Schauderwelsch. Jochen Stüsser-Simpson

Schauderwelsch - Jochen Stüsser-Simpson


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damit sie nicht verbrannten, und zwar alle auf einmal. Denn wenn er ein Zicklein nach dem anderen aus dem Haus brächte, würden ihn die restlichen Geißlein aussperren, denn sie waren muntere Gesellen. Sie würden die Schlossanlage verändern oder sich verbarrikadieren, sodass er nicht mehr hereinkäme.

      Und da kam die Eingebung. Er hatte von Tieren gehört, die ihre Jungen zum Schutz in den Mund nahmen und sie wieder freiließen, wenn die Gefahr vorbei war. Sein Mund war so groß nicht, er musste sie vorsichtig herunterschlucken und anschließend wieder hochwürgen, als wäre er ein Wiederkäuer. Eine Zeit lang würden sie in seinem Bauch überleben können, dafür gab es Beispiele.

      Gesagt, getan.

      Er stöberte die Geißlein in ihren Verstecken auf und verschluckte sie, eins nach dem anderen, bis er das Gefühl hatte, er würde gleich platzen. Mit schweren Schritten torkelte er aus dem Haus und legte sich schwer atmend unter den nächsten Busch in einiger Entfernung von dem Ziegenhaus. Vor Anstrengung und Müdigkeit schwanden ihm die Sinne und bald schnarchte er in einem tiefen ohnmächtigen Schlaf.

      Er hatte einen schweren Traum, in dem die Mutter Geiß zurückkam. Sie ging ins Haus und holte etwas, aber sie herzte und streichelte ihn nicht, sondern schnitt ihm mit einem Skalpell den Bauch auf, um alle ihre Kinder schnell wieder an die frische Luft zu holen. Und dann hantierte sie in seinem Bauch herum, ohne dass er sehen konnte, was sie da eigentlich machte. Und er wurde im Traum immer schwerer, und er hatte einen großen, großen Durst. Mühsam richtete er sich auf und bewegte sich zum nächsten Brunnen, um seinen Durst zu löschen. Als er sich aber über den Brunnenrand beugte, verlor er plötzlich das Gleichgewicht und eine mächtige Kraft zog ihn nach unten und er fiel und fiel, und während seines Falles hörte er von weit oben über sich Gesang und Geschrei, und es klang, als würde da gerufen: „Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!“

      Als der Wolf immer tiefer in seinen Albtraum fiel, kam ein kräftiger Regen auf, der das Feuer im Reetdach löschte. Als die Ziege nach Hause kam, hörte sie von dem Zicklein, das der Wolf vergessen hatte, die Geschichte. Und sie machte sich ihren eigenen Reim darauf. Sie ging zum Brunnen, zum Wolf, der im Schlaf stöhnte, schüttelte ihn sanft an den Schultern. Als er die Augen aufschlug, sagte sie zärtlich: „Wolf! Lieber Wolf! Ich werde dich nie wieder hinauswerfen! Und sie streichelte über seinen Bauch.“

      *

      Blondmarie

      Oder wie der Hans zum Großbauern wird

      Eine schlechte Ernte steht ins Haus! Das muss man sich mal vorstellen. Sie steht ins Haus, sie ist noch gar nicht da. Bestens noch leben alle von der letzten Ernte, die Scheunen und Ställe und Vorratskammern sind voll. Hans schüttelt den Kopf und bestellt ein Bier. Die Sonne scheint und es riecht nach Frühling. Ihn will kein scheuendes Pferd abwerfen und er muss keiner spritzenden Kuh an das Euter. „Und was sollen wir im nächsten Jahr essen?“, fragt ihn der Jungbauer mit dem grünen Hut.

      „Das wird sich schon finden“, sagt Hans und lacht.

      „Sind wir dir egal?“, fragt der Jungbauer und runzelt die Stirn. „Wenn wir nichts zu essen haben, wirst du auch hungern.“

      „Mal sehn“, sagt Hans. Über seine Hand buckelt eine Raupe.

      Im Dorf seiner Mutter ist gerade Jahrmarkt. Deshalb ist er gar nicht erst nach Hause gegangen, Mutter läuft nicht weg. Er sitzt vor dem Tanzboden unter der Linde und redet ein bisschen mit den Jungs, die die Mundwinkel hängen lassen. Und die Schultern. Wegen der schlechten Ernte. Alle Mühe umsonst. Es reicht gerade noch zum Trinken. Zum Tanzen nicht mehr, aber das macht nichts, denn Hans ist immer zu einem Tänzchen aufgelegt. Und die Mädchen sind besser gelaunt und so tanzfreudig, dass sie sogar ohne Jungen tanzen.

      Der Reiter mit dem gelben Hut bindet sein Pferd fest, tritt an die Theke unter der Linde, sieht zu den Tanzenden. Und dann staunt er: Da tanzt doch tatsächlich der Hans, dessen Pferd er eingetauscht hat. Tanzt der Hans da mit der Blondmarie? Wie macht er denn das! „Mit mir tanzt sie nicht, und ich habe zwanzig Morgen Land im Rücken.“

      Die Glatze mit dem Ohrring lacht. Die Blondmarie wird die riesigen Felder im Westen des Dorfes erben. Die sieht nicht auf das Land, die sieht nur ins Gesicht, und du hast da eine Zahnlücke. Und der Hans ist hell und strahlt, als würde die ganze Zeit die Sonne scheinen.

      Hans dreht sich rechts herum und flüstert der Marie ins Ohr: „Ich kann aber nicht reiten.“

      „Bei mir wirst du das schon lernen“, lacht die Marie.

      Hans dreht sich links herum und sagt ihr in das andere Ohr: „Ich kann aber nicht melken.“

      Marie dreht sich, dass die Zöpfe fliegen, und ruft: „Dafür habe ich doch meine Knechte!“ Und sie walzen zusammen, dass das Zusehen eine Freude ist.

      „Wer hätte das gedacht“, sagt der Scherenschleifer, und setzt sein Schnapsglas ab, „die Goldmarie. Jetzt macht der Hans sein Glück, ohne dass er ein Schleifer geworden ist. Wie macht er das nur?“

      Der Pfarrer tritt unter die Linde und bestellt einen Weißwein. Nach dem ersten Schluck legt er dem Schleifer die Hand auf die Schulter: „Immer gewinnt die Liebe, mein Sohn, amor omnia vincit.“

      „Mein Hänschen“, ruft die Mutter, als er ihr am Abend seine Braut vorstellt.

      *

      Sie sitzt auf

      Ein Feenmärchen

      Wie splitterndes Holz war die erste schöne Sommerwoche in die Brüche gegangen. Am Morgen war er zu einem Termin im Personalbüro eingeladen. Carlotta, die vor Kurzem an einer ganzen Mannschaft verdienter Mitarbeiter vorbei zur Personalchefin befördert worden war, blitzte ihn spitzbübisch an. Ob er sich in der letzten Zeit Gedanken über seine berufliche Zukunft gemacht habe, wollte sie wissen, während sie Latte Macchiato orderte. Vielleicht lächelte sie, vielleicht war dies ihre Mundform, jedenfalls hatte er das angenehme Gefühl, im selben Boot zu sitzen. Seit Längerem hoffte er, in die Abteilung versetzt zu werden, die die Gourmet-Zeitschriften betreute. Für den Sterne-Koch und die Essen und Feiern hatte er schon häufiger mit viel Vergnügen fotografiert und getextet. Immerhin hatte er vor ein paar Jahren im Interconti eine Lehre als Koch abgeschlossen. Er liebte gutes Essen.

      Nachdem die Sekretärin den Kaffee gebracht hatte, ließ Carlotta ihre silbernen Ohrringe leise klirren und setzte das Gespräch fort, indem sie sich über die Entwicklung des Internets und den Rückgang der Print-Medien ausließ. Er hörte ihrer warmen Stimme gerne zu, auch wenn ihre Ausführungen erst einmal nicht viel Neues enthielten. Säße er jetzt dem Chef direkt gegenüber, wäre es weniger behaglich, es gäbe keinen Small-Talk, sondern Excel-Tabellen und Statistiken. Beim Chef war der Glamour-Faktor kaum vorhanden, er betonte, dass er rechnen könne.

      Die Internet-Werbung, unterstrich Carlotta mit freundlichen Armbewegungen, würde weiterentwickelt und die Etats für die Print-Medien halbiert. „Und hier, lieber John“, – in der Firma war es hierarchieübergreifend üblich, sich zu duzen – „ kommst du ins Spiel.“ Anders als er hatte sie sich durchaus über seine berufliche Zukunft Gedanken gemacht, mit dem Ergebnis – „da wollen wir nichts beschönigen oder verklären“ – ihn zu kündigen. Erst einmal. Mit einem kleinen Scherz hatte sie versucht, ihn über den Moment seiner Sprachlosigkeit zu bringen und hinzugefügt, „als Freelancer würden wir deine Dienste aber gerne weiter in Anspruch nehmen.“ Da sein anarchischer Geist in solchen Situationen zu Entgleisungen und Geschmacklosigkeiten neigte, hatte er sich zur Ruhe gezwungen und schafsgeduldig zurückgelächelt.

      Es gibt Tage im Leben, an denen so viel schiefläuft, dass sie einen surrealen Charakter annehmen. Nach seinem ersten Scheitern am Vormittag folgte sein zweites am Abend, beim Italiener. Zum Dessert trieb ihm seine Freundin einen Eiszapfen durchs Herz. Sie erklärte ihre Beziehung für beendet. Er wäre mit dem Job verheiratet usw.. Er fühlte sich wie im Auge eines Orkans – und verzichtete auf den Grappa. Er benötigte jetzt eine wirklich rauschhafte


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