Die große Hitze. Jörg Mauthe
der Welt und etwas von den vielfachen Mechanismen ihrer Verwaltung kennen. Der Onkel war nach anfänglicher Scheuheit zu einem liebe- und verständnisvollen Freund geworden; da er schon seit langer Zeit nicht mehr jung war, behandelte er den Jüngeren wie einen reifen Mann und erzog ihn damit ohne eigentliche Absicht zu jener Desinvolture, die Tuzzi später bei Kollegen wie bei Frauen so angenehm machte.
Was letztere betrifft, so lernte der Neffe auch an den je nach dem Amtssitz wechselnden Freundinnen des diplomatischen Onkels manches Wichtige und Nützliche.
»Vor allem merke dir«, pflegte der Onkel zu sagen, nachdem er dem Neffen eine neue Michelle, Michiko oder Micaela vorgestellt hatte, »wenn du, wie ich hoffe, ein guter Diplomat werden willst, daß man niemals zu tief in das Wesen der Dinge eindringen darf. Nimm die Dinge, mein Lieber, wie sie sind, und versuche nicht, sie zu verstehen. Ihre Ursachen sind stets verwirrend, unklar und manchmal gefährlich für den, der sie zu begreifen sucht. Das Geheimnis des wahren Diplomaten ist, daß er darauf verzichtet, irgend etwas wirklich verstehen zu wollen. Und dieser Satz, mein junger Freund, gilt auch für die Frauen. Liebe sie, denn sie verdienen es. Ehre sie, denn sie verdienen es, bete sie von mir aus an, denn manchmal verdienen sie sogar das, und jedenfalls werden sie dich dafür lieben. Aber unternimm nie den Versuch – nie! –, sie auch verstehen zu wollen, denn wenn sie das merken, werden sie unerträglich. Ich bin am näherrückenden Ende eines ziemlich langen Lebens zu der festen Überzeugung gelangt, daß alles Malheur dieser Welt nur aus dem Haß kommt, den sie uns entgegensetzt, wenn wir sie begreifen wollen. – Und nun, mein lieber Neffe, würde ich proponieren: Ein Besuch in diesem neuen türkischen Bad im Viertel Shinzasa wäre vielleicht ein hübscher Abschluß des heutigen Abends – stimmst du zu?«
Das war übrigens das letzte Mal, daß Tuzzi von seinem Onkel solche Worte hörte, denn nach seiner Botschaftszeit in Tokio ging der Onkel in Pension. Und wie so viele ehemalige Kalksburger vor ihm rekonvertierte er auf seine alten Tage zur Religion seiner Jugend, tat sich wieder mit seiner Frau zusammen – sie war einst eine gefeierte Schönheit der Wiener Salons gewesen, hatte nach ihrer Scheidung wieder geheiratet und war nun eine würdige Witwe – und unternahm mit ihr eine Wallfahrt zum heiligen Jakobus von Compostela, wo ihn der Schlag traf.
Möglicherweise hatte er einen verspäteten Versuch unternommen, die Dinge doch noch begreifen zu wollen.
Es wird aus den bisherigen Angaben verständlich, warum die Beziehungen unseres Helden zur Welt – soweit sie nicht vom Prinzip des Dienstes an der Legitimität geprägt sind – vornehmlich erotischer Natur sein müssen und sich in den Kategorien der Hingabe, des Wartens auf Erfüllung, der Rücksichtnahme, des Taktes, der Liebe und der Treue bewegen. Infolgedessen scheint es uns, da wir noch ein wenig Zeit haben (denn noch hat Tuzzi, wie wir mit einem schnellen Seitenblick feststellen, die Gehsteigkante auf der anderen Seite des Minoritenplatzes nicht erreicht), sinnvoll, die Biographie des Legationsrates durch eine Liste seiner bisherigen Liebesbeziehungen zu erweitern und zu vervollständigen.
Wir schicken voraus, daß diese Liste nichts Sensationelles enthält, für einen Beamten aber doch recht beachtlich ist.
Mit 3 bis 6 Jahren bewundert Tuzzi seine Mutter. Wenn sie, nach verabreichter Ohrfeige, neben ihm vor dem Bildnis des hl. Antonius kniet oder am Klavier von Tannengrün und Ährengold singt, erscheint sie ihm im Licht der Opferkerzen oder des weit offenen Fensters überirdisch schön wie die Pallas Athene vor dem Parlament.
Mit 8 Jahren liebt Tuzzi ein kleines schwarzhaariges Mädchen, das manchmal in den Zweigen eines Kirschbaumes hinter der Mauer des Internatsgartens sitzt und so lange ernsthaft auf den Turnplatz der reichen Kinder blickt, bis es von einem Lehrer vertrieben wird. Tuzzi träumt, daß er über die Mauer klettern und das Mädchen suchen wird. Dann wird er mit ihm in den Wald laufen; es gibt in der Schweiz so große Wälder, daß man sich leicht in ihnen wird verstecken können. Aus Steinen und Moos werden sie sich ein kleines Haus bauen und am Feuer Pilze und Fische braten. Der Lehrer hat erzählt, daß man zur Not auch von Wurzeln leben kann. Tuzzi sammelt Schnüre und Spagatreste und wird daraus ein Seil flechten. Denn das braucht man in den Bergen. – Eines Tages wird der Kirschbaum gefällt, und das Mädchen läßt sich nie mehr sehen.
Mit 14 Jahren verliebt sich Tuzzi in einen Internisten, der etwas jünger ist als er. Da der Geliebte eine andere Klasse besucht und in einem anderen Flügel des Konvikts untergebracht ist, sieht Tuzzi ihn nur selten und meist nur von weitem, doch fühlt er sich von diesem Anblick jedesmal zu Tränen gerührt. Noch nie hat er etwas so wunderbar Vollkommenes gesehen wie die eleganten Bewegungen, das engelhafte Gesicht und die schmalen Hände jenes Knaben, gegen den er sich selbst häßlich und unsauber vorkommt. Einmal steht Tuzzi vor dem Tor und kramt in seinen Taschen, ob er genug Geld bei sich hat, um sich unten im Ort ein Gefrorenes leisten zu können. Da sagt hinter ihm eine Stimme: »Du hast was verloren …!« Tuzzi fährt herum. Vor ihm steht der andere und hält ihm lächelnd ein Schillingstück hin. Tuzzi glaubt, in der nächsten Sekunde sterben zu müssen. Er wagt nicht, das Geldstück zu nehmen, er fürchtet den entsetzlichen Augenblick, in dem er die Hand und die Haut des anderen berühren wird. Der aber lacht unbetroffen, vielleicht auch verstehend, drückt Tuzzi die Münze in die schwitzende Hand und läuft davon. Tuzzi geht langsam in einen dunklen Winkel des Parks, wird plötzlich von einem hemmungslosen, ihn fast erstickenden Weinkrampf befallen und ist erstaunt, daß er nicht stirbt. Später bringt er den Mut auf, den Vorfall in der Beichte zu verschweigen, und ist von diesem Augenblick an Agnostiker. Erst nach vielen Jahren begreift Tuzzi, daß es nicht Liebe war, was ihn damals so erschüttert hat, sondern der plötzliche, unvorbereitete Anblick der Schönheit. – Im übrigen endete oder verlief sich diese Episode recht prosaisch: Während der Ferien raubte die Pubertät dem anderen durch einen Wachstumsschub und viele Pickel jede Anmut. Und Tuzzi verliebte sich in ein Mädchen.
15 Jahre: Das Mädchen heißt Sylvia, und Tuzzi lernt es im Eisgeschäft des Ortes kennen. Gemeinsam wandern sie nun täglich den Weg zum Eissalon hin und her. Mehr als eine gelegentliche flüchtige Berührung der Hände oder Ellbogen ereignet sich nicht. Dennoch ist es eine große und tiefe Liebe. Noch einmal erlebt Tuzzi, doch diesmal ohne Schmerz, die Erfahrung dessen, was schön ist: Schön ist der sanfte Schimmer ihres dicken, braunroten Haares, schön ist die bräunliche Haut ihres Gesichtes, schön sind die kleinen goldenen Härchen darauf, alles ist schön, alles.
Im Alter von 15½ Jahren verbringt Tuzzi eine Ferienwoche im Landhaus eines Schulfreundes. In der Nacht von Pfingstsonntag auf Pfingstmontag betritt dessen Mutter das Zimmer, in dem Tuzzi untergebracht ist, setzt sich an sein Bett, sagt: »Du bist ein hübscher Bub, weißt du das?« und verführt ihn ohne weitere Umstände. Tuzzi lernt nach dem Schrecken und dem Zauber der Liebe auch ihre Erfüllung kennen. Es bleibt übrigens bei dieser einzigen Begegnung, doch gedenkt Tuzzi bis ins reife Mannesalter hinein jener Dame mit Rührung und Dankbarkeit. (O widerführe doch jedem heranwachsenden Jüngling ähnliches!)
Mit 16 Jahren liebt Tuzzi weiterhin die rotbraune Sylvia, vermeidet jedoch unter dem Eindruck des Pfingstnachtereignisses jede weitere Begegnung – nicht so sehr aus schlechtem Gewissen, sondern weil er in intensives Nachdenken über die Vereinbarkeit von Liebe, Bewunderung und Sexus verfällt und die daraus resultierende Verwirrung ihm jede vernünftige Beziehung zu dem Mädchen unmöglich macht. Ein solches Maß an Skrupeln spricht für Tuzzis Charakter, die Tatsache jedoch, daß er den Fronleichnamstag dazu benützt, um an der Mutter eines anderen Schulfreundes seinerseits einen erfolgreichen Verführungsversuch vorzunehmen, für sein Talent, erworbenes Wissen zu praktischer Anwendung zu bringen.
Mit 17 Jahren unterbinden gewisse Schwierigkeiten in den Unterrichtsfächern Mathematik, Chemie und Physik die Verfolgung anderweitiger Interessen. Jedoch wird Tuzzi für diese Abstinenz durch einen Sommeraufenthalt bei seinem Onkel, der gerade sein letztes Diplomatenjahr in Tokio hinter sich bringt, glanzvoll entschädigt. Der liberale Onkel läßt es sich angelegen sein, den Neffen mit den Bequemlichkeiten fernöstlicher Liebeskunst bekannt zu machen1, wobei Tuzzi den angstlosen Eros kennenlernt.
Mit 18 Jahren wird Tuzzi von einem verspäteten und darum umso heftigeren Rilke-Infekt befallen und vermeidet infolgedessen auch weiterhin jede Begegnung mit der immer noch geliebten Sylvia, weil er nun wiederum seine Tokioter Erlebnisse nicht in Kongruenz mit ihr zu bringen vermag. – Dann jedoch wird es Mai, und die Matura