Die große Hitze. Jörg Mauthe
Herr Brauneis!« antwortete Tuzzi und trat ein. Und obwohl er dicht an Brauneis vorüberschritt, bewegte er sich dabei doch in einem Abstand von geradezu interstellarer Dimension an ihm vorbei, denn jenes »Habe die Ehre!« und dieser schmucklose »Morgen!« markierten die äußersten Positionen der bis ans Unendliche heranreichenden Stufenleiter bürokratisch-hierarchischen Denkens2.
»Die Akten vom Herrn Ministerialrat bring’ ich dann herüber, wenn’s recht ist«, sagte Brauneis.
»Ist schon recht«, sagte Tuzzi, der es mit der Vertiefung in die Twarochschen Agenden wirklich nicht eilig hatte.
Um Punkt halb neun also betrat der Legationsrat das kleine Vorzimmer seines Amtsraumes, stellte enttäuscht fest, daß seine Bürodame auch heute nicht erschienen war (weil sie sich einen Urlaubstag oder Ausgleichsfreizeit genommen hatte oder weil sie an einer der vielen derzeit grassierenden Hitzemaladien litt oder aus irgendeinem anderen zutreffenden oder schwer widerlegbaren Grund; die Arbeitsmoral des Büropersonals ließ in letzter Zeit erschreckend nach), öffnete sodann die gepolsterten Türen zum Arbeitszimmer und sah auf seinem Schreibtisch tatsächlich schon das gelbe, zweifach versiegelte und mit den roten »Vertraulich!«- und »Persönlich!«-Klebemarken versehene Kuvert, in dem zweifellos die stenographische Mitschrift der gestrigen Ministerratssitzung steckte.
Tuzzis Stimmung pendelte sich, besänftigt von den ruhigen Gesetzmäßigkeiten des Hauses und beruhigt durch das vertraute Ambiente seines Zimmers, rasch auf das Normalmaß der bedächtigen Selbstverständlichkeit ein. Der moralische Schwächeanfall, den er vorhin im Hofburgdurchgang gehabt hatte, erschien ihm jetzt unbegreiflich, und der Gedanke daran beschämte ihn so sehr, daß er beschloß, eine kleine Buße dafür auf sich zu nehmen und sein Tagwerk nicht wie sonst mit der ersten Zigarette, sondern mit der sofortigen Übertragung des Ministerratsprotokolls zu beginnen.
Diese Arbeit gehörte zu den wichtigsten Pflichten, die der Legationsrat im Rahmen des Interministeriellen Komitees für Sonderfragen übernommen hatte, denn natürlich war hier nicht einfach eine stenographische Niederschrift in allgemein lesbare Schreibmaschinzeilen zu transponieren, sondern in der Tat eine wahre Übersetzung vorzunehmen, indem man das Protokoll von allen Zufälligkeiten, Subjektivitäten und Aktualitätsbezügen aufs gründlichste reinigte und das Übrigbleibende so lange einem veredelnden Abstraktionsprozeß unterzog, daß es am Ende, von allen menschlichen Schlacken gereinigt, unbesorgt veröffentlicht beziehungsweise im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zum Nutzen späterer Geschichtsschreibung abgelegt werden konnte.
Eine schwierige und außerordentlich verantwortungsvolle Aufgabe also, die jedoch dem mit ihr Befaßten den Respekt seiner Kollegen und selbst Vorgesetzten sicherte.
Tuzzi spannte einen Bogen ein und schrieb in großen Lettern »PROTOKOLL DER MINISTERRATSSITZUNG« als Titel an den oberen Rand, setzte das Datum des Tages hinzu und machte sich an die Entzifferung der Kürzel des (ihm übrigens unbekannten) Bundeskanzleramtsstenographen.
»Begrüße Sie, Damen und Herren«, sagte der Kanzler munter. Er führte wie üblich den Vorsitz und war das einzige Regierungsmitglied, dem die Hitze offenbar bisher nichts anhaben konnte; gegen seine schon leicht verwelkten Minister wirkte er wie eine frische, wenn auch bereits bis zum Platzen angeschwollene Rosenknospe. »Ist wieder eine Mordshitz’ heut’. Alsdern, Herrschaften – was gibt’s schlechts Neues?«
Der Legationsrat übersetzte routiniert: Der Herr Bundeskanzler begrüßte die vollzählig erschienenen Mitgliederdes Kabinetts und gab sodann einen kurzen Überblick über die Lage aus seiner Sicht. Hierauf ersuchte er die Ressortchefs, sich zu anstehenden Problemen zu äußern.
»Alsdern, Herr Außenminister – wie war’s denn in Brüssel?«
»Kühl und regnerisch«, sagte der Außenminister. »Ausgesprochen erholsam.«
Die anderen Minister blickten genauso neidisch, wie der Außenminister es sich erhofft hatte. Er war Karrierediplomat, katholisch bis in die Knochen und verachtete seine sozialistischen Ministerkollegen zutiefst.
»Und was tut sich in der Ewege?« fragte der Kanzler.
»Das Übliche«, sagte der Außenminister, »die Franzosen mögen die Deutschen nicht und die Engländer schon gar nicht. Die Engländer mögen die Franzosen nicht und die Deutschen auch nicht. Die Italiener kümmern sich um gar nichts, mögen aber weder die Deutschen noch alle anderen.«
»Und die Holländer und die Belgier?«
»Weiter nichts, außer daß sie die Deutschen nicht mögen.«
»Hm, hm«, sagte der Kanzler. »Und die Deutschen?«
»Sind unglücklich, weil sie nicht und nicht dahinterkommen, warum keiner sie mag.«
»Hm, hm«, sagte der Kanzler. »Und wir?«
»Gott«, sagte der Außenminister, »was interessieren uns die Franzosen oder die Engländer? Wir lieben halt alle und damit habeat.«
»Auch die Deutschen?« fragte der Kanzler.
»Da gibt es in den gegenseitigen Beziehungen keinerlei Probleme«, sagte der Außenminister, der wirklich ein Diplomat von hohem Range war.
»Möcht’ wissen, warum wir damals in diese Ewege-G’schicht’ überhaupt hineingetreten sind!« sagte der Bundeskanzler grübelnd. »Wir hätten denen einen aktiv-neutralen Präsidenten anbieten sollen oder sowas, das hätt’ vielleicht auch genügt. Warum sind wir wirklich nach Brüssel gegangen?«
»Wegen der Mehrwertsteuer«, erinnerte der Finanzminister so kühl, als es ihm unter den gegebenen Wetterbedingungen eben möglich war; kühl zu antworten gehörte ja zu seinem Image. »… Anpassung an europäische Maßstäbe und so.«
»Die Steuer hätten wir anderswie auch zusammengebracht«, knurrte der Kanzler, »wegen dem …?!«
»Ich darf daran erinnern«, schaltete sich der Außenminister verbindlich ein, »daß du, verehrter Herr Kanzler, dazumals auf der Ewege-Assoziierung hauptsächlich deswegen bestanden hast, weil die Russen gar so dagegen waren.«
»Ach ja, richtig«, sagte der Kanzler versöhnt. »Mein Gott, die Zeit vergeht. Na ja, man konnt’ sich von denen auch nicht alles bieten lassen, nicht wahr? Man hat ja eine Würde, schließlich, eine nationale, mein’ ich.«
Die führende Schweizer Zeitung hat schon recht gehabt, dachte der Legationsrat Tuzzi, als sie den Kanzler den »Doyen der europäischen Realpolitik« nannte. Diese scharfe, ja geradezu dynamische Erfassung der Wirklichkeit! Diese bewunderungswerte Souveränität! Wie lautete doch die Antwort auf die populäre Scherzfrage, was wohl geschehen würde, wenn man diesen Kanzler in die Wüste schickte? – »Eine Weile g’schehert gar nix. Und dann würdert der Sand teurer!« In der Tat, das Volk hatte ein gutes Gefühl für die Größe dieses Mannes! Schade, daß man solche Dinge nicht wenigstens als illustrative Anmerkung ins Protokoll nehmen konnte; aber vom Standpunkt ernsthafter Historienschreibung aus waren sie natürlich belanglos. Und also schrieb er: Der Herr Außenminister gab einen kurzen, fundierten Bericht über die internationale Lage unter besonderer Berücksichtigung der Stellung Österreichs im Rahmen der europäischen Gemeinschaften. Der Bericht wurde vom Ministerrat zur Kenntnis genommen.
»Frau Wissenschaftsminister«, sagte der Kanzler, »darf ich dich um die Liebenswürdigkeit bitten, die Situation in deinem Ressort …«
»Mich laß in Ruh«, sagte die Ministerin, »ich hab’ Kopfweh. Ich vertrag’ diese Hitz’ nicht. Ich hab’ seit Tagen nicht geschlafen. Und nächste Woche fahr’ ich nach Schweden.«
»Zu was?« wollte der Unterrichtsminister wissen, der ressortbedingt auf die Aktivitäten des Wissenschaftsministeriums etwas eifersüchtig war.
»Um die kulturellen Beziehungen zu vertiefen«, sagte die Wissenschaftsministerin. »Vielleicht schaut ein Kulturaustauschabkommen dabei heraus oder so.«
»Seit wann haben wir denn mit denen kulturelle Beziehungen?« erkundigte sich der Bautenminister interessiert, obwohl ihn das gar nichts anging.
»Mindestens