Die große Hitze. Jörg Mauthe

Die große Hitze - Jörg Mauthe


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um Staub in entzündete Augen zu treiben, und so warm, daß es einem den Atem verschlug. Die Hitze hatte die Kastanien und den Flieder, soweit sie nicht ohnehin schon verdorrt waren, austreiben lassen und vorzeitig zu kümmerlicher Blüte gebracht; es war abzusehen, daß sie auch heuer wieder schon im Juni ihre Blätter verlieren würden.

      Der Riesenkulisse der Hofburg freilich tat das fahle Licht gut. Es verwischte weich die Schatten in den Fensterlaibungen und zwischen den mächtigen Säulen, es überzog das imposante Halbrund mit flimmernden Schleiern, dunkelblauen an den Sockeln und Stiegen, hellblauen im Mittelgeschoß, fast weißen an den Attiken, auf denen Siegesgöttinnen den Lorbeer einer undeutlich werdenden, jedoch majestätisch gebliebenen Vergangenheit hochhielten. Die Hofburg schien in diesen Tagen größer und weiter geworden denn je und ihre ohnehin schon übertriebenen Perspektiven ins Unendliche auszudehnen.

      In den Nischen des mächtigen Architekturtunnels zwischen Neuer und Alter Hofburg haben sich muschel- oder seeigelartig allerlei kleine Geschäfte eingenistet, unter dem Wasserspiegel der Geschichte sozusagen; in der dortigen Tabaktrafik kaufte der Legationsrat seine tägliche Zigarettenration ein, zwanzig Memphis und zwanzig Gitanes, die er abwechselnd rauchte, zwischen der faden Milde eines leidlich sauberen Orienttabaks und afrikanischer Schärfe hin- und herwechselnd, was jedem Zigarettenraucher einen Einblick in die keineswegs spannungsfreie Seele dieses Mannes gestattet. Wie immer warf er auch einen Blick auf die Schlagzeilen der Morgenzeitungen und entnahm ihnen, daß die Welt seit gestern nicht untergegangen war und das wohl auch heute noch nicht tun würde.

      Beim Verlassen der Trafik und angesichts der gegenüberliegenden Telephonzelle erlitt Tuzzi die erste – und nicht die letzte – Anfechtung dieses Tages. Die Klimaanlage in seinem Büro fiel ihm ein, die nicht eingeschaltet werden durfte, denn auch die höheren Beamten waren »in Anbetracht der allgemeinen Wasserknappheit zu sparsamem Umgange mit öffentlichem Kraftstrom verhalten« (Wortlaut des betreffenden Internen Erlasses). Ferner dachte der Legationsrat an die leichte Migräne, die gegen Mittag mit Sicherheit zu erwarten war. Wenn er das linke Auge fest zuzwickte – er tat es probeweise –, dann konnte er jetzt schon hinter der Schläfe das fatale Pochen wahrnehmen.

      Tuzzi war drauf und dran, das Telephon zu benützen und sich krank zu melden. Ein auch moralisches Recht darauf stand ihm dank vieler Überstunden und seines sonstigen Pflichteifers ohne weiteres zu; jeder andere würde es ohne Umstände in Anspruch nehmen und kein Kollege es ihm verübeln, wie die Dinge nun einmal lagen. Natürlich wäre es ein recht schulbubenhafter Einfall, Unannehmlichkeiten auf solche Weise hinauszuschieben, obwohl man ihnen ja doch nicht entgehen konnte. Wenn man aber hinwiederum bedachte, daß man sich mit einer so glaubhaften Ausrede wenigstens für heute die Twarochschen Akten und die zusätzliche Wärme von Ulrikes Bett ersparen könnte …

      Zweifelnd blickte der Legationsrat durch den Torbogen des Durchgangs hinein in den Inneren Burghof, und in sein Blickfeld trat die Figur eines, dessen Stehen am Scheidewege sprichwörtlich geworden ist.

      Warum, dachte Tuzzi, haben die Bürokraten des österreichischen Barocks eigentlich eine solche Vorliebe ausgerechnet für den braven, aber doch in gar keiner Hinsicht scharfsinnigen Herkules gehabt, daß sie ihn in oder vor nahezu jedes größere Amtsgebäude gestellt haben? Weil er sich von jedem beliebigen die mühsamsten Arbeiten aufhalsen ließ? Da hätten sie gleich Sisyphus zur Symbolfigur machen können, der zweifellos geeigneter gewesen wäre als Herkules, das Wesen loyalen Beamtentums zu symbolisieren, obgleich er ein gewaltiger Trottel gewesen sein muß, denn irgendwann einmal hätte doch auch er begreifen müssen, daß – Fluch der Götter hin oder her – der bekannte Stein einfach nicht zu bewältigen war. Und mit diesem Begreifen wäre der Fluch ja wohl erloschen. Also, was tu’ ich: Geh’ ich heim? Oder ins Amt?

      In diese Scheideweg-Überlegungen hinein tönte eine Stimme, die viel zu unbeschwert klang für diese noch frühe Stunde: »Servus, Tuzzi!«

      Die Stimme gehörte dem Legationssekretär Trotta, der dem Legationsrat teils vom Außenministerium, teils vom Schicksal als Untergebener, Freund und Schützling zugewiesen worden und eine Quelle ständiger Komplikationen und Sorgen, aber auch der Erheiterung und Zuneigung, im ganzen also so etwas wie eine unentbehrliche Last war.

      »Servus, Trotta.«

      »Du denkst nach, Tuzzi. Worüber?«

      »Ich denke drüber nach, welche Gefühle Sisyphus bei seiner Arbeit wohl gehabt haben mag.«

      »Eine interessante Frage«, sagte Trotta, »aber nicht für mich, für sowas bin ich um achte in der Früh zu blöd.«

      »Macht nichts, Trotta. – Wie geht’s sonst?«

      »Unter uns gesagt: miserabel. Ich sollt’ mich eigentlich einmal untersuchen lassen.«

      »Das kann nie schaden.«

      »Dann hättest du also nichts dagegen, wenn ich gleich jetzt zum Arzt geh’?«

      »Du legst mich schon wieder herein, Trotta.«

      »Wenn du natürlich darauf bestehst, daß ich in diesem Zustand ins Amt gehe …«

      »Ich bestehe nicht darauf. Zieh hin mit Gott. Servus, Trotta.«

      »Servus, Tuzzi. Du bist ein Schatz, wirklich.«

      Und damit war die Entscheidung gefallen. Beschwingt entschwand Trotta in die Weite des Heldenplatzes, verdrossen beschritt der Legationsrat den Weg des Sisyphus.

      Im Burghof hielt der gute Kaiser Franz seine schützende Hand über untreu gewordene Völker und verrichtete Herkules in vierfacher Ausführung ebenso viele Taten; aber das graue Licht, das den Bauten des Heldenplatzes so malerische Valeurs verlieh, bewirkte hier, im engeren Raum, das Gegenteil: Fade und häßlich wie Staub lag es über der schattenlosen Fassade der Reichskanzlei. Der Wachmann vor der Adlerstiege wischte das Schweißband seiner Kappe trocken. Tuzzi blickte zur Uhr im Türmchen des Amalientraktes auf: Erst Viertel nach acht.

      Viertel neun an einem Aprilmorgen, und so heiß! Wenn dieses Wetter anhielt, kam es schon im Mai, spätestens im Juni, zu einer Katastrophe mit Endgültigkeitscharakter.

      Er überquerte den Ballhausplatz und erinnerte sich, daß gestern im Bundeskanzleramt der Ministerrat getagt hatte und die Überarbeitung des Kabinettsitzungsprotokolls sein Arbeitspensum beträchtlich vergrößern würde. Also beschleunigte er seine Schritte, nicht allzu heftig natürlich, sondern nur so, daß er einen kleinen Schweißausbruch eben noch vermied; solche Vorsicht war in diesen kreislaufgestörten Zeiten allgemeine Verhaltensweise geworden, auch vielfach ärztlich empfohlen. Doch nahm er sich auch heute die Zeit, ein paar Schritte von der schweigsamen Front des Haus-, Hof- und Staatsarchivs abzuweichen und einen kleinen Umweg durch die Spitzbogengalerie der Minoritenkirche zu machen. Dort nämlich, an der Südmauer dieser seit vielen Jahrhunderten von der italienischen Kolonie Wiens bevorzugten Kirche, sind Grabsteine aus einem aufgelassenen Friedhof angebracht, deren verwitterte Inschriften Tuzzi seit je in eigener Weise berührten:

      THOMAE PVCCIO NOBILI FIORENTINO, der, als die Christen die Burg Gran angriffen, nach heftigem Kampf mit den Feinden die Seele Gott zurückgab, 40 Jahre alt im Jahre 1595 seit der Geburt des Herrn … MARCO ANTONIO RECASOLO, der sehr vornehme Florentiner, der aus einzigartiger Frömmigkeit für die Sache der Christenheit in das Kaiserliche Lager und wider die Türken zog … 21 Jahre, 10 Monate alt, starb er in Komorn am 1. November 1597 … AENEAE PICCOLOMINI, Herr von Sticciano in der Toskana, wurde im böhmischen Kriege im Lager des Kaisers getroffen im 33. Jahre seines Lebens am 16. August im Jahre des Heils 1619 … Seiner Gattin SUSANNA APOSSA ließ trauernd Johannus Paulus Fossatus aus Mailand dies Grabmal errichten im Jahre 1589 …

      Die Tuzzis waren schon seit vier oder fünf Generationen keine Italiener mehr und hatten sich wahrscheinlich ungeachtet ihres Namens, ihrer Sprache und Herkunft schon vorher niemals als solche betrachtet, sondern als Österreicher, als Leute des Kaisers, wenn man es genauer sagen will, oder, um es abstrakter und noch genauer zu sagen, als Menschen, die sich einem höheren Prinzip zu- und untergeordnet fühlten, wie es sich in der Idee des Kaisertums ausgeprägt hatte. Auch an Tuzzi selbst erinnerte außer der Dunkelheit seines Haares und einer gewissen sehnigen Schlankheit nichts an die italienische Herkunft. Und doch bestätigten


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