Adel verpflichtet. Martina Winkelhofer

Adel verpflichtet - Martina Winkelhofer


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Regel: So erzählt Alfons Clary-Aldringen in seinen Lebenserinnerungen, seine Mutter habe die Kinder so oft wie möglich zu Tisch geholt, weil sie jede Minute mit ihnen verbringen wollte.6 Die Tatsache, dass dieses Verhalten erwähnenswert war, zeigt auch, dass es eher unüblich war.

      Kinderidyll im Park, 1905.

      Zu gesellschaftlichen Veranstaltungen im Elternhaus wurden Kinder niemals hinzugezogen. Weder abends bei Soireen oder Diners noch nachmittags bei den Tees oder Salontagen waren Kinder anwesend. Fand ein Hausball statt, durften sie maximal bei den Vorbereitungen zusehen, freilich nur, wenn sie weder den Ablauf störten noch die eigenen Lernstunden schwänzten. Fürstin Nora Fugger in ihren Erinnerungen: »An allen diesen schönen Dingen durften wir Kinder nicht teilnehmen. Wir wurden in dieser Hinsicht außerordentlich streng erzogen. Nur selten kam es vor, dass wir den Salon betreten durften, wenn Gäste anwesend waren.«7

      Ein Kinderleben in der Aristokratie war strengen Erziehungsregeln unterworfen. Die Autorität der Eltern und Großeltern musste hochgehalten und Disziplin und Gehorsam von klein auf gelernt werden. Die Erziehung war nach heutigen Maßstäben sehr streng. Körperliche Züchtigung galt als normal, Buben wurden nicht selten ausgepeitscht. Auch Mädchen wurden bestraft: Die einfachste Strafe war das Verbot von Süßigkeiten, jedoch waren auch sanfte Schläge gang und gäbe, und Einsperren stand auf der Tagesordnung. Bei größeren Kindern zeigte sich nicht Züchtigung, sondern Liebesentzug als probates Mittel, sie gefügig zu machen.8

      Gräfin Auguste Desfours-Coudenhove und Kinder. Bis zum Alter von einem Jahr trugen sowohl Mädchen als auch Burschen Kleidchen, um 1883.

      In der Kinderstube, der Erziehung der Krabbel- und Kleinkinder, wurden Mädchen und Buben noch gemeinsam betreut, meist ausschließlich von Kinderfrauen und Kammermädchen. Erst mit Beginn des Unterrichts wurden sie nach Geschlecht getrennt. Die ersten Jahre wurden alle Kinder zu Hause von Hauslehrern erzogen, danach schickte man zumindest die Buben öfter in Pensionate – gegen Ende der Monarchie – in öffentliche Gymnasien. Mädchen wurden fast immer zu Hause erzogen, nur in Einzelfällen besuchten sie untertags katholische Schulen.

      Die Erziehung der heranwachsenden Mädchen der Aristokratie war ganz auf ihr künftiges Leben als Ehefrau, Mutter und Gesellschaftsdame ausgerichtet. Sie mussten lernen ein tadelloses Heim zu führen, schöne Blumenarrangements zu erstellen, Klavier zu spielen und geschmackvolle Handarbeiten herzustellen. Auch Fremdsprachen sollte ein Mädchen beherrschen, vor allem Französisch musste sie tadellos sprechen. Bei der Erziehung der Mädchen galt die Herausbildung einer Charaktereigenschaft als besonders wichtig: die Herzenswärme. Mädchen sollten mitfühlend, gütig und bescheiden sein und sich nicht in den Vordergrund drängen.

      Standesgemäß erzogen im ursprünglichsten Sinn wurden die Kinder durch das lebende Beispiel ihrer Eltern – indem sie beobachteten und nachahmten, was diese ihnen vorlebten. Durch »Vorleben« erfolgte auch die Herausbildung eines aristokratischen Habitus; weniger durch gezielte Erziehung. Was die Kinder an angemessenen Grußformeln, ordentlicher Aussprache und geistvoller Konversation hörten, übernahmen sie automatisch, so dass die aristokratische Kultur wie selbstverständlich von einer Generation auf die nächste weitergegeben wurde. Dieses soziale Herkunftskapital war der eigentliche »Mitgliedsausweis« in der Aristokratie. Es konnte weder im Nachhinein erworben werden, noch war es an Besitz und Reichtum gebunden. Selbst der mittelloseste Aristokrat war aufgrund dieser typischen – und allen gemeinsamen – Erziehung ein gleichberechtigtes, von allen akzeptiertes Mitglied seines Standes. Während der noch so reiche Industrielle, dessen Lebensstil oft nicht nur dem eines vermögenden Aristokraten entsprach, sondern diesen noch in den Schatten stellte, durch das Fehlen dieses sozialen Grundkapitals sofort als nicht zugehörig auffiel. Aufsteigerfamilien brauchten mindestens zwei Generationen, um jene Selbstverständlichkeit im Umgang miteinander zu erwerben, die nur von Eltern an Kinder weitergegeben werden konnte.

      Der Tagesablauf der Mädchen war sehr genau und pünktlich eingeteilt – jede Abweichung von dieser Norm wurde von den Kindern daher als angenehmes Ereignis begrüßt. In der Früh gab es immer ein einfaches Frühstück, gemeinsam mit den Erziehern. Nach den Lernstunden folgte ein kurzes Mittagessen, meist ebenfalls nur im Kreis des Erziehungspersonals. Danach gab es Zeichen- und Klavier-, eventuell Gesangsstunden sowie Stunden, die der Handarbeit dienten. Am Nachmittag ging man spazieren, was die Kinder zumeist als »fade« empfanden.9 Begeistern konnten sie sich allenfalls für Spaziergänge während der winterlichen Wien-Aufenthalte, denn diese führten entlang der Ringstraße – und Ringstraßenspaziergänge waren damals ein auch von Erwachsenen goutiertes Freizeitvergnügen. Jeder, wirklich jeder zeigte sich auf »dem Ring«, vom Offizier bis zum Bürger, vom Aristokraten bis zur Bürgersfrau. Bekannte Burgschauspieler und Opernsänger flanierten den Prachtboulevard entlang – das Motto hieß: »sehen und gesehen werden«. Die Kinder, die Lebhaftigkeit der Großstadt bestaunend, gingen artig in ihren Matrosenkleidchen neben den Gouvernanten. Im Winter durften die Kinder in Wien auch eislaufen gehen, eine bei Alt und Jung beliebte Sportart des Adels.10

      Auf »natürlichen« Umgang mit den Standesgenossen wurde von klein auf großer Wert gelegt. In diesem Sinne erhielten die Mädchen schon im Kindesalter kleine, altersgerechte gesellschaftliche Aufgaben. An Sonntagen durften schon die jüngsten Mädchen ihre Freundinnen, die Töchter anderer Aristokratinnen, zur Jause einladen. Auch die Buben hielten ihre traditionellen »Bubenjausen« ab, zu denen sie ihre gleichaltrigen Freunde einluden.11

      Prinz Ferdinand Kinsky mit seinen Kinder beim täglichen Spaziergang, 1906.

      Ebenfalls von klein auf erhielten die Mädchen Tanzstunden, meist gemeinsam mit ihren Brüdern oder Cousins. Sobald die Mädchen einige kleine Tänzchen beherrschten, arrangierte die Mutter Kinderbälle, zu denen die Kinder anderer Adelsfamilien eingeladen wurden. Ein Klavierspieler sorgte für die Musik, zu der die kleinen Mädchen und Buben miteinander tanzten. Den Abschluss eines solchen Kinderfestes bildete eine Jause mit Tee und Süßigkeiten.12 Diese Kinderbälle waren nicht nur dazu gedacht, den Mädchen eine Unterhaltung zu bieten. In erster Linie sollten sie sich von klein auf an die Notwendigkeit gewöhnen mit ihresgleichen zusammenzusein, ungezwungen Konversation zu führen und, dies vor allem, als Gastgeberin ihren Pflichten in der Gesellschaft nachzukommen – freilich zunächst auf kindgerechter Basis.

      Mit anderen Kindern als jenen der Aristokratie kamen die Mädchen und Buben niemals zusammen. Da die Aristokratie streng darauf achtete, dass es ja keine Vermischung mit der »Zweiten Gesellschaft«, der Gesellschaft der Ringstraßenbarone und Industriellen gab, wurde selbst den Kindern ein Zusammentreffen mit Nicht-Aristokraten untersagt. Graf Ferdinand Wilczek berichtet, dass seine Gouvernante, die sehr eigenständig agieren durfte, mit ihm und seinen Geschwistern öfters ins Cottage-Viertel fuhr, um dort die Kinder der Familie Des Renaudes zu besuchen, mit deren Nurse sie befreundet war. Die Mutter seiner Freunde war eine geborene Frau Waerndorfer, Schwester des Industriellen Fritz Waerndorfer, der mit seinem Reichtum die Gründung der Wiener Werkstätten ermöglichte. Die Waerndorfer-Renaudes waren reiche und angesehene Mitglieder der Zweiten Gesellschaft – doch als die Mutter Ferdinand Wilczeks von diesen Besuchen erfuhr, verbot sie sie sofort. Die Kinder von Industriellen waren eben keine standesgemäßen Spielgefährten für kleine Aristokaten.13

      Zwei Mädchen, um 1906.

      Die individuellen Kleidungswünsche kleiner Mädchen blieben völlig unberücksichtigt, ja, man nahm sie nicht einmal zur Kenntnis. So waren die kleinen Mädchen der Aristokratie alle gleich gekleidet. Über einem Baumwollkleid trugen sie eine Schürze mit Latz und Rüschen. Wochentags waren die Kleidchen dunkel, an Sonn- und Besuchstagen aber hell. Kleine Stiefelchen, zu denen sie derbe Strümpfe trugen, galten als einziges Schuhwerk für den Alltag. Die Kleider waren knielang,


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