Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit. Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit - Marie  Brennan


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Maschine am Werk gesehen. Dass Wrain sie ihr nicht gleich jetzt präsentierte, konnte nur bedeuten, dass ihr Verstand Babbages komplizierten und brillanten Plan noch nicht vollständig erfasst hatte. Solche Unzulänglichkeit jedoch hielt ihre Fantasie nicht davon ab, mit ihr durchzugehen. »Zu diesem Zeitpunkt sind die Herausforderungen ziemlich banal. Simple Angelegenheiten, wie eine Finanzierung und geeignete Ingenieure aufzutreiben. Ich habe bereits angefangen, darüber hinaus zu denken.«

      »Ich glaube, du unterschätzt die Schwierigkeiten der Konstruktion«, sagte Wrain trocken, aber er wurde halb von Nicks Ausdruck von plötzlichem, scharfem Interesse übertönt: »Was meinst du mit ›darrüberr hinaus zu denken‹?«

      Freude beflügelte ihren Geist wie ein Paar strahlender Schwingen. Diese beiden würden sie nicht verspotten oder warnen, dass sie sich besser darauf beschränken solle, was mathematisch und wissenschaftlich möglich war. Sie konnte ihnen erzählen, wovon auch immer sie träumte, egal wie ungeheuerlich. »Wenn wir – womit ich natürlich meinen lieben Babbage meine – eine Analytische Maschine konstruieren können, um die Lösungen für Gleichungen zu berechnen, können wir nicht andere Arten von Maschinen für andere Arten von Aufgaben konstruieren?«

      Stirnrunzelnd sagte Wrain: »Du meinst, andere Geräte, die mit Karten angewiesen werden können?«

      »Genau! Maschinen, die komplexe Aufgaben schneller und akkurater ausführen können, als es jeglicher menschliche Arbeiter schaffen könnte. Musik komponieren zum Beispiel: Man gibt der Maschine Karten, die sie zur Form eines Lieds anweisen – eines Kirchenlieds vielleicht, oder eines Chorals oder sogar einer Symphonie –, und dann schreibt die Maschine, indem sie die Operationen ausführt, eine neue Komposition.« Ihre Liebe zur Musik war dauerhaft, eng verwandt mit ihrer Liebe zur Mathematik, obwohl sie vermutete, dass ihre Mutter – bei all dem Wissen der Frau über letzteres Thema – die Ähnlichkeit zwischen den beiden nie ganz verstand. »Sie braucht nur irgendein Mittel, um Noten und ihre Beziehung zueinander in angemessen abstrakter Form darzustellen. Also, das und die Konstruktion der Maschine selbst, die natürlich keine simple Sache ist. Ich vermute, sie würde Zehntausende Zahnräder brauchen, sogar noch mehr als die Analytische Maschine.«

      Wrains Mund stand während dieses Monologs immer weiter offen. Nick war völlig erstarrt. Nach einer gelähmten Pause sagte der zarte Gentleman: »Mit ausreichend abstrakter Darstellung …«

      »Alles«, hauchte Nick und starrte ins Leere, als hätte er eine Vision des Himmels selbst gesehen. »Musik. Bilder. Sie könnte Bücher schreiben. Sie könnte …«

      Seine Stimme verstummte. Sie fühlte sich, als würde sie fliegen, durch die Macht ihrer eigenen Genialität vom Boden dieser Erde abgehoben. Nur schrittweise wurde ihr bewusst, dass, obwohl auch ihre Kameraden flogen, der Pfad, dem sie folgten, ein sehr spezifischer war. Wrain und Nick starrten einander an und kommunizierten in halb ausgesprochenen Worten und abrupten Gesten, zu aufgeregt, um ihre Gedanken aus ihrem Kopf zu bekommen, ehe sie zum nächsten sprangen. »Wie ein Webstuhl«, sagte Wrain. Nick antwortete ihm: »Aberr mit unserrerr Darrstellung«, und der Gentleman nickte, als hätte sein zwergenhafter Begleiter ein sehr gutes Argument angebracht.

      Das rief tief in ihrem Verstand ein seltsames Gefühl hervor. Wenn das hier ihre Träume waren, warum fühlte es sich dann an, als würde es abrupt um etwas gehen, das sie nicht verstand? Ein Hauch von Panik regte sich. Vielleicht hat Mama recht, und das sind die Anfänge von Wahnsinn.

      Wrain sprang auf die Füße, packte ihre Hand und schüttelte sie, als sei sie ein Mann. Sein Griff fühlte sich sehr hart und sehr real an. »Ada, liebste Ada, danke. Oh, ich habe keine Ahnung, wie wir dieses Ding bauen sollen – uns fehlt sogar die Notation, mit der wir es instruieren sollen. Ich meine, das Notationssystem, das wir haben, ist schrecklich unzureichend, es würde nicht einmal für eine Differentialmaschine reichen, ganz zu schweigen von mehr – aber bis du davon gesprochen hast, habe ich mir ein derartiges Gerät nicht einmal vorgestellt. Nicht für unsere eigenen Zwecke. Willst du uns helfen?«

      Verblüfft und immer verunsicherter über alles fragte Ada: »Euch bei was helfen?«

      Nick lachte, ein röhrendes Bellen, das sie überzeugte, dass zumindest er wahnsinnig war. »Eine Maschine mit magischerr Kalkulation zu bauen. Etwas aus Zahnrräderrn und Hebeln und Rrädern, das uns sagen kann, wie man Dinge schafft, Feenzauberr, die zu komplex sind, als dass wirr sie uns selbst vorrstellen können. Und sie mit derr Zeit vielleicht fürr uns macht

      Nein, es bestand überhaupt kein Zweifel. Ada hatte den ersten Schritt – oder vielleicht mehr als einen – auf dem Weg in den Wahnsinn gemacht, dem ihr Vater verfallen war. Feen und Zauber, genau die Art von Dingen, die ihre Mutter missbilligte. Wenn sie jetzt nicht umkehrte, würden sicherlich Glücksspiel, Dichtkunst und sexuelle Freizügigkeit folgen.

      Aber sie wollte ihre Freunde nicht verlassen, selbst wenn diese Illusionen ihres kranken Verstands waren. Konnte sie sich nicht ein bisschen Wahnsinn erlauben und darauf vertrauen, dass Gebete und die rigorose Strenge der Wissenschaft den Rest in Schach hielten?

      Augusta Ada King, Gräfin von Lovelace, Tochter des berüchtigten Poeten Lord Byron und seiner Frau, der Mathematikerin Annabella Milbanke, hatte den Verdacht, dass sie die Antwort darauf kannte – und diese nicht in ihrem Sinne war.

      »Bitte, Ada«, beschwor Wrain sie. »Ich habe die Katastrophe gesehen, die Babbages Notizen sind. Ich würde sagen, dass du sie besser verstehst als er selbst. Oder sie zumindest anderen erklären kannst, was er offensichtlich nicht kann. Wir werden das nicht ohne Hilfe schaffen.«

      Es hätte eine härtere Seele gebraucht als die von Ada Lovelace, um bei jenem verzweifelten, hoffnungsvollen Gesichtsausdruck Nein zu sagen. Mit einem Gefühl sowohl von drohendem Unheil als auch Vorfreude sagte sie: »Charles Babbage ist zu unhöflich und zu vernünftig, um euch in dieser Sache je zu helfen. So unzulänglich mein eigener Intellekt auch sein mag, ich werde ihn eurer Sache zuwenden.«

      ISLINGTON, LONDON

       14. März 1884

      Eliza hatte die Tage vor dem Treffen der Londoner Feengesellschaft damit verbracht, sich auszumalen, wie die Dinge wohl laufen würden. Die Leute konnten sich wohl als nichts weiter als ein Haufen gelangweilter Hausfrauen herausstellen, die Sammlungen von Geschichten von Leuten aus dem ländlichen England lasen, mit den Zungen schnalzten und über den Verlust einer bäuerlichen Gesellschaft seufzten, die keine von ihnen je persönlich gekannt hatte. Vielleicht war es eine Gruppe Gelehrter, die jenen Verlust dokumentierten und Theorien erdachten, welcher Mangel an Bildung oder Gehirn Bauern solch lächerliche Dinge glauben ließ. Vielleicht war es die Art von Leuten, die Eliza letzten Herbst in Charing Cross gesehen hatte – die Hand in Hand mit den Feen arbeiteten, um Chaos unter anständigen Leuten zu säen.

      Sie stellte sich vor, wie sie vor ihren schockierten und mitleidsvollen Zuhörern die Geschichte erzählte, wie Owen entführt worden war. Sie stellte sich vor, wie sie den Vorsitzenden der Gesellschaft belagerte, bis er ihr erzählte, wo sie eine Fee finden konnte. Sie stellte sich vor, dort einen Fae selbst zu finden und die Wahrheit aus ihm herauszupressen.

      Sie kam nie dazu, sich vorzustellen, wie sie in die White Lion Street Nr. 9 hineinkommen würde.

      Eliza war nie zuvor in Islington gewesen. Am Nachmittag des zweiten Freitags nahm sie ihren beinahe leeren Karren und machte sich auf, die Aldersgate Street durch Clerkenwell hinaufzugehen. Sie fragte nach dem Weg, während sie marschierte, und wurde schließlich zu einer Gasse hinter einer Kutschenstation in einem geschäftigen Stadtteil dirigiert.

      Das Gebäude bei Nr. 9 stellte sich als Wohnhaus heraus, und auch noch ein respektables. Eliza starrte es entsetzt an. Der Hintergrund ihrer verschiedenen Fantasien war immer vage gewesen – ein Zimmer, Stühle, gesichtslose Leute. Sie hatte angenommen, dass es eine Art öffentliches Gebäude sein würde, wie diejenigen, wo sich Arbeitergruppen manchmal trafen, um Proteste gegen ihre Herren zu planen. Nicht das Haus von irgendjemandem, wo es unmöglich wäre, sich im Hintergrund zu halten.

      »Na sieh mal an –


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