Schauderwelsch. Jochen Stüsser-Simpson

Schauderwelsch - Jochen Stüsser-Simpson


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ja, zügig. Obwohl er die Maschine auf 200 Kilometer beschleunigte, sah er überall Carlottas blonde Locken oder die Züge seiner trennungsfreudigen Freundin in den tieffliegenden Wolken und wogenden Feldern und später noch im Nebel, der sanft aus dem Schweriner See aufstieg. Und dann stand sie irgendwo hinter Schwerin an der langen Straße, die mitten durch den See führt, neben einer großen Birke; hell gekleidet, mit rosafarbener Bluse und hellblauen Hot Pants, ihr Schal und die Sandaletten waren weiß. Fast hätte er sie übersehen, doch dann bremste er, ohne zu zögern, und hatte schon genickt, ehe sie ihre Frage überhaupt formulierte. Ein pudriger Geruch lag in der Luft, er sah ihre seidig schimmernden Beine, als sie auf den Sozius aufstieg. Ja, er könne sie nach Hause fahren zu einem See, dessen Namen er noch nie gehört hatte.

      Unter dem hochgeklappten Visier rief er über die Schulter nach hinten: „In Ordnung, Nadja, ich heiße John. Und was machst du beruflich?“

      „Fee“, rief sie mit klarer und wohlklingender Stimme zurück.

      „Natürlich“, lachte er und schrie gegen den Fahrtwind: „Ich liebe Feen!“ Dann gab er Gas und schaltete hoch. Sie presste sich mit aller Kraft an seinen Rücken und rief etwas Unverständliches. Ihre Hände spürte er auf Bauch und Rippen, zwischen den Schulterblättern ihr Gesicht oder ihre Wangen. Und als er vor der Kurvenstrecke in Richtung Güstrow herunterbremste, drückten ihre Brüste sanft auf seinen Rücken. Seine Vorstellung einer Fee war bisher durch die feingliedrig geflügelten Feen-Skulpturen des Wieland-Denkmals am Entenmarkt bestimmt, wo er einmal gearbeitet hatte. Ihr Gesicht? Hatte er eigentlich noch gar nicht richtig gesehen. Ihren Mund schon, allerdings zu kurz, um ihn beschreiben zu können, aber schon zu lang, um ihm nicht zu verfallen. Von diesen verlockenden Lippen konnte nur Gutes kommen.

      Rechts und links der Landstraße leuchteten jetzt riesige Rapsfelder gelb in der durchbrechenden Sonne, am Himmel waren Greifvögel und Störche. Er spürte, wie sich die schwarze Blase irgendwo in seinem Inneren auflöste, die Wut auf Carlotta und seine Trennungsfreundin war wie weggeblasen. Die Fee auf dem Sozius hatte so einiges bei ihm durcheinandergebracht, seine Gedanken, seine Gefühle. Obwohl er sie durch den Motorenlärm nicht verstehen konnte, dirigierte sie ihn klar und deutlich zu ihrem Ort. Über Körperberührungen, Gedankenübertragung?

      Er hatte das Gefühl, durch die Lederhose hindurch ihre Hüften zu spüren, die seltsam hager wirkten. Ihm fiel ein, dass er ihr Gesicht noch nicht wirklich gesehen hatte. Jedenfalls bogen sie in einen Feldweg ab, der durch weite Getreide- und weitere Rapsfelder führte. Der Rapsgeruch wurde zunehmend durch den des überall blühenden Holunders überlagert, er spürte die Sonne auf dem Kinn, links blitzte der See, der sich hinter Hügeln verlor. Sie fuhren gemächlich durch eine Häuseransammlung, die auf einem Ortsschild angekündigt worden war. Ihre Stimme war wieder zu verstehen, doch sie klang krächzend, der Kopfsteinweg war so uneben, dass er sogar mit seiner BMW langsamer fahren musste. Hohe und labyrinthische Hecken verstellten den Blick auf die wenigen Häuser, an einer Stelle blickte ein Bullenkopf hindurch, gegenüber auf der anderen Seite des Weges ging der Blick auf Weiden, die sich hügelabwärts zum See erstreckten. Auf ihnen standen schwere schwarze Pferde.

      Vor einem roten Backsteinhäuschen winkte hinter einer niedrigeren Ligusterhecke gleich an der Straße eine alte Frau mit einer Sichel in der Hand. Offensichtlich kannte sie seine schöne Beifahrerin, er fuhr noch langsamer und glaubte, seine Fee lachen zu hören, sehr heiser, doch das musste die alte Frau im Garten gewesen sein. Er öffnete das Visier, im Schritttempo rollten sie langsam bergab, der Motor tuckerte, vorbei an einigen kleinen Bungalows direkt am See, die wohl als Ferienhäuser dienten und augenblicklich nicht bewohnt waren. Der Weg führte über eine Rasenfläche durch einige Weidenhecken und Knicks hindurch auf einen schmalen Damm, der sich in eine dichte Schilflandschaft zu weiten schien. Wo hier das Land endete und das Wasser begann, war nicht zu erkennen. Zwei Weiden waren zu einer Pergola zusammengebunden, an ihr hing eine Girlande aus getrocknete Blumen und Kräutern. Vor einer weiteren Weide stand so etwas wie ein Kaninchenstall, eine eigenartige Holzkonstruktion. Hinter ihm lachte es krächzend. Er hielt an und blickte über die Schulter: auf eine überdimensionierte Sonnenbrille, die in einem uralten Gesicht saß. Die Stirn war verrunzelt, die Wangen eingefallen, die schmalen Lippen unter der knöchernen Nase farblos. Die Gestalt der schönen Beifahrerin war wie geschrumpft. Als wäre sie ein kleines Kind, reichte der Kopf nicht bis zu seinen Schultern. Ihn schwindelte. Mit letzter Kraft stellte er das Motorrad ab und sank daneben zu Boden. Er verlor das Bewusstsein.

      Als er aufwachte, hatte er einen aromatischen Duft in der Nase. Eine Teetasse wurde an seine Lippen gedrückt, er nahm vorsichtig einen Schluck und öffnete die Augen. Neben ihm saß die alte Frau, die noch immer ihre Augen hinter einer Sonnenbrille unter Verschluss hielt.

      „Ich verstehe deinen Schrecken“, flüsterte sie, „leider habe ich nicht genügend Kraft, um meine wahre Gestalt während des ganzen Tages aufrecht zu erhalten. Wie bei einem Handy, dessen Akku leer ist, setzt nach einigen Stunden die Wandlung zur alten Frau ein. Um neue Energien zu sammeln, brauche ich anschließend eine ganze Nacht. Ja, ich verstehe deinen fragenden Blick, doch ich bin eine echte Fee, aber auf mir liegt ein Bann. Ja, das ist eine lange Geschichte.“ Sie reichte ihm erneut die Tasse, die er austrank.

      Sein Kreislauf belebte sich, die Alte hob an: „Es ereignete sich vor langer Zeit auf einem Mondscheinfest hier am See. Nicht nur die freundlichen Feen waren geladen. Und so erschien auch Fanferlüsch. Sie hielt einen Kröterich an der Leine, den sie zur allseitigen Belustigung über ein Stöckchen springen ließ und der auf Kommando ein wenig quakte. Um sich mit einigen Elfen plantschend am Ufer zu vergnügen, ließ ihn Fanferlüsch zurück. Meine Zwillingsschwester Melusine und ich kümmerten uns um den Kröterich und wandten beim Spielen verschiedene leichtere Zauber auf ihn an. Und wie der Zufall es wollte, zeigten diese überraschend Wirkung. Das ist so ähnlich, als stießest du beim Computerspielen plötzlich auf ein Kennwort und könntest dich einloggen. Zuerst nahmen wir die Schwachstellen an seinem Kopf unter Zauber, im Weiteren bezauberten wir ein bisschen seinen Unterkörper, und siehe da, der Kröterich wandelte sich zu einem jungen Mann, der hübsch anzuschauen war, wenn er auch etwas einfältig daherredete. Wir spielten Fangen und bespritzten ihn mit Wasser. Alles war ganz harmlos wie auf einer Pyjama-Party. Melusine ließ sich von ihm gerade ihren Rücken massieren, als Fanferlüsch zurückkehrte – und überreagierte. „Warum lasst ihr nicht die Finger von meinem Frosch!“ Uns ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. „Ich will euer doppelzüngiges Gerede nicht hören“, schrie sie, „ich werde euch in einen Zustand bringen, der euer Privileg der Unsterblichkeit in sein Gegenteil verkehren wird, und dich, Melusine, werde ich mit einem besonderen Bann belegen.“ Und dann wurde es finster, schreckliche Wirbelwinde peitschten das Wasser, und als das Unwetter vorüber war, fanden wir uns als missgestaltete Greisinnen wieder. Meine Schwester war noch mehr geschrumpft als ich, auf ihr lastet der Fluch der Verzwergung. Darüber hinaus hatten wir fast alle Zauberkompetenzen verloren, sogar die einfachsten Hauszauber-Formeln funktionierten nicht mehr. Und nachdem Fanferlüsch so ausgerastet war und uns dergestalt sah, beruhigte sie sich ein wenig und sie wollte wissen, was wir mit ihrem Frosch genau gemacht hätten. Wir berichteten aufrichtig von unseren Spielen am Ufer, und da wurde sie ganz still und sagte, sie habe wohl vorschnell gehandelt und jetzt Mitleid mit uns. Es sei aber nicht mehr in ihrer Gewalt, den Bann insgesamt rückgängig zu machen, sie könne ihn nur abmildern. Und dann sprach sie wörtlich: „Sobald ihr einen jungen Mann unter dreißig Jahren gefunden habt, der euch liebt, sollt ihr zurück in eure ursprüngliche Gestalt verwandelt werden. Seitdem haben wir Fanferlüsch nicht mehr aus der Nähe gesehen. Sie hat wohl ein schlechtes Gewissen – zurecht. Mit unseren verbliebenen Kräften und Fähigkeiten vermögen wir den Bann nicht aufzuheben. Und die paar Stunden, die ich täglich meine wahre Gestalt annehmen kann, waren zu wenig, um einen wirklichen Retter zu finden.“

      Sie schwieg, und er ergriff ihre Hand. Nach einer Pause fragte er: „Weshalb denn wirklicher Retter?“ Sie hatte, hörte er dann, schon einmal einen Verehrer, einen Angler, der sie wohl aufrichtig liebte, aber ohne jedes Ergebnis. Daraufhin stellte sich heraus – sie blieb hier etwas allgemein – dass der Angler bei seinem Alter gemogelt hatte, denn er war schon 32. John griff nach ihrer Hand. Er merkte, dass er immer noch seine Bikerhandschuhe trug und zog sie aus. „Und wo ist deine Schwester?“ Er folgte ihrem Blick in Richtung des Kaninchenstalls.

      „Melusine


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