Adel verpflichtet. Martina Winkelhofer

Adel verpflichtet - Martina Winkelhofer


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Leben auf dem Schlachtfeld. Aus diesem Grund wurde die Geburt einer kleinen Prinzessin stets genauso freudig begrüßt wie jene ihrer Brüder. Erst wenn sich nach einigen Mädchengeburten noch immer kein Sohn einstellte, begannen die Familien nervös zu werden. Umgekehrt wurde aber in vielen Familien nach der Geburt von einigen Buben ein Mädchen geradezu herbeigesehnt.

      Nicht zuletzt war die wirtschaftliche Stellung des Adels mit ein Grund, warum – etwa im Gegensatz zum Bürger- oder Bauernstand – die Geburt von Mädchen keinerlei Problem darstellte. Im Gegensatz zum Großteil der Bevölkerung besaß die Aristokratie schlicht und einfach die finanziellen Mittel, um sogar mehrere Mädchen nicht nur zu ernähren, sondern auch ordentlich auszustatten, so dass sie durch eine Heirat auch gut versorgt wurden.

      Die Beziehung der Erwachsenen zu ihren Kindern war im 19. Jahrhundert wesentlich enger als je zuvor – vor allem innerhalb der Aristokratie. Seit dem Biedermeier und dem damit verbundenen, gefühlsbezogenen Familienideal war die Eltern-Kind-Beziehung deutlich liebevoller und fürsorglicher. Gab es innerhalb des Adels noch im 18. Jahrhundert einen starken Abstand zwischen Eltern und Kind, so wuchsen kaum hundert Jahre später die Kinder in einem fast schon bürgerlich zu nennenden familiären Netz auf. Zwar wurden die Kinder der Aristokratie weiterhin von Kindermädchen und Gouvernanten betreut und später von Hauslehrern erzogen, doch fand nun alles unter der Aufsicht und Einbindung der Eltern statt. Die Erziehung wurde nicht mehr komplett dem Personal überlassen, sondern von den Eltern gelenkt und überwacht. Sorgfältig wählten sie das geeignete Betreuungs- und Erziehungspersonal aus und versuchten auch – in den meisten Fällen – auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder einzugehen.

      Einzelne Familien waren derart interessiert an den neuesten Erkenntnissen der Kindererziehung, dass sie für ihre Zeit geradezu fortschrittlich waren, zumindest wesentlich fortschrittlicher als das Bürgertum, das an althergebrachten, starren Konventionen stärker festhielt als manche Teile des Adels. Die Bibliothek des Fürsten Karl Liechtenstein etwa, dem nicht nur die Ausbildung, sondern auch die psychische Entwicklung seiner Kinder am Herzen lag, zeugt von seinem besonderen Interesse für die frühe Pädagogik. Sein Bibliotheks- und Ankaufskatalog belegt, dass in großer Zahl Werke über die gesunde emotionale und geistige Entwicklung von Kleinkindern angekauft wurden.1

      Die Aristokratin des 19. Jahrhunderts gab ihre Kinder nach der Geburt nicht mehr sofort in die Obhut des Personals, um schnellstmöglich ihre Rolle in der Gesellschaft und bei Hof wieder einzunehmen. Säuglinge blieben bei der Mutter, die sich in der Regel für die Entwicklung des Kindes interessierte. Schwangerschaft, Säuglingspflege und die Sorge um das Neugeborene waren oft bis ins kleinste Detail berichtenswerte Themen – in der Familienkorrespondenz ebenso wie in Tagebüchern. Fehl- oder Totgeburten, schwere Krankheiten von Säuglingen und Kleinkindern wurden als größter Schicksalsschlag betrachtet, der einer jungen Familie passieren konnte. Dementsprechend oft und intensiv wurde darüber korrespondiert, im engsten wie auch weiteren Familien- und Bekanntenkreis. Schon zu Beginn der Schwangerschaft wurde erwartet, dass Frauen alles zum Wohl ihres Kindes taten und von allem Abstand nahmen, was ihm schaden könnte. Verhielt sich eine werdende Mutter ungünstig oder gar schädlich für ihr ungeborenes Kind, wurde dies eifrigst kommentiert und weitererzählt.2

      Eine Aristokratin mit Neugeborenem, um 1900.

      Bei aller liebevoller Umsorgung durch die Eltern, vor allem die Mutter, waren die Mädchen der Aristokratie doch auch von klein auf von mehreren Bezugspersonen umgeben. Die ersten Kontakte bildeten die Ammen, die man sogar aufnahm, wenn die Mutter selbst stillte (was sich auch im Adel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr durchzusetzen begann). Meist entschied man sich für Ammen aus der Umgebung der eigenen Herrschaften, womit ein Bezug zu Herkunft hergestellt wurde. Familien, deren Stammschlösser in Böhmen oder Mähren lagen, entschieden sich für tschechische Ammen, die den Kindern oft noch in den ersten Lebensjahren als Bezugsperson erhalten blieben.

      Gleichzeitig mit der Amme wurde ein Kindermädchen eingestellt, das meist über Empfehlung von Verwandten zur Familie stieß. Kindermädchen betreuten oft über mehrere Jahrzehnte die Kinder verschiedenster Generationen einer adeligen Familie. Üblicherweise blieb das Kindermädchen nicht nur stundenweise bei seinem Schützling, sondern den ganzen Tag. Wie eng und intensiv dieser Kontakt war, hing von der individuellen Mutter-Kind-Beziehung ab. Wo sich die Mutter stärker einbrachte, die Kinder öfter sah, war deren Verhältnis zum Kindermädchen lockerer als in Fällen, in denen die Mutter mehr gesellschaftliche Pflichten übernahm.

      Die Qualität der Kinderbetreuung variierte völlig. Manche Kinder hatten Kinderfrauen, die fast schon pädagogisch zu nennende Erziehungsmethoden anwandten und sich in Kinderseelen einfühlen konnten. Andere wiederum berichteten später von Kinderfrauen, deren Verhalten fast schon grausam zu nennen war und oftmals die Würde der Kinder verletzte.3 Über die – heute wissenschaftlich erwiesene – Bedeutung der ersten Lebensjahre für die spätere Entwicklung eines Kindes wusste man noch nicht Bescheid. Doch die Aufzeichnungen vieler Aristokraten enthalten auch Erinnerungen an einen schlechten Umgang des Betreuungspersonals mit seinen Schützlingen, die zeigen, dass schlechte Kindheitserfahrungen definitiv bis ins hohe Alter präsent blieben.

      Gräfin Kaunitz mit ihren Kindern, um 1860.

      Es gab jedoch auch Betreuungspersonal, das derart in seiner Arbeit und der Familie aufging, dass daraus Freundschaften für das gesamte weitere Leben entstanden. Das englische Kindermädchen der gräflichen Familie Wilczek wurde etwa die beste Freundin der Hausfrau und verbrachte, auch nachdem alle Kinder erwachsen waren, bis zu ihrem Tod im Alter von neunzig Jahren jeden Sommer gemeinsam mit der Familie – war also im Lauf der Jahrzehnte zu einem Familienmitglied geworden.4

      Kinder stellten den größten Wert einer Familie dar und waren der ganze Stolz ihrer Eltern und Großeltern. Zwar war die Sicherung des Weiterbestandes der Familie durch männliche Erben weiterhin wichtig, doch wurden Kinder immer weniger ausschließlich als Stammhalter betrachtet. So lieb und teuer die Kinder ihren Eltern auch waren – einen großen Unterschied gab es zu heute: Die Kinder standen nicht im Mittelpunkt des familiären Lebens. Ein kindzentriertes Familienleben wie heute, bei dem die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes die Lebens- und Freizeitgestaltung der Eltern bestimmen, kannte man nicht; man hätte es auch nicht als positiv für das Kind empfunden. Kinder hatten sich der Lebenweise ihrer Eltern, das heißt der Erwachsenen anzupassen, in die sie wie selbstverständlich hineinwuchsen. Sie wurden zu vielen Ereignissen erst hinzugezogen, wenn sie alt genug waren, an gemeinsamen sozialen Aktivitäten teilzunehmen, ohne Umstände oder Peinlichkeiten zu verursachen.

      So durften Mädchen wie Buben am Familientisch erst Platz nehmen, wenn sie über ein Mindestmaß an Tischmanieren verfügten. Selbst Mittag- und Abendessen im engsten Familienkreis fanden in den meisten Fällen ohne Kinder statt, denn diese aßen meist in ihren eigenen Räumen gemeinsam mit ihrem Erziehungspersonal. Waren Kinder dann ab einem gewissen Alter bei Tisch geduldet, durften sie selbstverständlich von sich aus niemals ein Gespräch beginnen und nur reden, wenn ihnen Fragen gestellt wurden. Diese Verhaltensregel galt für sie manchmal bis in die Pubertät hinein. Ein Aristokrat, der in seiner Jugend jeden Sonntag bei seiner Großtante – einer geborenen Prinzessin Liechtenstein – aß, erzählte von diesen Essen, an denen stets auch der Bruder der Tante, der später regierende Fürst Liechtenstein, teilnahm: »Die Konversation zwischen dem Geschwisterpaar war sehr angeregt, ich hingegen war mehr (oder) weniger Luft. Wenn ich (mich) aber einzuschalten trachtete, war ein erstauntes Heben der Augenbrauen die einzige Reaktion auf meine schüchtern vorgebrachten Geistesblitze.«5

      Ein Kindermädchen (hier der Familie Kinsky). Kindermädchen, von denen manche zu Familienmitgliedern wuchsen, hatten eine wichtige Rolle im Leben der Kleinen, 1905.

      Gespräche oder gar Tischgespräche mit den Erwachsenen blieben für Kinder stets erwähnenswerte Ausnahmen. Wurden sie einmal ins Gespräch gezogen,


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