Skyle. Esther Bertram

Skyle - Esther Bertram


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muss man gewesen sein. Allein wegen der Aussicht.«

      »Die Aussicht?« Wolf zog die Augenbrauen in die Höhe.

      Ferry klopfte ihm kameradschatflich auf den Rücken. »Komm heute Abend einfach mit.«

      Nach Feierabend zogen sie als bunter, lärmender Haufen durch die Straßen von Autonne Gale zum White Dragon. Wolf fühlte sich ein wenig unbehaglich. Er hatte nichts gegen die Schiffsbauer, aber normalerweise vermied er es, außerhalb der Werft Zeit ihnen zu verbringen. Heute Abend konnte er sich allerdings nicht einfach davonstehlen, deswegen beschloss er, das Beste daraus zu machen. Als sie den White Dragon erreichten, war seine Laune genauso ausgelassen wie die seiner Kollegen.

      Ferry hatte von einem Freund einen Tisch reservieren lassen, was angesichts der vielen Gäste, die sich auf den beiden Etagen des Wirtshauses tummelten, ein weiser Entschluss gewesen war. Doch obwohl der Lärmpegel hoch war, gab es scheinbar keinen Streit, keine Handgemenge. Stimmen erfüllten die Luft, zusammen mit dem Geruch nach würzigem Bier und gebratenem Yurainfleisch. Wolf lief das Wasser im Munde zusammen.

      »Du siehst ziemlich hungrig aus«, sagte Ferry mitleidig und sprach eine der vorbeieilenden Kellnerinnen an. »Hey, Sakura! Unser Varg ist zum ersten Mal da. Meinst du, du kannst ihm einen eurer Spezialteller organisieren?«

      Sakura musterte Wolf von den staubigen Stiefeln und der ölverschmierten Arbeitskleidung bis zum langen Haar und der Strähne mit den eingeflochtenen Silberperlen.

      »Natürlich! Ich sage sofort Mitsu Bescheid! Sonst bei euch das Übliche?«

      Die Schiffsbauer nickten einhellig.

      »In Ordnung.« Sie eilte davon.

      Ferry rief ihr nach: »Grüß Mitsu von mir, ja?« Die Schiffsbauer am Tisch brachen in Gelächter aus.

      »Werde ich!«, rief Sakura Ferry über den Lärm hinweg zu.

      Dieser drehte sich mit zufriedener Miene wieder zu Wolf um. »Mitsu ist eine der Barkeeperinnen«, erklärte er. »Eine süße«, fügte er nach einer Pause hinzu.

      Eine der wenigen Frauen in der Truppe, ein Moosweiblein, gab Wolf einen Rippenstoß. »Ferry hat schon seit einer halben Ewigkeit ein Auge auf sie geworfen, aber er hat sich bisher nicht getraut, sie zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen will!«

      Ferry sah die Sprecherin halb verärgert, halb belustigt an. »Ach, halt doch den Mund.«

      Wolf musterte seine flachsenden Kollegen aufmerksam. Es schien ein üblicher Schlagabtausch zu sein. Dann spähte Ferry zur Bar hinüber. »Ich werde dir jetzt die Aussicht zeigen, von der wir sprachen.«

      Wolf zögerte, als sein Magen laut knurrend protestierte. »Aber unser Essen …«

      Ferry winkte ab. »Bei dem Betrieb heute Abend dauert das sowieso noch. Komm mit!«

      Er stand auf. Wolf folgte ihm, verwundert darüber, dass Ferry zielstrebig auf die Rückwand des Schankraums zuhielt. An dem langen, halbhohen Tresen blieb Ferry stehen und stützte sich betont lässig mit einem Arm darauf. »Guten Abend, Kajin«, sprach er die Barkeeperin an. »Wie geht es Mitsu?«

      Die junge Frau mit dem moosgrünen Haar drehte sich zu Ferry um. Jetzt verstand Wolf auch, was die Jungs mit ›Aussicht‹ gemeint hatten: Sie war eine echte Schönheit. Genau wie die Kellnerinnen, die überall im Wirtshaus die Gäste bedienten, war sie in ein schwarzes Kleid und eine weiße Schürze gekleidet, aber sie trug ihr moosgrünes Haar offen. Es schimmerte sanft in dem gedämpften Licht, das im Raum herrschte.

      Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten Ferry an. »Ganz gut, schätze ich mal. Aber warum gehst du nicht zu ihr und fragst sie selbst?«

      Ferry wirkte zufrieden. Wolf wurde klar, dass er nur auf diese Worte gewartet hatte.

      »Bis nachher!«, raunte er Wolf zu und schlüpfte durch eine Tür neben dem Tresen. Wolf blickte ihm kopfschüttelnd nach.

      »Du bist zum ersten Mal hier, nicht wahr?«, fragte Kajin.

      »Das ist richtig. Ich hatte bereits vom White Dragon gehört, aber bisher hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, herzukommen.«

      »Dann ist es gut, dass sie sich jetzt ergeben hat.«

      Wolf gab keine Antwort. Er beobachtete sie eine Weile dabei, wie sie die Gäste bediente. Die meisten von ihnen begrüßte sie mit Namen. Wolf fielen auch die Blicke auf, mit denen die anwesenden Männer sie betrachteten. Fast wie Nachtfalter, die das Licht magisch anzog. Doch es gab nicht einen unter ihnen, der sie ohne den gebührenden Respekt ansprach. Wolf begriff schnell, dass Kajin das Herz dieses Wirtshauses war. Sein Mittelpunkt. Seine Seele.

      Gegen seinen Willen war Wolf fasziniert. »Grünes Haar und bernsteinfarbene Augen – das ist eine ungewöhnliche Mischung«, stellte er fest. Kajin war mehr, als sie auf den ersten Blick zu sein schien. Ob er sie aus der Reserve locken konnte?

      »Ich bin ein Moosvolk-Menschen-Mischling.«

      Wolf nickte mit höflicher Mine. »Ein Moosvolk-Menschen-Mischling, so, so. Dann verrate mir mal … Kajin … Was macht den White Dragon so besonders?«

      Sie lachte perlend und hell. »Ich weiß es nicht. Die Leute kommen gerne her. Ihnen gefällt es hier. Aber warum, das weiß ich nicht.«

      Wolf beugte sich diskret vor und Kajin tat es ihm auf der anderen Seite des Tresens gleich. Er sah ihr in die bernsteinfarbenen Augen, die zusammen mit seinen aufglühten.

      »Kajin, das bedeutet ›schöne Frau‹ in der Alten Sprache, nicht wahr?«, fragte er so leise, dass nur sie ihn verstehen konnte.

      Sie sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. »Wenn du es sagst …«

      Wolf lächelte. »Ich glaube, du weißt sehr wohl, warum die Leute hierher kommen. Es liegt daran, dass der White Dragon die Aura eines echten Drachen hat. Eines lebendigen Drachen.«

      »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte sie ungerührt und richtete sich auf.

      Für ein paar Minuten nahmen die Gäste am Tresen ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

      »Wie heißt du?«, fragte sie Wolf plötzlich.

      »Hier nennt man mich Varg.«

      Die Barkeeperin musterte ihn. »Varg … Dann kommst du aus dem Norden, nicht wahr?« Sie verstummte unter seinem belustigten Blick. Dann lachte sie. »Ich gebe zu, dass ich mehr weiß, als ich dir habe weismachen wollen. Aber ich habe selten Gäste wie dich in meinem Wirtshaus.«

      »Das liegt vielleicht daran, dass es in Skyle nicht mehr viele Gäste wie mich gibt.«

      »Da hast du recht.« Sie wandte sich amüsiert ab. Wolf war klar, dass es an diesem Abend kein weiteres Gespräch mehr mit Kajin geben würde. Langsam ging Wolf zurück zu seinen Kollegen. Ihre Späße und Geschichten vertrieben die geheimnisvolle Schönheit für den Rest des Abends aus seinen Gedanken.

      Erst als er früh am nächsten Morgen die schmale Holztreppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, dachte er wieder an sie. Kajin war eine von ihnen. Eine wie er. Sie hatte die ganze Zeit hier in Autonne Gale gelebt, und er hatte nichts von ihr gewusst. Er lächelte. Es war ein interessanter Abend gewesen.

      • 8 •

      Hawk unterdrückte ein Gähnen. Der heiße Wüstenwind, der durch die Arkadengänge in den Senatssaal wehte, verschaffte nur wenig Abkühlung von der einsetzenden Mittagshitze. Er trug die Geräusche und Gerüche der umliegenden Stadt herein. Doch egal, wie sehr Hawk sich danach sehnte, mit einem Glas Tee im Schatten der Sonnensegel auf dem Bazaar zu sitzen, er wusste um seine Pflichten als Ratgeber und zwang seine Aufmerksamkeit zur aktuellen Debatte zurück. Immerhin war der Tee akzeptabel.

      Hawk trank einen Schluck und lauschte Senatorin Dana, die über Engpässe in der Wasserversorgung im Osten des Kontinents berichtete. Hawk speicherte die Namen, Orte und Fakten, die sie nannte, in seinem Gedächtnis ab. Möglicherweise würden sie ihm noch nützlich werden. Schließlich einigten sich die Senatorinnen


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