Schauderwelsch. Jochen Stüsser-Simpson

Schauderwelsch - Jochen Stüsser-Simpson


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und schrumpelige Haut und blickte auf ihre weißen dünnen Haare. So konnte das nichts werden! Hier musste die Fantasie über die schlechte Wirklichkeit siegen. Er konzentrierte sich auf die Erinnerung, und stellte sich den Augenblick vor, als sie zu ihm auf das Motorrad gestiegen war, wie hatte sie da ausgesehen? Zugleich küsste er die alte Frau auf die Stirn und bemerkte etwas wie eine Bewegung in ihrer Hand. Er sah genauer hin: Die Hand schien größer zu werden, fülliger, die Haut straffte sich und hellte auf, dunkle Flecken verschwanden und die herausgetretenen Adern waren nicht mehr zu sehen, die ganze alte Frau vollzog in Windeseile eine Verwandlung, sie wurde jünger und jünger, ihr Oberkörper richtete sich auf, sie wuchs, ihre weißen Haare erblondeten, John blickte auf spektakuläre Beine. Als sie ihn anlächelte, hätte er um ein Haar erneut das Bewusstsein verloren. So schön war sie.

      Sie lachte und forderte ihn auf, zu warten, sie wolle ihren Rucksack ablegen. Ihre Augen hinter der spiegelnden Sonnenbrille stellte er sich bernsteinfarben vor. Bald würde er ihr ganzes Gesicht zu sehen bekommen, und zwar unverdeckt.

      Sie war zwischen dichten Feuerdorn- und Sanddornsträuchern verschwunden. Ihn wunderte, dass nirgends ein Haus zu sehen war, denn er befand sich in einem wunderschönen, aber zugleich fremdartigen Garten. Auf der Rasenfläche vor sich sah er eine Sonnenuhr, davor lud eine Buchsbaumbank täuschend zum Sitzen ein. Von dem untersten Ast eines Walnussbaumes hingen gebundene Sträuße von Kräutern zum Trocknen an der Luft. Er setzte sich vor ein Beet, das mit Lavendel eingefasst war, der leicht duftete. Als guter Koch erkannte er in dem Beet sogleich Oregano, Salbei und Bohnenkraut. Nach einigen Augenblicken wurde das frische Zitronenaroma in seiner Nase durch einen bekannten, würzigen Geruch unterlegt – dies musste eine besonderer Thymian sein. In der linken Hälfte des Beetes sah er purpurrote und die übliche Pfefferminze, als er sich leicht vorneigte, spürte er den typischen Pfefferminzduft. Sein Interesse war geweckt, er richtete sich wieder auf, schloss die Lider und folgte seiner Nase in die überraschenden Geruchslandschaften. In den Nachbarbeeten erkannte er Koriander, Knoblauch, Fenchel, Basilikum, Estragon und Dill. Jetzt müsste er in der Küche stehen: Er würde einen unabwendbaren Liebesbeweis komponieren. Sie würde ja bald wiederkommen.

      Wenn sie hier lebte, musste es eine Unterkunft geben, und keine Wohnung ohne Küche! Ihn irritierte, dass in einem anderen Beet Bärlauch und Maiglöckchen durcheinander standen, wie in der Giftecke eines botanischen Gartens. Doch da legte sich schon ihre zarte Hand auf seine Schulter, sie lächelte – noch immer mit Sonnenbrille: „Und jetzt meine Schwester!“ Zuerst war ihm unklar, was sie wollte, er fragte nach, ob Melusine nicht einen eigenen Liebhaber bräuchte. „Fanferlüsch ist nicht nur launenhaft, sie ist auch ungenau und schlampig. Ob wir zwei junge Männer benötigen oder ob einer reicht, ist unklar. Wir sollten es auf jeden Fall versuchen, wenn du dir das liebesmäßig zutraust.“

      John holte tief Luft und ging in sich, um langsam, aber voller Überzeugung zu sagen: „Ich glaube, ich kann euch beide lieben, ich bin sehr liebesstark.“

      Nadja streichelte über seine Wange, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief: „Wahre Liebe ist grenzenlos und nicht beschränkt auf eine Person.“ Sie gingen zu dem Holzverschlag und sahen durch einen Spalt Melusine in grauen Kleidern in einem Sessel sitzen, wie in einer Puppenstube. Als sie sich beobachtet fühlte, grüßte sie, erhob sich und kam zu dem Spalt zwischen den Brettern. Sie erschien genau so uralt wie ihre Schwester noch vor wenigen Augenblicken. Offensichtlich war sie über die Ereignisse im Bilde und hatte bereits ihre erlöste Schwester gesehen. Sie sprach direkt John an: „Du kannst mir einen Finger durch den Spalt stecken, damit ich ihn berühre.“

      Übermütig antwortete dieser: „Das ist ja wie bei Hänsel und Gretel – und dabei spielen wir doch in einem Feen-Märchen.“

      „Feen haben nichts gegen Volksmärchen“, wandte Nadja ein, „sie finden sie nur nicht immer lustig. Und gegen die schlechten sind sie gefeit. Doch wir sollten Melusine aus ihrer Kiste holen, dann wird alles einfacher werden.“ Sie öffnete eine Klappe und holte ihre winzige Schwester aus dem Verschlag.

      John überlegte sich, wie er es am besten anstellen sollte; er musste nur auf die faszinierende Nadja sehen und sich einen ähnlichen Wandlungsprozess für Melusine vorstellen, vielleicht reichte das. Er wurde durch Nadja in seinen Gedanken unterbrochen: „Bei Melusine solltest du dir besondere Mühe geben, denn sie muss nicht nur verjüngt, sondern auch entzwergt werden. Die Sache steht also etwas komplizierter als bei mir.“

      Er kniff die Augen zusammen und versuchte eine starke Vorstellung von Liebe herzustellen. Vom See her spürte er einen kalten Windhauch, das Schilf und der See verschwammen, als wären sie eingenebelt. Der Garten um ihn herum schien sich zu dehnen. Auf Melusine blickend stellte er fest, dass sie sich mit hoher Geschwindigkeit verjüngte und verschönerte – und immer größer wurde. Gleichzeitig schien sich indes mit seinem Körper auch etwas zu verändern. Er blickte Nadja an, um genau zu sein, er sah an ihr hoch, an ihren Beinen, die jetzt ins Unermessliche verlängert schienen. Mit der Verjüngung hatte es geklappt, nicht aber mit der Entzwergung.

      „Leider ist das in Teilen danebengegangen“, hörte er Nadja von weit oben, „wir versuchen es noch einmal, indem wir uns an den Händen halten. “ Sie ging in die Knie und sie hielten sich zu dritt ihre Hände. Dem sprachlosen John fiel auch nichts Besseres ein, er schloss die Augen und versuchte kraft seines Willens erneut einen Liebesstrahl herzustellen. Er dachte an die tausendschöne große Nadja und an die wunderschöne kleine Melusine. Es wurde ihm schwarz vor Augen, um sie herum schien die Erde zu beben, als er die Augen öffnete, schaukelte der See und die Bäume wurden riesig groß. Nadja und Melusine standen vor ihm, gleich groß, ein entzückendes Paar, zum Verwechseln ähnlich. Ebenso gut hätte sich Nadja einfach verdoppeln können. Er wusste auf Anhieb nicht, wer nun Nadja und wer Melusine war, und musste sich erinnern, wo noch vor wenigen Augenblicken jede gestanden hatte. Dann irritierte ihn im Augenwinkel der Baum zu seiner Linken. Beim genauen Hinschauen war es gar kein Baum, vielmehr ein riesiger Lavendel-Stängel. Der Schreck fuhr ihm in alle Glieder. Sie waren zwar gleich groß, aber alle verzwergt.

      Nadja – oder war es Melusine? – hatte es auch bemerkt: „So ein Pech, es hat wieder nicht geklappt.“ Dann sah sie ihm aufmerksam ins Gesicht: „Wie siehst du denn aus?“

      Wenn sich seine Gefühle in seinem Gesicht spiegelten, musste sie das blanke Entsetzen wahrnehmen. Sie näherte langsam ihre roten Lippen seinem Gesicht und gab ihm einen Kuss. Einen Kuss. Der ging ihm so durch und durch, dass Lavendel und Garten und Schilf und See und Himmel verschwanden und alles wurde leicht.

      In diese Leichtigkeit hinein hörte er die Stimme von Melusine oder Nadja: „Uns ist wahrscheinlich ein Fehler unterlaufen. Wir müssen uns nicht nur an den Händen halten, sondern sollten uns zugleich mit den Knien berühren.“ Und schon fühlte er sich bei beiden Händen gefasst und in die Hocke gezogen. Als er die Knie der beiden Feen berührte, ging es durch ihn wie ein elektrischer Schlag. Ja, er konnte, er schaffte es. Er liebte beide zugleich, und der Gedanke war kaum gedacht, als er ein schmatzendes Geräusch und dann ein Krachen vernahm, der Garten verfinsterte sich und er hatte das Gefühl, auf Pudding zu stehen. Als dann die Welt zurückkehrte, merkte er sogleich an dem Lavendel, dass alles war, wie es gehörte. Die Formate stimmten und Nadja und Melusine stimmten in ein glockenhelles Gelächter ein.

      Melusine nahm seine Hand und führte ihn durch den Garten hindurch zum Ufer des Sees, vorbei an Schafgarbe und Aloe Vera, an Lupinen und großen Fingerhüten, an Rittersporn und Eisenhut. In fleischigem Blattwerk, das er nicht kannte, torkelten Insekten und platzten volle Knospen. Sie setzten sich am Ufer nieder, sahen auf Wasserschierling und Seerosen, er war benommen von einem berauschenden fremden Duft.

      „Lass uns schwimmen“, sagte Melusine – oder war es doch Nadja – und begann langsam sich zu entkleiden. Er wollte gerade sein Hemd ausziehen, als er hinter sich eine Bewegung spürte: Vor dem Rosenbusch stand Nadja und winkte ihm lächelnd zu. John wollte aufstehen und zu ihr gehen, konnte sich aber nicht dazu aufraffen, als er im Wasser Melusines oder Nadjas Spiegelbild sah. Sie war nackt, lächelte und sprang – oder besser: Sie warf ihren Körper ins Wasser. Fast ohne Spritzer tauchte sie in Johns Spiegelbild, das für einen Moment zerriss. Er vermochte nicht, ihr zu folgen, und er stand nicht auf. Es war, als würde er sich selbst zuschauen, wie er


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