lynx senkte zustimmend den Kopf und folgte Sakura zwischen den Ständen der Gewürzhändler hindurch.

      Es dauerte nicht lange, bis Sakura einen Stand gefunden hatte, an dem sie einkaufen wollte. Es war nicht ihr üblicher Händler, aber Lynx bemerkte zu ihrer Zufriedenheit, dass Sakura die Gewürze nach ihrer hohen Qualität und nicht nach dem niedrigen Preis ausgewählt hatte. Preise konnten verhandelt werden, Qualität nicht. Sakura hatte bereits viel gelernt.

      Lynx überließ ihrem jungen Schützling das Feilschen und hielt sich im Hintergrund. Der Blick des Händlers wanderte immer wieder zu ihr, als würde sie ihn magnetisch anziehen. Lynx schwieg und ließ ihr Lächeln und den Blick aus ihren bernsteinfarbenen Augen wirken. Schließlich wurde der Händler nervös und ließ sich von Sakura zu einem Preis überreden, der weit unter dem Wert seiner Ware lag. Nachdem er eingewilligt hatte, konnte Sakura ihren Stolz nicht länger verbergen.

      Lynx trat vor, um die Säckchen mit den Gewürzen zu bezahlen. Der Mann schluckte vernehmlich. »Es ist mir eine Ehre, mit Ihnen Geschäfte zu machen!«, rang er sich schließlich ab.

      Lynx' Lächeln wurde breiter. »Gleichfalls!«, gab sie zurück. Sie zahlte, verneigte sich und dankte dem Verkäufer für das Angebot, seinen Laufburschen mit der Ware zum White Dragon zu schicken. Mit einer zufriedenen Sakura an ihrer Seite machte sich Lynx auf den Heimweg.

      »Dir kann keiner widerstehen, oder, Kajin?«, fragte Sakura fröhlich.

      Lynx wiegte den Kopf. »Nicht viele«, stimmte sie zu.

      Sakura kicherte und hüpfte zwei Schritte voraus, ihre vollen Einkaufstaschen schlenkernd. Eines Tages würde sie eine ebenso gute Barkeeperin wie Mitsu sein. Lynx freute sich darüber, wie sehr sich die Sakura von heute von dem Mädchen von vor zwei Jahren unterschied. Damals hatte sie Sakura vollkommen ausgehungert und vor Dreck starrend dabei erwischt, wie sie ihr die Börse stehlen wollte. Sie hatte das Mädchen dazu überredet, mit ihr zu kommen und im White Dragon für sie zu arbeiten.

      Als sie das dreistöckige Gebäude aus hellem Stein erreichten, erwartete Mitsu sie bereits. Auch sie hatte sich in den vier Jahren, in denen sie im White Dragon arbeitete, sehr verändert. Sie war nicht länger eine der gefallenen Schwestern aus den Vergnügungsvierteln von Gale, sondern eine selbstbewusste junge Frau, die stolz die Uniform des Dragons trug.

      Lynx begrüßte sie, woraufhin Mitsu sich vor ihr verbeugte.

      »Willkommen zurück, Kajin«, sagte sie und nahm Lynx die Taschen mit den Einkäufen ab. Dann verschwand sie, gefolgt von Sakura, durch die Tür des Wirtshauses.

      Lynx sah den beiden nach. Kajin … Diesen Namen hatte ihr vor langer Zeit ein Fremder gegeben. Er war ein Reisender aus dem Norden gewesen, der sich zum Ziel gemacht hatte, jeder der Himmelsinseln in allen vier Reichen einen Besuch abzustatten. Seither war es bei diesem Namen geblieben. Kajin. Es war besser, wenn die Leute nicht allzu viel über sie wussten.

      Sie wandte sich um und betrachtete die Straße vor dem White Dragon. Das Gewimmel aus Handkarren, schweren Nurek-Wagen, Menschen und Moosvolk war kaum zu überschauen. Ihr Wirtshaus lag im Herzen der Stadt, an einer belebten Straße zwischen dem Tiegel und dem hügelwärts gelegenen Villenviertel. Hier sah man die Anzeichen des Elends nur, wenn man genau hinschaute: die beiden Bettlerkinder, die sich im Schatten einer Gasse herumdrückten. Die junge Frau mit dem schmalen, ängstlichen Gesicht, die ihre dünne Börse mit beiden Händen umklammerte, als sie vorbeieilte. Die Patrouille der Herbstsoldaten in ihren braunen Uniformen, die in einiger Entfernung vorübermarschierte. Der abblätternde Putz an der Häuserfront gegenüber. Das bis zur Unleserlichkeit verwitterte Schild über der Ladentür des Buchhändlers nebenan. Schleichend hatte sich der Verfall in der Stadt ausgebreitet. Lynx wusste, dass er auf lange Sicht nicht mehr aufzuhalten war.

      Mit einem Seufzen drehte sie sich um und betrat den White Dragon. Sie wünschte sich, sie könnte mehr tun.

      Leise fiel die Eingangstür hinter ihr ins Schloss.

      • 5 •

      Mit ausdrucksloser Miene saß Hawk auf einem der Sitzpolster im Senatssaal und lauschte den Debatten. Sein Blick glitt durch die Arkadenbögen nach draußen, über das Häusermeer von Estate Phoenix. Die dunklen Augen der Fensteröffnungen spähten im Sonnenlicht misstrauisch aus den weiß getünchten Wänden unter den hellen Lehmdächern. Alle Gebäude waren zwei Stockwerke hoch, lediglich der grauweiße Feuerturm durchbrach das gleichförmige Bild. Hinter den letzten Gebäuden begann das schmutzige Gelbbraun der Staubwüste, die sich bis zum Horizont erstreckte, wo sie mit dem flirrend hellen Himmel verschmolz.

      Hawk ließ seine Augen kurz in der Ferne ruhen, dann unterdrückte er ein Seufzen und lenkte seine Aufmerksamkeit in den Senatssaal zurück. Seit Stunden diskutierte der Sommerrat über Nichtigkeiten. Kaum zu glauben, in wie viele Worte so wenig Inhalt gekleidet werden konnte. Die zwölf Senatsmitglieder, allesamt Frauen, saßen auf dicken Sitzpolstern im Kreis um einen niedrigen Tisch, umgeben von der üppigen Pracht des Palastes. Hawk hatte es vor langer Zeit aufgegeben, an die Verschwendung innerhalb der Palastmauern, ja, in ganz Estate Phoenix einen Gedanken zu vergeuden. Er sorgte dafür, dass das Militärbudget nicht zu stark gekürzt wurde und an den richtigen Stellen ankam. Alles andere kümmerte ihn wenig.

      Senatorin Siham, eine strenge, verbitterte Frau, war seit einigen Jahren im Rat für das Militär verantwortlich. Sie scherte sich nicht um Finanzen, ein Umstand, der Hawk in der Vergangenheit bereits einige Male zugutegekommen war. So konnte er die Gelder verteilen, wie es am besten in seine Pläne passte. Deshalb legte er keinen Wert darauf, dies an die große Glocke zu hängen. Es war am sichersten, wenn die Senatorinnen weiterhin den Eindruck hatten, dass sie in allen Bereichen die ungeteilte Macht besaßen. Selbstzufrieden und abgeschirmt saßen sie in ihrem Palast und spannen fruchtlose Intrigen gegen die Frühlingskönigin. Solange ihre größte Sorge war, der Herrscherin gleichzeitig den Hof zu machen, um sie nicht zu verärgern, hatte Hawk alle Freiheiten, die er brauchte.

      Das Läuten der Stundenglocke erlöste ihn von seiner Langeweile.

      Er beugte sich zu Siham hinüber. »Senatorin«, sagte er leise.

      Siham nickte unwirsch. »Geh, ich komme später nach.«

      Hawk zwang sich, keine Miene zu verziehen. Bevor Siham ihn zur Auswahl der Rekruten begleitete, würden sich die Menschen mit den Rjtak verbrüdern und ein Fest der Liebe feiern.

      »Ihr habt den Bericht bis morgen«, murmelte er, ehe er sich erhob und sich verbeugte. »Wenn Ihr mich entschuldigt, werte Senatorinnen, ich empfehle mich.«

      »Aber Hawk!« Senatorin Danas Gesicht verriet kaum verhohlenen Neid darüber, dass Hawk dem Senatssaal entfliehen konnte, und echte Verzweiflung. »Du kannst uns doch nicht an diesem entscheidenden Punkt verlassen!« Die übrigen Senatorinnen hatten die Debatte weitergeführt und seine Verabschiedung nur mit einem Kopfnicken zur Kenntnis genommen.

      Hawk verbeugte sich erneut. »Es betrübt mich zutiefst, dass ich Euch verlassen muss, Senatorin Dana, aber ich darf meine anderen


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