Schauderwelsch. Jochen Stüsser-Simpson
den Hang hinunter zum See. Im Gras sitzt eine Amsel und fliegt weg, als sich die Kinder nähern. „Die Tauben bei uns in der Einkaufsstraße fliegen nie weg, sogar dann nicht, wenn ich in die Hände klatsche“, erzählt Nele.
Anna lacht: „Dann müssen die Tauben ja sehr mutig sein.“
„Irgendwann fliegen sie immer weg“, bemerkt Jannick und Anna fügt hinzu: „Man kann auch ohne Angst wegfliegen, wenn es langweilig wird zum Beispiel.“ Auf der Wiese glänzt zwischen zwei Brennnesseln Spinngewebe. Jannick wedelt mit den Händen darüber, eine große Kreuzspinne krabbelt an den Rand des Netzes und duckt sich auf ein Blatt. Ist sie jetzt mutig, weil sie hier sitzen bleibt?
„Vielleicht läuft sie aus Angst nicht weg“, meint Anna.
„Aber dann ist Angst ja das Gleiche wie Mut“, denkt Nele und fragt: „Ist Angst eigentlich schlecht und Mut gut?“
Jannick richtet sich auf: „Wenn ich ein Angsthase bin, ist das doch nicht gut!“
„Aber“, Anna hebt den Finger, „wenn die Hasen vor dem Fuchs nicht weghoppeln, werden sie gefressen. Also ist Angst nicht so schlecht.“
Als sie ans Ufer kommen, macht es Platsch und Platsch und Platsch. Drei Frösche hüpfen ins Wasser und schwimmen mit kräftigen Stößen auf den Grund unter der Wasseroberfläche. Dort bleiben sie unbeweglich sitzen. Eine blau schillernde Libelle steigt vom Steg auf, bleibt einen Augenblick mit einem knisternden Geräusch in der Luft stehen und fliegt ins Schilf. Die Kinder betreten den Steg und bemerken auf dem Wasser davor eine Bewegung. Eine Schwanenfamilie gleitet langsam vorüber, zwei große weiße Schwäne und zwischen ihnen drei kleine braune Schwanenkinder. Plötzlich dreht sich der eine große Schwan zur Seite und schwimmt genau auf den Steg zu. Gleichzeitig beginnt er sehr laut zu zischen. Anna und Lena laufen ganz schnell zurück zum Ufer, nur Jannick macht ein paar Schritte zurück, bleibt aber am Anfang des Steges stehen. Hier kann ihn der Schwan mit seinem langen Hals und dem zischenden Schnabel nicht erreichen.
Auf dem festen Land sagt Lena: „Ich habe noch nie so viel Angst gehabt, mir gefällt das Weglauf-Spiel nicht mehr. Warum ist der Schwan so böse, ich will ihm doch nichts tun, ich finde ihn sehr schön.“
Inzwischen ist auch Jannick zurückgekommen: „Ich hatte auch Angst, aber bin trotzdem nicht weggelaufen. Das ist Mut.“
Anna blinzelt mit einem Auge: „Das ist Angeberei. Du kannst doch ruhig weglaufen!“
*
Falschrum-Welt
Draußen Regen, Regen, Regen
graue Wolken ohne Ende
Anna ist nass ebendeswegen
dreht sie eine scharfe Wende
zurück nach Haus und in ihr Zimmer
da ist sie gerne, da spielt sie immer
und ihren Schritt gediegen lenkt
obwohl sie nicht ans Liegen denkt
direkt zum Bett, zum Hüpfen Schütteln
der Kissen und Wörter, zum Reimen und Rütteln
abwärts, aufwärts, seitwärts springt sie
vorwärts rückwärts singt und reimt sie
ihr Herz hüpft mit den Wörterketten
NETTE KETTEN, NETTE KETTEN
von hinten gehen auch NETTE BETTEN
und mit sich selbst, was tut sie da
sie spricht sich rückwärts, die Anna
ANNA TUT NUN, NUN TUT ANNA
*
Wolken-Tanka
Nur eine Wolke
Steht vor der Sonne. Der Wind
bläst sie nach links, dann
nach rechts. Oh, wie ich friere:
überall nur Gänsehaut.
*
Regenbogenrutsche
Es war nicht in der alten Zeit, als die Menschen arm und sehr oft hungrig waren. Als viele Kinder obdachlos und verwaist ihres Weges zogen. Dennoch war das kleine Mädchen traurig und unglücklich. Mutter hatte ihre Koffer gepackt und war ausgezogen. Vater würde ihr im Haus alles alleine überlassen und nie staubsaugen, sagte die Mutter. Vom Wäschewaschen und Rasenmähen war auch die Rede. Mutter, mit der sie so viele Bilderbücher gelesen hatte und von der sie so viele Märchen kannte, hatte die Koffer gepackt. Mutter, die so oft mit ihr gekuschelt hatte, war weg. Ohne ihr einen Kuss zu geben oder einen Ton zu sagen. Und Papa sagte gar nichts. Er tat auch nichts. Bis auf etwas Unsinniges: Er goss sich ein rotbraunes Getränk ins Glas und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Dabei hatte er schon vor zwei Jahren aufgehört zu rauchen.
Das kleine Mädchen hatte keine Lust auf eine böse Stiefmutter, die jetzt bestimmt bald einziehen würde. Es schnappte sein Bündel wie eine Müllersburschin und ging in den nächsten Park, der den Namen Stadtpark hatte. Ein leichter Wind kam auf, und aus dem wolkenverhangenen Himmel begann es zu regnen. Das Mädchen stellte sich in den Schutz einer mächtigen Eiche und fühlte sich elternlos und ausgesetzt, obwohl es ja von alleine in den Stadtpark gekommen war. Weil es sich aber so unglücklich fühlte, weinte es bitterlich auf seiner alten Parkbank, obwohl es in Wirklichkeit noch Eltern besaß und auch nicht obdachlos war.
Der anhaltende Wind wurde noch stärker und schob an einigen Stellen die Wolken beiseite, sodass die Sonnenstrahlen einen Teil der großen Parkwiese hell beleuchtete. Obwohl es über ihr noch regnete, kam die Sonne immer mehr hervor und es entstand ein Regenbogen, der von der einen Seite des Parks bis zu der anderen reichte. Das Mädchen betrachtete die stärker werdenden Farben und staunte: „So ein schöner Rogenbegen!“ Es merkte aber sogleich, dass das irgendwie falsch war, und dann fiel ihm ein, dass der Rogenbegen eigentlich Regenbogen heißt. Um seinen Fehler möglichst schnell wiedergutzumachen, rief es ganz laut noch einmal: „So ein schöner Regenbogen!“ Es wollte auch verhindern, dass der Regenbogen gleich wieder verschwand, man wusste ja nie. Und dann sah es sich in Ruhe die leuchtenden Farben an, das Rot und das Gelb! Und das Grün und das Blau! So schön! Das Mädchen überlegte, ob die Farbe unter dem Blau Violett oder Lila hieß. Es war da sehr unsicher. Hätte ihre Mutter ein Kleid in dieser Farbe gehabt, hätte sie es bestimmt gewusst.
An der höchsten Stelle des Regenbogens nahm sie irgendetwas Zappelndes wahr, so als ob eine Fliege im Spinnennetz gefangen wäre. Es wischte sich kurz die Augen, vielleicht waren da noch Tränen. Der kleine dunkle Punkt bewegte sich langsam auf dem Regenbogen nach unten. Dann sah es so aus, als würde der Regenbogen genau da, wo er gerade war, ein bisschen kräftiger, er hatte eine Verdickung, die wie ein Knoten aussah, der sich bewegte, vielleicht, weil er noch zugezogen wurde. Der Knoten wurde jedoch nicht kleiner, sondern immer größer und immer schneller. Die Knotenverdickung war ein Männlein, das wie auf einer Rutsche nach unten glitt und im letzten Augenblick schwungvoll aus dem Rutschstrahl absprang. Mit grünen Augen und noch bebendem roten Bart stand es vor dem kleinen Mädchen, machte ein besorgtes Gesicht und runzelte die Stirn.
„Wo drückt dich der Schuh, du schönes Kind?“, fragte das Männchen in den blaugelbgrünen Kleidern. Und das Mädchen erzählte ihm, dass seine Mutter es gerade zur Waise machen würde, zumindest zur Halbwaise. Da nahm das Männchen, das ein bisschen wie ein bunter Prinz aussah, das Mädchen an der Hand und ging mit ihm bis zum Ende der Stadtparkwiese, wo der Regenbogen den Boden berührte. Mit seinem Zeigefinger machte das Männlein einen raffiniert angedrehten Doppelschlag in den Regenbogen, dass die Funken sprühten. Und dann sprach es: „Gehe an den Rand des Stadtparks zur großen Bushaltestelle. Dort steht