Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit. Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit - Marie  Brennan


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des Eisens aushalten musste, wegen der er jaulen und heimrennen wollte.

      Also machte er sich nicht die Mühe zu antworten. Stattdessen knurrte er bloß und warf sich nach vorn.

      Der Versuch, hier draußen die Gestalt zu wechseln, fühlte sich an, als würde er sich alle Knochen einzeln brechen. Das Eisen kämpfte gegen ihn an: Es scherte sich nicht darum, ob er Mann oder Bestie war, aber es hasste es, ihn sich zwischen den beiden verwandeln zu lassen. Als der Tote Rick den Prinzen erwischte, war er auf halbem Weg dazwischen gefangen, ein brüllendes Monster, das den Mann in einem Gewirr aus Fell und Haut und Zähnen umriss.

      Schmerz hielt ihn davon ab, mehr zu tun. Sein Schwung schleuderte ihn gegen die hölzerne Säule eines Krans, wo ein Eisennagel an seinem Rücken brannte wie Feuer und Eis. Der Tote Rick jaulte, wand sich und fand sich abrupt wieder in seiner menschlichen Gestalt. Er lag japsend am Boden und versuchte, sich nicht zu übergeben, bis er seine Muskeln genug unter Kontrolle hatte, um den Kopf zu heben.

      Mittlerweile war er allein. Der Müllfledderer war geflohen, und ebenso offensichtlich der Prinz.

      So viel zu ihm und seinen Befehlen. Wie es schien, wusste der Mann genau, wie weit seine Autorität reichte.

      Der Tote Rick zwang sich auf die Beine. Unten im Matsch lagen sein Messer und das Zeitungspäckchen unberührt. Der Müllfledderer hatte sich nicht darum gekümmert, sein Essen aufzusammeln, ehe er geflohen war. Aber ohne den Mann brachte es dem Toten Rick gar nichts.

      Er brauchte keine Hundenase, um ihn aufzuspüren. Die Fußabdrücke waren im Matsch deutlich zu sehen und führten nach Westen, unter die Brücken und auf die gewaltige Mauer der Uferbefestigung hinauf. Der Tote Rick biss die Zähne zusammen und rannte ihm hinterher. Unter dem Granitexterieur der Uferzeile lagen Eisenrohre, aber das war immer noch besser als die Brücken, und der Tote Rick war leichtfüßig. Er holte schnell auf.

      Der Müllfledderer hörte ihn kommen und wirbelte mit dem Messer in der Hand herum, um sich ihm zu stellen. Der Tote Rick hielt das Päckchen und ebenso sein Messer hoch. Hier oben hatte er nicht viel Zeit. Die Polizisten beobachteten die Befestigungsmauer wirklich. »Ich bin noch nicht mit dir fertig. Aber wenn du tust, was ich dir sage, kommst du ohne einen Kratzer davon. Verstanden?«

      Eindeutig nicht, aber der Mann nickte misstrauisch, bereit, dem zu lauschen, was dieser offensichtlich Wahnsinnige zu sagen hatte, wenn es bedeutete, seine eigene Haut zu retten. »Nimm das«, sagte der Tote Rick und warf ihm das Päckchen wieder zu. »Nun leg es vor deine Füße und sag: ›Eine Gabe für das gute Volk.‹«

      »Was?«

      Nicht ganz so gelähmt vor Angst, wie der Tote Rick gedacht hatte. »Tu es, oder du verlierst ein Ohr. Deine Wahl.«

      Kopfschüttelnd ließ der Mann das Päckchen auf den gepflasterten Fußweg fallen. »Eine Gabe für das gute Volk. Was jetzt?«

      »Tritt zurück.« Er gehorchte. Mit einer schnellen Bewegung schnappte der Tote Rick sich das Päckchen und wich zurück. »Jetzt verschwindest du. Ab nach Hause oder in die Kanalisation. Das ist mir egal. Geh mir nur aus den Augen.«

      Das musste er dem Müllfledderer nicht zweimal befehlen. Der drehte sich um und rannte weiter flussaufwärts, Richtung Westminster, weg vom Toten Rick.

      Der wartete, um sicherzugehen, dass der Mann nicht umkehren würde, steckte dann sein Messer zurück in dessen Scheide und riss das feuchte, fettige Zeitungspapier auf. Darin war ein Wurstbrötchen. Er scherte sich nicht darum, ob das Ding von Flusswasser durchtränkt war, er versenkte seine Zähne darin und riss ein Stück heraus.

      Es zu essen, war, als würde er eine warme Decke um sich legen, nachdem er die ganze Zeit in der eiskalten Winterluft gestanden hatte. Die Rohre in der Uferbefestigung, die Gaslaternen über ihm, die Brücken hinter ihm – alles wurde zu nichts weiter als menschlichen Artefakten, Metallstücken, die zu nützlichen Formen gebogen waren. Eine Kirchenglocke hätte ihm jetzt ins Ohr läuten können, und er hätte sie nur ausgelacht. Sterbliche Nahrung, die als Opfer an die Fae dargebracht wurde: das Einzige, was sie in Sicherheit über die Straßen von London laufen ließ.

      Und heutzutage fürchterlich schwierig zu bekommen. Nadretts Sterbliche in ihren Käfigen dienten vielen unterschiedlichen Zwecken, aber alle von ihnen wurden gezwungen, jeden Tag Brot zu opfern, bis sie verkauft wurden oder Feennahrung aßen oder starben. Das trug viel dazu bei, den Verlust von Glauben unter den Menschen oben wettzumachen, die nicht länger Nahrung für die Feen hinausstellten, außer in verstreuten Gegenden weit draußen auf dem Land. Viel, aber nicht genug, nicht bei all den Flüchtlingen, die sich im Palast drängten. Wenn der Tote Rick irgendeine Hoffnung haben wollte zu überleben, wenn der Markt erst weg wäre, musste er sich selbst etwas besorgen.

      Er bereute bereits, dass er jenen Bissen gegessen hatte. Das bedeutete, dass er einen Bissen weniger hatte, mit dem er seine Schulden bezahlen oder aus London fliehen konnte, wenn die Zeit kam. Doch bei all diesen Qualen um ihn herum … Er war seit Ewigkeiten nicht mehr oben gewesen und hatte vergessen, wie schrecklich sich das anfühlte.

      Er seufzte und starrte das zerfetzte Brötchen an.

      Dann sah er sich um und betrachtete die Stadt, die er beinahe nie sah. London, voll von Sterblichen – nicht in Käfigen und gebrochen, sondern freie Männer und Frauen und Kinder, Millionen von ihnen, die in völliger Unwissenheit über den Verfall unter ihren Füßen lebten. Und unberührt von dem Feenmakel, der sie unfähig zu opfern machen würde. Je länger der Tote Rick hier draußen blieb, desto größer war das Risiko, dass sein Herr es bemerken würde – aber der Bissen, den er gegessen hatte, schützte ihn für einen ganzen Tag. Mit ihm im Magen konnte er jemand anderen zum Überfallen finden, mehr Brot sammeln, sich für das Ende, das kommen würde, bereit machen.

      Er würde einen Preis dafür zahlen – das tat er immer –, doch dieses eine Mal war es das vielleicht wert.

      Der Tote Rick stopfte den Rest des Brötchens in seine Manteltasche und konzentrierte sich. Nicht sehr. Er war keiner von den Fae, die stolz auf all die Gesichter waren, die sie erfinden konnten, und ließ sich nicht wie einen feinen Gentleman oder einen kleinen Jungen oder irgendetwas anderes aussehen. Er war zufrieden damit, wie er selbst auszusehen – nur ohne den Feenhauch. Für seine Zwecke reichte das.

      Dann marschierte er los, pfiff »Bedlam Boys« vor sich hin und suchte einen weiteren armen Bastard, den er ausrauben konnte.

      DIE GALENISCHE AKADEMIE, ONYXPALAST

       10. März 1884

      Was vom Feenpalast übrig war, wechselte zwischen Räumen, die mit Flüchtlingen überfüllt waren, und leeren Gängen, die selbst von Geistern verlassen waren. Als Benjamin Hodge sich dem Eingang zur Galenischen Akademie näherte, kam das einzige Geräusch von seinen Stiefeln, die über den Boden schlitterten. Doch sobald er unter dem silbernen und goldenen Torbogen durchging, dessen Motto SOLVE ET COAGULA sich über seinem Kopf wölbte, begann Lärm den schwarzen Korridor entlang zu hallen. Selbst ehe er irgendwelche Details ausmachen konnte, hob das Geräusch seine Laune: Dies war der einzige Teil des Onyxpalasts, der sich voll mit Hoffnung statt Verzweiflung anfühlte.

      Oder vielleicht war Wahnsinn ein besseres Wort als Hoffnung. Hodge war zu jung, um die Weltausstellung im Kristallpalast ’51 gesehen zu haben, aber er stellte sich vor, dass sie ganz ähnlich wie das hier gewesen sein musste: eine wüste Mischung aus Leuten aus der ganzen Welt, die sich um Ausstellungsstücke drängten, die von nützlich bis bizarr reichten, in einer verrückten Zurschaustellung dessen, was menschliche Erfindungen vollbringen konnten.

      Menschliche Erfindungen und die von Feen: Während hier unten Sterbliche waren, wurden sie von der Menge an Fae weit übertroffen. Das Internationale jedoch stimmte immer noch. Im letzten Jahrhundert und noch länger war die Galenische Akademie eine Pilgerstätte für jeden aus beiden Welten gewesen, der die Gesetze eines derartigen Ortes verstehen wollte: nicht ganz Feenland, nicht ganz Menschenwelt, und doch nahm er etwas von den Eigenschaften beider an. Einige von jenen, die


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