Die große Hitze. Jörg Mauthe

Die große Hitze - Jörg Mauthe


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das Mädchen Sylvia da, und es geschieht das, was sonst nur in Jünglingsträumen geschieht: Sie geht geradeaus auf Tuzzi zu und macht einen kleinen Knicks vor ihm, und die kleine Musikergruppe hebt zu spielen an, und wenn sie auch keine Sarabande spielen, sondern den Blacksmith-Boogie und Tuzzi kein besonders guter Tänzer ist – an diesem Abend hat er Flügel und schwebt wie auf Wolken dahin. Im Park unten küßt er sie dann. Und sie hat überraschenderweise ganz kühle Lippen.

      19-22jährig: Tuzzi und Sylvia besuchen gemeinsam die juridische Fakultät der Universität Wien. Es vergehen drei Jahre einer ebenso totalen wie verwirrten Glückseligkeit, in der die Begriffe der Rechtswissenschaft und die Worte der Liebe ganz und gar durcheinandergeraten; Bett und Hörsaal, Rigorosum und Liebkosung, Kelsen und van de Velde, die Paragraphen des ABGB und des Kamasutra, römisches Recht und Eros purzeln bunt und leidenschaftlich durcheinander. Tuzzi ist schwindlig vor Glück.

      Als er 22½ Jahre alt ist, teilt ihm Sylvia mit, daß sie einen von Tuzzi bisher nur als wesenlosen Schatten im Hintergrund seines Glücks wahrgenommenen Tierarzt aus Kaltenleutgeben heiraten wird. – Tuzzi macht die Erfahrung, daß die alte Redewendung vom Herzen, das zu zerbrechen droht, eine Realität beschreibt. Sein Herz tut ihm tatsächlich zum Zerreißen weh. Die Welt wird von einem Tag zum anderen ein Hades, in dem sich Schatten stumm von ihm abwenden. Zwei volle Jahre lang leidet er sehr, umso mehr, als er nach dem Tode seines Onkels keinen Menschen hat, dem er sich mitteilen könnte, denn natürlich hat er in den Tagen der Verliebtheit keine Freunde gesucht. Diese Einsamkeit kommt jedoch dem Studium zugute, mit dem er sich zu betäuben sucht.

      Mit 25 Jahren steht Tuzzi schon vor der Promotion. Er findet Freunde, unter anderen auch den jungen, seinem Studium mit geringerem Erfolg, aber nobler Lässigkeit obliegenden Trotta, und wird mit ihm lange verbunden bleiben. Der Anblick hübscher Kolleginnen schmerzt ihn allmählich nicht mehr, und endlich bemerkt er sogar, daß zwischen diesen Kolleginnen ein eifriger und mit viel Bosheit geführter Wettstreit um seine Gunst im Gange ist – durchaus verständlich, denn Tuzzi sieht nicht nur gut aus, sondern kann sich als Erbe eines wenn auch nicht übermäßigen Vermögens Maßanzüge und sogar ein Auto leisten. Da ihn seine bitteren Erfahrungen zu einem interimistischen Zyniker gemacht haben, wählt er aus diesem Angebot schließlich eine gewisse Elise, ein ausgekochtes, aber recht attraktives Luder, die vermöge ihres Esprits zu anderer Zeit als Mätresse eines großen Herrn ganz gut Karriere gemacht hätte. Das Verhältnis mit ihr ist libertinös und lustig, und es stört Tuzzi nicht einmal, daß sie im weiteren Verlaufe einen bekannten Staatsanwalt heiratet, von dessen hoffnungsloser Leidenschaft sie sehr amüsante Geschichtchen erzählen kann. Diese Beziehung löst sich erst, als Elise sich von einem dritten, einem Jazz-Klarinettisten, schwängern läßt und ihrem glückseligen Staatsanwalt einen Sohn schenkt. Sie würde ihr Verhältnis zu Tuzzi trotzdem ohne weiteres aufrechterhalten, aber der findet die Sache nun doch etwas unappetitlich und verzichtet höflich.

      Mit 26 Jahren macht Tuzzi seinen Doktor und beginnt seine Laufbahn im Außendienst der Republik, wie es seinem Namen, seiner Neigung und seiner Erziehung entspricht. Von nun an bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr hat er mehrere Liebschaften, Amouren und Verhältnisse, von denen sich jedoch keine als besonders dauerhaft erweist, sehr zu seinem Leidwesen, denn Tuzzi ist ein Mensch mit einer starken, wahrscheinlich durch seine einsame Kindheit bedingten Neigung zu dauerhaften und soliden Beziehungen. Aber er ist auch vorsichtig geworden und stellt unabsichtlich mehr Ansprüche, als die meisten Frauen zu erfüllen bereit oder imstande sind. Die häufigen Auslandsaufenthalte, die der Dienst erfordert, sind dauerhaften Relationen auch nicht gerade günstig; mehr als einmal findet sich der künftige Legationsrat, wenn er von einem Außendienstposten nach Wien zurückkehrt, betrogen oder schon verlassen.

      Als 40-Jähriger, kurz vor dem Beginn dieser Aufzeichnungen, ist Tuzzi Legationsrat Erster Klasse und ein noch junger Mann, den seine Freunde und Kollegen hochschätzen, ein Mensch, der zwar etliche Neider, aber keine Feinde besitzt. Wir haben bereits bemerkt, daß er einem Prinzip, dem der Legitimität und der Kontinuität nämlich, treu und der Welt in einer gewissen erotisch gefärbten Weise zugetan ist, woran keine Erfahrung mehr etwas ändern kann. Die mentalen Zwänge seiner großbürgerlich-elitären Herkunft sowie die Repressionen des herrschenden kapitalistisch-bourgeoisen Klassengeistes hat Tuzzi in einem Ausmaß verinnerlicht, das vielleicht nicht den Beifall jener unserer Leser wecken wird, die sich auf der Höhe des augenblicklichen Zeitgeistes befinden, das wir aber sehr hochachten müssen, denn eben dies wird den Legationsrat Tuzzi in die Lage versetzen, eine für sein Land und also auch uns äußerst bedeutsame, wenn nicht sogar lebenswichtige Leistung zu erbringen.

      Es bleibt nachzutragen, daß Tuzzi seit mehr als zwei Jahren in ein zum erstenmal wieder dauerhaftes Liebesverhältnis zu einer jungen Dame namens Ulrike hineingeraten ist.

      Aber davon später. Wir müssen schleunigst auf den Minoritenplatz zurück, denn länger können wir den Schritt unmöglich verzögern, mit dem der Legationsrat das alte Palais betritt, in dem die Arbeit eines heißen Tages auf ihn wartet.

      1 Dem Verfasser dieser Biographie bleibt der verehrungswürdige Diplomat gleichfalls unvergeßlich – oder wenigstens seine in schönster Ballhausplatz-Nasalität vorgebrachte Mitteilung: »… mir is meine Frau davong’laufen, wissen S’!« Pause. »Ich leb’ schon lang als Junggeselle, wissen S’!« Längere Pause. »Aber, wissen Sie: In Tokio g’spürt man das net so stark …«

      ZWEITES

      HAUPTKAPITEL

      IN WELCHEM DR. TUZZI MITHILFE BEI DER

      VERFERTIGUNG VON GESCHICHTE LEISTET

      Meine Ergebenheit, Herr Legationsrat«, sagte der Portier Karneval und legte grüßend die Hand an die Kappe mit dem breiten Silberband, das ihn als einen den höheren Türsteherrängen der Republik angehörenden Beamten auswies. Herr Karneval war ein Ernster Bibelforscher und vertrat als solcher sehr entschieden die Meinung, daß die herrschende Große Hitze in unmittelbarem Zusammenhang mit der Schlechtigkeit und dem verworfenen Treiben der Menschen im allgemeinen, insonderheit aber der Politiker, hoher Beamter, Journalisten und überhaupt in irgendeiner Weise vorgesetzter Personen stehe; daß die Große Hitze ein nahes Armageddon ankündigte, lag für Herrn Karneval, der täglich die Aussagen des Wetterberichtes mit denen der Apokalypse verglich, auf der Hand, und der Gedanke, daß alle Herrschenden dieser Welt, Legationsräte eingeschlossen, zum Höllenpfuhl verdammt waren, er selbst aber als Gerechter ins Paradies aufsteigen würde, erfüllte ihn mit stiller Zufriedenheit. Aber auch unter dem Entsetzensschall der Gerichtsposaunen würde Herr Karneval Tuzzi nicht anders als in »Ergebenheit« grüßen, und wenn die göttliche Gerechtigkeit ihn dazu verpflichtete, die Glut unter dem Kessel eines zu ewiger Pein verdammten Tuzzi kräftiger anzuheizen – was durchaus in seinem Vorstellungsbereich lag –, würde er auch das nicht ohne ein submisses »Gestatten ergebenst« tun, denn das ist nun einmal die Anrede, die ein Portier einem Legationsrat Erster Klasse schuldig ist.

      Der Mensch kann sich offenbar auch die Hölle nicht ganz ohne Regeln und Regulation vorstellen – vom Paradiese ganz zu schweigen. Und solcherart bietet der Portier Karneval einen schönen Beweis dafür, daß das in uns tief verwurzelte Ordnungsbedürfnis bis zu den Letzten Dingen hinein und hinüber reicht.

      »Kompliment, Herr Doktor«, sagte hingegen der Ministerialrat Haberditzl, der stets als erster im Amte war, die Morgenpost bereits gelesen hatte und sich nun, die amtliche »Wiener Zeitung mit dem Amtsblatt« in der Hand, auf dem Wege zur Toilette befand. Er war im Range dem Legationsrat gleichgestellt und überdies der Ältere, hätte also ohne weiteres den Gruß Tuzzis abwarten und sich dann mit einem freundlichen »Grüß’ Sie Gott, Herr Kollege« revanchieren können; daß er dies nicht tat, sondern als erster und noch dazu mit einer verhältnismäßig subalternen Formel grüßte, hatte seine Ursache darin, daß er Tuzzi erstens mochte und ihm zweitens im Hinblick auf dessen höheren Intellekt und akademischen Grad freiwillig eine gewisse Überlegenheit einräumte. Der Legationsrat, der seinerseits den Ministerialrat Haberditzl sehr schätzte, bedankte sich infolgedessen, wie allmorgendlich, mit einem solennen »Respekt, Herr Ministerialrat!«, obwohl an sich ein »Kompliment meinerseits!« auch genügt hätte.


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