Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit. Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit - Marie  Brennan


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Fowler streckte eine Hand aus, und nach einem Augenblick der Verwirrung wurde Eliza klar, was die Frau wollte. Sie versuchte, selbstbewusst zu wirken, und reichte der Haushälterin ein Blatt Papier aus ihrer Tasche.

      Sie achtete darauf, nicht die Luft anzuhalten, als die Frau es stirnrunzelnd durchlas. Dieses Papier zu bekommen und das ordentliche Kleid, das sie trug, hatte sie alles gekostet, was sie gehabt hatte: jeden ersparten Penny und jeden Gefallen, den sie von Freunden in Whitechapel noch einfordern konnte. Sich auf die Stellung eines Hausmädchens im Haushalt von Mrs. DiGiuseppe zu bewerben, war eine ganz einfache Angelegenheit gewesen. Niemand, der sich auf ein einzelnes Mädchen für alles verlassen musste, konnte sich erlauben, bei der Qualität der Bediensteten, die sie anwarb, sehr wählerisch zu sein.

      Aber das war das East End von London gewesen, voll von Italienern und Laskaren und Juden, weniger voll von Respektabilität. Hier war das West End, und es hätte ebenso gut eine völlig andere Stadt sein können.

      Eine Stadt voller Privilegien, Status und vor allem Reichtum.

      Nach dem, was sie aus dem Klatsch mit anderen Bediensteten erfahren hatte, hatte der vorherige Mr. Kittering mit Eisenbahnaktien ein kleines Vermögen gemacht, und sein Sohn hatte es durch kluge Investitionen in ein sehr großes verwandelt. Dann hatte er die Tochter eines Mannes geheiratet, der exotische Güter aus Japan importierte, und das hatte ihren Reichtum gesichert. Sie waren genau die Art von Emporkömmlingen, die Klatsch anzogen – sowohl von der neidischen Art von jenen, die sich nach Geld sehnten, als auch von der verächtlichen Art von jenen, die darauf beharrten, dass keine Menge an Geld eine gute Abstammung ersetzen konnte.

      Es war nicht schwer zu erraten, warum Miss Kittering – die jüngste von sechs Kindern und die Einzige, die noch unverheiratet war – heimlich zu Treffen der Londoner Feengesellschaft gehen musste. Reichtum hatte ihre Mutter. Eine gute Abstammung konnte sie nicht kaufen. Das ließ die Respektabilität als finalen Bestandteil eines idealen Lebens übrig, und Mrs. Kittering jagte mit allem, was in ihrer Macht stand, nach Respektabilität.

      Was Eliza vor gewisse Schwierigkeiten stellte. Die einfachste Möglichkeit, Miss Kittering im Auge zu behalten, wäre es, als Dienstmädchen in den Haushalt einzutreten. Um das zu tun, brauchte sie jedoch ein Zeugnis von ihrer vorherigen Arbeitgeberin. Mrs. DiGiuseppe war eine recht nette Person gewesen, aber ihre Empfehlung würde Eliza hier nicht helfen. Die Worte einer Italienerin aus dem East End würden wahrscheinlicher dafür sorgen, dass sie auf der Stelle hinausgeworfen würde.

      Zu ihrem Glück schaffte es der Kittering-Haushalt nicht für Geld und gute Worte, Hausmädchen zu halten. Wie es schien, war Mrs. Kittering das Problem. Sie war eine schreckliche Hausherrin, feuerte ständig Hausmädchen wegen lächerlicher Verfehlungen, und jene, die sie nicht feuerte, kündigten und suchten sich eine andere Stellung. Hätte Eliza aus gewöhnlichen Gründen nach Arbeit gesucht, hätte sie sich hier niemals beworben. Aber sie musste nur eine kurze Zeit im Kittering-Haushalt verbringen, und die schnelle Fluktuation bei den Angestellten machte die Haushälterin verzweifelter in ihrer Angestelltenwahl, als sie es sonst wohl gewesen wäre.

      Das hoffte Eliza zumindest. Das Empfehlungsschreiben in Mrs. Fowlers Händen war gefälscht. Falls sie die Art vernünftige Haushälterin war, die den vorherigen Arbeitgeber besuchte, um persönlich nachzufragen, würde sie die Lüge bald entdecken. Aber sicher kann sie so viel Zeit nicht entbehren, nicht, wenn sie so oft neue Leute anstellt.

      Mrs. Fowler schniefte und drehte das Blatt um, als würde sie erwarten, dass es über die Moral, Ehrlichkeit, Sauberkeit, Fähigkeit, Laune und Gesundheit eines guten Hausmädchens mehr zu sagen geben sollte. »Elizabeth White«, sagte sie. Als Elizabeth nickte, schüttelte sie den Kopf. »Hier wirst du das nicht sein. Die Chefin trauert immer noch um Hannah – das einzig gute Hausmädchen, das sie je hatte – und sieht nicht ein, warum sie den Namen eines neuen Hausmädchens lernen sollte. Wenn du hier arbeitest, bist du Hannah. Wie oft gehst du in die Kirche?«

      Eliza war seit letztem Oktober nicht bei der Messe gewesen, aber sie vermutete, dass »niemals« ein willkommeneres Wort aus ihrem Mund wäre als »Messe«. Mrs. Fowler war laut den Gerüchten eine überzeugte Protestantin. »Wann immer ich kann«, sagte sie, »sofern es die Arbeit erlaubt. Ich lese abends in meiner Bibel, wenn ich nicht in die Kirche gehen kann.« Warum habe ich das gerade gesagt? Ich werde mir niemals eine Bibel leisten können.

      Aber das ließ Mrs. Fowler zufrieden wirkten. »Wie würdest du ein seidenes Taschentuch waschen?«

      Mrs. DiGiuseppe hatte nie ein solches Ding besessen. »Vorsichtig«, sagte Eliza und versuchte, sich auszudenken, was sinnvoll wäre. »Ich würde … äh … es eine Weile einweichen lassen und sehen, ob das den Schmutz entfernt, und falls nicht … äh … vielleicht alle Flecken mit meinen Fingern schrubben …«

      Der zufriedene Blick verschwand. Es gab eindeutig Geheimnisse beim Waschen von seidenen Taschentüchern, die Eliza nicht kannte. »Und das Rezept für Stärke?«

      Jetzt war sie auf festerem Boden. »Ein Viertelliter kaltes Wasser und ein Achtelliter kochendes pro zwei Esslöffeln Stärke, aber das heiße Wasser muss richtig kochen, wenn man es dazugibt. Und ich rühre es mit einer Wachskerze um, damit das Eisen nicht festklebt.«

      »Was dem Leinen auch ein glatteres Erscheinungsbild verleiht.« Mrs. Fowler wirkte bei dieser Antwort zumindest zufrieden. »Zeig mir deine Zähne – na ja, ich schätze, die sind gut genug. Welche Krankheiten hattest du schon?«

      »Masern und Scharlach. Und meine Mum hat mich gegen Pocken impfen lassen.« Eigentlich war es Mrs. Darragh gewesen, hinter dem Rücken von Elizas Mutter. Man musste dafür zu einem englischen Arzt gehen, und viele Bewohner von Whitehall waren bei diesen misstrauisch, obwohl die Impfung kostenlos war. Oder vielleicht besonders deswegen.

      Mrs. Fowler schürzte wieder die Lippen über Elizas Empfehlungsschreiben, als würde sie etwas daran stören. Doch nach einem Augenblick faltete sie es schroff und sagte: »Ich kann dich als unteres Hausmädchen aufnehmen. Du hast nicht die Fähigkeiten für mehr, aber wenn du hierbleibst, lernst du vielleicht genug für eine bessere Stellung. Deine Bezahlung sind zwölf Pfund pro Jahr plus eine Zuteilung von Tee, Zucker und Bier, und du hast jede Woche einen Abend frei und jeden Monat einen Tag. Am Sonntag begleitest du mich in die Kirche.«

      Sie sagte nichts über einen Jahresurlaub. Eliza bezweifelte, dass Hausmädchen lange genug blieben, um so etwas zu beanspruchen. »Danke, Mrs. Fowler. Das klingt sehr gut.« Und das tat es wirklich, seltsamerweise. Zwölf Pfund pro Jahr! Ohne dass sie jeden Abend für eine Unterkunft bezahlen oder meilenweit über Londons Straßen marschieren und sich heiser schreien musste. Es war mehr, als sie als sich abrackernde Straßenverkäuferin verdiente, und, was das betraf, auch mehr, als sie als Mrs. DiGiuseppes Mädchen für alles verdient hatte. So sieht es also aus, wenn man für die Reichen arbeitet.

      Aber die Sache hatte einen Preis: für Mrs. Kittering zu arbeiten und darüber zu lügen, wer sie war. Und ein unteres Hausmädchen würde weniger Gelegenheit haben, Miss Kittering auszuspionieren, als eines, das in den oberen Stockwerken arbeitete. Elizas Enthusiasmus war deshalb gedämpft, als Mrs. Fowler fragte: »Wie bald kannst du anfangen?«

      »Oh, so bald, wie ich darf«, versicherte sie der Haushälterin eilig. »Heute, wenn Sie wollen.«

      »Dann zeige ich dir das Haus, und heute Abend darfst du deine Sachen holen gehen …« Sie unterbrach sich bei Elizas stummer Reaktion. »Was ist?«

      Eliza senkte peinlich berührt den Kopf. »Es … es gibt nichts zu holen, Ma’am. Nur das hier.« Sie berührte mit einem Schuh ihr Bündel auf dem Boden, dann zog sie schnell ihren Fuß zurück, ehe Mrs. Fowler bemerken konnte, dass der Schuh ein Männerstiefel mit gerissenem Leder und ausgetretenem Absatz war. Jeder letzte Penny war in das Kleid und das Empfehlungsschreiben investiert worden, und nur ein Zwei-Pence-Stück war für ein Bad übrig gewesen. Schuhe konnten bis zu einem Schilling kosten, sogar gebraucht. Niemand in Whitechapel konnte oder würde ihr so viel Geld leihen.

      Die Miene der Haushälterin wurde furchteinflößend. »Du besitzt sonst gar nichts?«

      Wenn ihr keine gute Erklärung einfiel, würde Mrs.


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