Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit. Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit - Marie  Brennan


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um und sah einen Wachtmeister, der sie misstrauisch betrachtete. Ganz plötzlich wurde sie sich ihrer Kleidung bewusst: zwei zerlumpte Röcke, übereinander, um Wärme zu spenden und weil sie keinen Platz hatte, wo sie den zweiten lagern konnte, außer an ihrem Körper. Männerstiefel, ihr Leder eingerissen und schmutzig. Ein Schultertuch, das keine gute Wäsche mehr gesehen hatte, seit es zum letzten Mal geregnet hatte. Ihre Haube war einst von irgendeiner respektablen Dame abgelegt worden, aber das war Jahre her. Die Schleifen, die sie benutzte, um sie festzubinden, passten nicht zueinander, und in der Krempe war ein Loch, das groß genug war, um ihren Daumen durchzustecken.

      Und sie stand schon einige Minuten da und starrte die Front des Hauses an, als würde sie überlegen, wie sie einbrechen konnte.

      Aus dem Augenwinkel erhaschte Eliza einen Blick auf einen bärtigen Gentleman mit einer Melone, der an die Tür von Nr. 9 klopfte. »Möchten Sie ein paar Austern kaufen, Sir?«, fragte sie den Wachtmeister, während ihre Aufmerksamkeit der anderen Straßenseite galt. Ein Hausmädchen öffnete die Tür und ließ den Gentleman hinein.

      »Nein, möchte ich nicht«, sagte der Polizist und rümpfte beim Gestank der alten Austern die Nase. »Verschwinde. Die Art von Leuten, die hier wohnen, braucht solche wie dich hier nicht.«

      Solche wie sie würden auch nie in jenes Haus kommen. Eliza senkte den Kopf, murmelte eine Entschuldigung, schob ihren Karren an dem Kerl vorbei und vermied es sorgfältig, das Haus anzusehen, während sie wegging.

      Er folgte ihr bis zur nahen High Street. Dort schaffte sie es, ihn in der Menge abzuhängen. Eliza drückte ihre Zunge in die Lücke, wo ihr Vater ihr vor Jahren einen Zahn ausgeschlagen hatte, und dachte über ihre Optionen nach.

      Sie hatte nicht viele. Aber sie war auch nicht bereit, aufzugeben. Wenn sie der Versammlung der Londoner Feengesellschaft nicht beiwohnen konnte, dann konnte sie zumindest versuchen zu sehen, wer das tat.

      Sie machte einen halbherzigen Versuch, ihre Austern anzupreisen, und bog links auf die nächste Straße, die sie fand, in der Hoffnung, dass das Gewirr von Islington sie nicht so besiegen würde, wie es das in der Innenstadt manchmal tat. Auf wenigen schmalen Hinterhöfen hatte sie kein Glück, ehe sie eine Gasse fand, die bis zurück auf die White Lion Street führte. Sie sah sich sorgfältig um, bevor sie weiterging, doch sie sah den Polizisten nirgends.

      Eliza hastete über die Pflastersteine, sodass ihr Karren vor ihr holperte. Ihr Gedächtnis diente ihr gut: Das Haus auf der anderen Straßenseite eine Tür weiter von Nr. 9 hatte geschlossene und versperrte Fensterläden, und die Lampe an der Tür brannte nicht. Unbewohnt, oder die Bewohner waren auf Reisen. So oder so, niemand war da, der sich beschweren konnte, wenn sie sich in der Ecke unten an deren Kellertreppe versteckte.

      Sie wartete, bis niemand in der Nähe war, hievte ihren Karren hinunter und versuchte, die übrigen Austern nicht überall zu verschütten oder in der Dunkelheit zu stolpern. Dann warf sie den zerlumpteren ihrer beiden Röcke über die Austern, um den Gestank zu dämpfen, und lugte zwischen den Eisenstäben durch, um zu sehen, was auf der anderen Straßenseite vorging.

      Wie es schien, waren bereits fast alle angekommen, denn sie sah nur eine weitere Person an die Tür klopfen. Diese war eine junge Dame, dachte sie. Es war schwer zu sagen, weil die Frau jeglichen Versuch zur Heimlichtuerei unternahm und sogar ihre Kapuze nach vorn zog und hektische Blicke über die Straße warf. Eliza drückte sich zurück in die Schatten, und als sie wieder hinausschaute, schloss sich gerade die Tür hinter dem mysteriösen Mädchen.

      Dann war es sieben Uhr, und niemand kam mehr. Eliza setzte sich auf die kalte Treppe, um noch länger nachzudenken. Sollte sie hinten ums Haus gehen? Falls es einen Garten gab, konnte sie vielleicht dort hineinklettern, und falls die Versammlung im Erdgeschoss oder ersten Stock wäre … Ihr gesunder Menschenverstand setzte wieder ein. Es war mehr als wahrscheinlich, dass sie erwischt würde, besonders, wenn dieser Polizist in der Nähe war.

      Besser auf den nächsten Monat warten. Es gab einige Leute in Whitechapel, die ihr Gefallen schuldeten oder empfänglich für Flehen um Hilfe waren. Vielleicht konnte sie sich sauber und respektabel genug machen, um an die Tür zu klopfen.

      Aber das bedeutete einen ganzen weiteren Monat ohne Owen. Einen Monat näher daran, ihn vielleicht für immer zu verlieren.

      Eliza wühlte in ihrer Tasche und zog ein zerknittertes Stück Papier heraus, dessen Ecken schon lange durch die viele Benutzung abgerissen waren. Sie musste sich davon abhalten, mit dem Daumen über die Gesichter zu streichen, weil sie befürchtete, dass sie sie noch unkenntlicher machen würde.

      Mrs. Darragh, die Arme weit ausgebreitet, um die Kinder vor ihr zu umarmen. Die kleine Maggie. Eliza, deren schwarzes Haar sogar nach Mrs. Darraghs Anstrengungen, es zu zähmen, unordentlich war. Und Owen, ein x-beiniger Junge von zwölf Jahren. Es war das einzige Foto von ihm, zur Feier von Maggies Erstkommunion aufgenommen.

      Sie musste es erhalten. Ohne das Foto fürchtete Eliza, dass sie vergessen würde, wie er aussah.

      Schaudernd schlang sie ihre Arme um ihre angezogenen Knie und legte die Stirn dagegen. Er ist tot, du dumme Närrin, hatte Maggie gesagt. Eliza hatte Beweise für das Gegenteil, gewissermaßen, obwohl sie sich nicht traute, das zuzugeben.

      Das Mädchen hätte es sich vielleicht denken können, wenn sie sich je die Mühe gemacht hätte, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Eliza und Owen hatten Maggie nie von den Feen erzählt, aber sie wusste ganz genau von den Geistern. Sie war dabei gewesen, als Eliza ihre Mutter gesehen hatte, ein volles Jahr nachdem die Frau gestorben war. Und sie wusste, dass Eliza andere herbeigerufen oder es versucht hatte – allerdings nicht warum.

      Für Leute wie sie war es ein närrischer Traum gewesen. Die meisten Frauen, die Ruhm und manchmal Geld als Medium oder Geisterseherin verdienten, kamen aus der Mittelklasse: gelangweilte Ehefrauen von Anwälten, Damen, die zu respektabel waren, um für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, aber nicht reich genug, um die Untätigkeit zu genießen. Keine irischen Wildfänge. Und es wäre in Whitechapel wohl kaum gut angekommen, wo das Reden mit Geistern sie wahrscheinlich als Hexe gebrandmarkt hätte. Wenn es funktioniert hätte …

      Der Teil mit den Geistern funktionierte gut genug. Aber ehe sie versuchen konnte, damit Geld zu machen, war Owen verschwunden. Der einzige Geist, den sie seither herbeizurufen versucht hatte, war seiner gewesen, jeden Vorabend von Allerheiligen.

      Fünf Jahre hatte sie es versucht, nach ihrem verlorenen Freund gerufen, sich bemüht, ihn in der Luft vor ihr zu manifestieren oder zumindest den Trost seiner Präsenz in ihren Gedanken zu fühlen. Fünf Jahre voller Scheitern, und dann hatte sie es aufgegeben, weil sie es nicht länger wissen wollte. Wenn er käme, würde sie wissen, dass er tot war. Wenn sie es nicht versuchte, konnte sie sich einreden, dass er noch am Leben war, und die Möglichkeit ignorieren, dass sie vielleicht einfach nicht stark genug war, um ihn zurückzuholen.

      Das ergab keinen Sinn, aber so war es.

      Zu ihrer Überraschung hörte sie die Glocke einer nahen Kirche acht Uhr schlagen. Als sie den Kopf wieder hob, spürte Eliza den Abdruck von gefaltetem Stoff auf ihrer Stirn. Sie war eingeschlafen. Verdammtes Glück hattest du, dass dich der Bulle nicht erwischt hat. Eliza schimpfte sich leise eine Idiotin, dann stand sie auf und blickte wieder durch die Metallstäbe.

      Im Haus auf der anderen Straßenseite brannte immer noch Licht, und nach kurzer Zeit öffnete sich die Vordertür. Ein Dienstmädchen kam heraus und trabte zur High Street davon. Kurz nachdem sie zurückgekehrt war, kam eine schicke Mietkutsche an, gefolgt vom Einspänner von jemand anderem. Die Leute begannen aufzubrechen – Eliza zählte sieben, von dem Gentleman, den sie vorher gesehen hatte, bis zu einer matronenhaften Frau in der buntesten Haube, die sie je unter die Augen bekommen hatte. Die Einzige, die fehlte, war die verstohlene junge Frau, und gerade als Eliza die Warterei aufgeben wollte, tauchte diese auf der Vortreppe auf.

      Beinahe unmittelbar von einer anderen Frau gefolgt. »Miss Kittering!«

      Miss Kittering blieb stehen, die Hände am Rand ihrer Kapuze, bereit, diese hochzuziehen. Das Licht über den Stufen vor Nr. 9 zeigte, dass sie wirklich eine ziemlich wohlhabende junge Frau war. Sie hatte sich offensichtlich bemüht,


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