Dr. Daniel Staffel 10 – Arztroman. Marie Francoise
Dr. Scheibler nach vorn, schob eine Hand vorsichtig zwischen Fahrersitz und den Rücken des jungen Mannes und tastete auf diese Weise die Wirbelsäule ab.
In diesem Augenblick kam der Autofahrer zu sich.
»Nicht bewegen«, mahnte Dr. Scheibler. »Haben Sie gehört? Bewegen Sie sich auf keinen Fall!«
»Das Auto«, stammelte der verletzte junge Mann. »Es war plötzlich vor mir. Ich…« Er versuchte, nach hinten zu sehen.
»Nicht bewegen!« wiederholte Dr. Scheibler streng, dann fügte er ruhiger hinzu: »Wie heißen Sie?«
»Bernd«, brachte der junge Mann leise hervor. »Bernd Köster. Ich… ich habe heute… Geburtstag.«
»Dann haben Sie sich aber kein schönes Geschenk gemacht«, entgegnete Dr. Scheibler. Er versuchte, zum Beifahrersitz zu gelangen, was gar nicht so einfach war.
»Ich bin bestimmt kein gewissenloser Raser«, flüsterte Bernd. »Es war… ich war so… einsam… nach der Feier, die ich nicht gewollt habe… ich wollte nur weg… allein sein.« Er schluckte, was ihm sichtliche Schmerzen bereitete. »Nie zuvor habe ich das Tempolimit überschritten… und dann… das Auto vor mir… ich habe es zu spät gesehen… war wie gelähmt… konnte nicht bremsen…« Seine Stimme wurde noch leiser. »Es tut so weh. Beim… Atmen und… Sprechen…«
»Dann seien Sie jetzt ruhig«, riet Dr. Scheibler ihm. »Und versuchen Sie, möglichst flach zu atmen.« Vorsichtig ließ er seine Hand über Bernds Brust gleiten und ertastete die vielen Rippenbrüche. Die Bauchdecke war hart und angespannt, was auf innere Blutungen schließen ließ.
»Haben Sie keine Angst, Bernd, wir kriegen das schon wieder hin.« Dr. Scheibler versuchte, seinem jungen Patienten mit diesen Worten Mut zu machen, was ihm einen dankbaren Blick von Bernd eintrug.
Mit blinkendem Blaulicht hielt nun die Feuerwehr neben den beiden Unfallautos an. Wenig später kehrte auch der Krankenwagen zurück. Dr. Parker kam zum Fenster der Beifahrertür.
»Wie sieht’s aus?« wollte er atemlos wissen.
»Halte dich bereit zum Intubieren«, erwiderte Dr. Scheibler, dann griff er an Bernds Oberschenkel. »Spüren Sie etwas?«
»Ja«, flüsterte Bernd mit erstickter Stimme.
»Gut.« Er lächelte dem jungen Mann aufmunternd zu. »Wir holen Sie bald hier heraus. Sie dürfen sich nur nicht bewegen. Wie geht’s mit der Atmung?«
»Schlecht«, keuchte Bernd. »Es tut… so weh, und… ich habe das Gefühl…«
»Ich kann mir vorstellen, was für ein Gefühl Sie haben«, fiel Dr. Scheibler ihm ins Wort, dann blickte er Dr. Parker an. »Du mußt intubieren, aber er darf sich dabei keinen Millimeter bewegen.«
»Wie stellst du dir das vor, Gerrit?« fragte Dr. Parker entsetzt. »Was glaubst du, wie der sich wehrt, wenn ich ihm bei vollem Bewußtsein einen Schlauch in die Luftröhre schiebe? Ganz davon abgesehen, daß ich damit bei einem nicht relaxierenden Patienten Gefahr laufe, die Stimmritze zu verletzen.«
»Wie du das machst, ist deine Sache«, entgegnete Dr. Scheibler. »Die Rippenbrüche lassen jeden Atemzug zu einer Tortur für ihn werden. Außerdem fürchte ich, daß er bald nicht mehr in der Lage sein wird, eigenständig zu atmen.«
Inzwischen hatten die Feuerwehrmänner die Fahrertür aufgeschweißt und wollten den Verletzten auf die bereitgestellte Trage heben.
»Rühren Sie ihn nur nicht an!« befahl Dr. Scheibler scharf, dann nahm er die Spritze entgegen, die Dr. Parker ihm durchs Fenster hereinreichte. Ohne zu zögern, schnitt der Chefarzt Bernds rechtes Hosenbein auf und desinfizierte die Einstichstelle am Oberschenkel. Dabei bemerkte er die Muskelanspannung des Patienten.
»Hören Sie zu, Bernd, ich muß Ihnen jetzt ein starkes Beruhigungsmittel spritzen, damit die Intubation für Sie erträglich wird«, erklärte er. »Sie sind jetzt ziemlich verkrampft, da wird der Einstich weh tun. Trotzdem dürfen Sie sich nicht bewegen, nicht einmal zusammenzucken. Schreien Sie oder weinen Sie, aber bewegen Sie sich keinen Millimeter.« Er sah die Angst in den Augen seines Patienten und fügte hinzu: »Ich werde so vorsichtig sein wie ich kann, und es dauert auch nur einen Augenblick.«
Er ließ Bernd gar keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, sondern stieß die Nadel mit einem kurzen Ruck tief in den Muskel hinein.
»Au«, jammerte Bernd leise, weil nicht nur der Einstich, sondern auch das Einspritzen in den verkrampften Muskel schmerzte. Allerdings zeigte das Medikament rasch seine Wirkung. Bernd glitt in einen Dämmerzustand. Er fühlte, wie sein Kopf ein wenig nach hinten gebogen wurde, dann bekam er einen glatten, kühlen Gegenstand in den Mund, der seine Zunge nach unten drückte. Bernd mußte würgen und wollte sich wehren, doch sein ganzer Körper war wie gelähmt. Er fühlte den Schlauch, der tiefer und tiefer glitt, und hatte sekundenlang das Gefühl, daran zu ersticken, ehe er in eine barmherzige Bewußtlosigkeit sank.
*
Zur selben Zeit nahm Dr. Daniel in der Waldsee-Klinik an Mona Lombardi eine gründliche Untersuchung vor, während der junge Assistenzarzt Dr. Rainer Köhler schon die Platzwunde an der Stirn nähte. Mona wimmerte leise vor sich hin – nicht nur wegen der Schmerzen, die sie noch immer hatte, sondern vor allem, weil die Nervenanspannung jetzt nachließ und ihr auf einmal bewußt wurde, wie schlimm dieser Unfall hätte ausgehen können.
»Meine Babys«, stammelte sie angstvoll.
»Alles in Ordnung, Mona«, beruhigte Dr. Daniel sie, obwohl das eigentlich nicht den Tatsachen entsprach. Immerhin bestand eine leichte Schmierblutung, und die Gebärmutter wies Kontraktionen auf – kaum merklich, aber schlimm genug, daß eine Fehlgeburt drohte, wenn Arzt und Patientin jetzt nicht ganz vorsichtig waren.
»Mein Bauch tut noch immer weh«, wandte Mona ein.
Dr. Daniel nickte ernst. »Ich weiß, und damit ist auch nicht zu scherzen.« Er sah Dr. Köhler an. »Wenn Sie hier fertig sind, Rainer, dann besorgen Sie mir bitte ein Infusionsbesteck.«
Die Stationsschwester der Gynäkologie, Carola Stenzl, hatte seine Worte gehört und brachte ihm schon wenige Augenblicke später das Gewünschte.
»Ich werde Ihnen eine Infusion legen, damit die Kontraktionen der Gebärmutter aufhören«, erklärte Dr. Daniel, während er die Nadel bereits an der Vene unmittelbar hinter Monas Handgelenk ansetzte. »Nicht erschrecken, der Einstich tut ein bißchen weh.«
Mona zuckte zusammen.
»Schon vorbei«, meinte Dr. Daniel beruhigend, während er die Nadel vorsichtig zurückzog und gleichzeitig die Infusionskanüle weiter in die Vene vorschob. »Diese Infusion ist nötig, damit es zu keiner Fehlgeburt kommt.«
Mona erschrak. »Ich will die Babys nicht verlieren!«
»Ich werde alles tun, damit das nicht geschieht«, versprach Dr. Daniel. »Keine Sorge, Mona, die Infusion wird bald ihre Wirkung zeigen. Darüber hinaus ist der Muttermund noch fest geschlossen. Es wird sicher zu keiner Fehlgeburt kommen. Allerdings müssen Sie da auch ein bißchen mithelfen. In den nächsten Tagen, vermutlich sogar für ein paar Wochen, dürfen Sie das Bett nicht verlassen. Von Schwester Carola bekommen Sie einen Katheter gelegt, weil Sie nicht einmal auf die Toilette gehen dürfen.«
»Aber… meine Arbeit«, entgegnete Mona entsetzt. »Ich kann jetzt nicht einfach…«
»Sie müssen sich entscheiden, was Ihnen wichtiger ist«, fiel Dr. Daniel ihr sanft, aber bestimmt ins Wort. »Wenn Sie aufstehen, wird die Fehlgeburt nicht aufzuhalten sein.«
Mona war hin- und hergerissen zwischen ihren jetzt schon sehr mütterlichen Gefühlen und der Gewißheit, daß sie ihre leitende Position verlieren würde, wenn sie diesem Krankenhausaufenthalt zustimmte.
»Was soll ich bloß tun?« fragte sie verzweifelt.
Dr. Daniel griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Sie hatten bei diesem Unfall sehr viel Glück, Mona. Die Geschichte hätte ganz dumm ausgehen können.« Er schwieg kurz.