Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit. Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit - Marie  Brennan


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an. »Gut. Maggie war froh, als du weg warst – sagt, ihre alte Ma hat sich aufgeregt, wenn du in der Nähe warst.«

      Nun war Eliza damit an der Reihe, misstrauisch dreinzublicken. »Wann seid Maggie Darragh und du euch so nahegekommen, dass du wissen solltest, was sie gerade denkt?«

      Er grinste breiter, und Eliza seufzte. Sie wusste ganz genau, dass Maggie sie nicht in der Nähe haben wollte, und war darauf vorbereitet. Wenn sie aber Fergus Boyle ausweichen musste, dann würde das hier noch schwieriger. Doch sie weigerte sich, Mrs. Darragh zu verlassen – nicht, wenn sie die einzige Hoffnung war, die die Frau noch übrig hatte.

      Am besten, sie lenkte ihn mit einer glaubwürdigen Lüge ab. »Anders als manche Leute«, erklärte Eliza ihm, »kümmere ich mich um meine Seele. Ich bin auf dem Weg zur Beichte – das ist etwas, was wir in der Kirche tun, diese Beichte, weil ich mir sicher bin, dass du noch nie davon gehört hast.« Und darüber zu lügen, ist der geringste Grund, aus dem ich zur Hölle fahre.

      Boyle wirkte zweiflerisch. Zum Glück sah Eliza ein spindeldürres Mädchen, das sich über die Kiste hinter ihm duckte. »Du solltest vielleicht darauf aufpassen«, sagte Eliza sanft mit einem Kopfnicken. Dann schlich sie davon, während Boyle damit beschäftigt war, dem Mädchen eine Ohrfeige zu verpassen.

      Ihr Herz schlug zu schnell, als sie die Whitechapel Road hinuntereilte und sich zwischen den Karren und durch den schmutzigen Nebel schlängelte. Vier Monate und noch mehr, seit sie hier gewesen war, und das war nicht lange genug. Boyle hatte recht: Was, wenn irgendein Kerl von der Irischen Sondereinheit sich an ihr Gesicht erinnerte? Sie war nicht dumm genug gewesen, denen zu erzählen, dass sie diejenige war, die die Bombe aus dem Zug in Charing Cross geschleudert hatte. Die würden nie glauben, dass sie es getan hatte, um die Menschen im Dritte-Klasse-Waggon zu retten. Mehr als siebzig Menschen waren am selben Abend verletzt worden, als die andere Bombe in einem Zug explodiert war, der gerade Praed Street verlassen hatte. Aber Eliza war Irin. Nur, dass sie dort gewesen war, reichte beinahe, um sie zu hängen, und die Bombe zu berühren, würde mehr als reichen.

      Genau deshalb hatte sie ihr Bestes getan, um zu verschwinden, und sich hinter dem Talent für Nachahmung und Schauspiel versteckt, das Owen immer so sehr amüsiert hatte. Weil die verdammte Irische Republikanische Bruderschaft und ihre Freunde in Amerika ständig Ärger machten, war es im Moment nicht sicher, in London Irin zu sein. Und sogar noch weniger sicher, Eliza O’Malley zu sein.

      Boyle hatte recht: Es wäre vernünftiger, irgendwie genug Geld zusammenzukratzen, um anderswohin zu ziehen. Nach Amerika oder Irland oder wenigstens in eine andere Stadt. Vielleicht Liverpool. Aber selbst wenn sie ihre Suche hätte aufgeben können, Eliza war in London geboren. Sie hatte nie eine andere Heimat gekannt. Gott helfe ihr, sie vermisste sogar das dreckige, beengte Elendsviertel von Whitechapel, das ihr so viel vertrauter war als die stickigen Geschäfte in der Innenstadt.

      Nicht, dass sie irgendwelche romantischen Illusionen über die Gegend hegte. Sie war ein Moloch aus Laster und Verbrechen, gefüllt mit den vertriebenen Armen jeder Rasse, wo Huren ihre Kunden in dunklen Gassen für zwei Penny pro Akt bedienten und Banden mit Drohungen oder Gewalt das wenige Geld nahmen, das andere Leute zu verdienen geschafft hatten. Aber als sie an den schmalen Gassen und Hinterhöfen vorbeikam, hörte Eliza vertraute Dialekte und manchmal sogar die irische Sprache selbst, in fröhlichen und freundlichen Gesprächen. Sie zog ihr Schultertuch dichter um ihr Gesicht und hastete mit gesenktem Kopf weiter, um zu vermeiden, dass sie von noch jemandem gesehen wurde, den sie kannte – oder diesen selbst sähe. Das hätte es nur umso härter gemacht, wieder fortzugehen.

      Mrs. Darragh und ihre Tochter wohnten in einem einzelnen Zimmer an einem Hinterhof neben der Old Montague Street. Ein Stück Plane war über das Fenster genietet, wo das Glas herausgebrochen war. Zumindest hatten sie dort gewohnt, als Eliza das letzte Mal hier gewesen war. Was, wenn sie umgezogen waren? Boyle hätte es ihr nicht erzählt. Falls Maggie und er irgendeine Art Übereinkunft hatten, hatte er ihnen vielleicht sogar zu einer besseren Unterkunft verholfen.

      Sie klopfte an die Tür und lehnte sich näher, um zu lauschen. Als Reaktion ertönten keine Schritte, was ihr zumindest verriet, dass Maggie nicht da war. Sie klopfte wieder. »Mrs. Darragh? Ich bin’s, Eliza O’Malley.«

      Keine Antwort, aber die Tür war nicht versperrt, als sie die Klinke testete. »Ich komme rein«, rief Eliza und öffnete die Tür weit genug, um einen Blick hineinzuwerfen.

      Wegen des Nebels und der verschmierten Fensterbespannungen war es drinnen düster wie in einem Grab. Langsam gewöhnten sich Elizas Augen daran, und dann konnte sie die Gestalt ausmachen, die auf dem einzigen Stuhl im Raum neben dem rauchenden offenen Kamin an der gegenüberliegenden Wand saß. Genau dort, wo ich sie vor vier Monaten zurückgelassen habe. »Mrs. Darragh, ich bin’s, Eliza«, wiederholte sie und trat ein.

      Die Frau starrte abwesend auf den Boden, die Hände locker auf dem Schoß, als könne sie sich nicht dazu durchringen, irgendetwas mit ihnen zu machen. Das düstere Licht schmeichelte ihrem Gesicht und glättete einige der Falten, die sich dort hineingegraben hatten, doch ihre hoffnungslose Miene machte es Eliza weh ums Herz. Der Verlust von Owen hatte seine Mutter gebrochen, und sie war seither nie genesen.

      Eliza ließ die Tür einen Spalt offen, damit Licht hereinkam, und ging vor Mrs. Darraghs Füßen in die Hocke. All das Geplauder, das sie geplant hatte, verblich in Anwesenheit der Frau: Es war einfach nicht möglich zu sagen: Oh, wie gut Sie heute aussehen, oder irgendetwas so Falsches und Fröhliches. Was würde es bringen? Nichts würde ihre Laune heben, außer einer Sache.

      »Mrs. Darragh«, murmelte sie und nahm die schlaffen Hände der älteren Frau in ihre, »ich bin gekommen, um Ihnen gute Neuigkeiten zu erzählen, wirklich. Ich habe ihn beinahe erwischt. Den Fae.«

      Keine Antwort. Eliza biss sich auf die Lippe, dann fuhr sie fort. »Ich habe Ihnen erzählt, dass ich ihn gesehen habe, letzten Oktober? Bin ihm zur Mansion House Station gefolgt und habe dort die anderen gesehen, die in einen Zug nach Charing Cross gestiegen sind. Er kam aber aus Newgate, und genau dort bin ich gewesen – hab dort gewartet und gehofft, ihn oder einen anderen wiederzusehen. Aber ich habe vor, etwas Besseres zu finden. Es gibt in Islington einen Verein. In einigen Tagen gehe ich dorthin, um herauszufinden, ob sie da irgendetwas wissen. Und dann werde ich die Bastarde verfolgen, die ihn entführt haben, und sie zwingen, ihn freizulassen, und dann bringe ich Ihnen Ihren Sohn zurück.«

      Die Hände zitterten in ihrem Griff. Mrs. Darraghs Unterlippe zitterte auch, und sie hatte die verzweifelte Miene einer Frau, die nicht einmal die Energie zum Weinen aufbringen konnte.

      »Das werde ich«, beharrte Eliza und griff fester zu. Nicht zu stark. Die Knochen fühlten sich in ihrer Hand wie die eines Vogels an, als würden sie jeden Moment zerbrechen. »Ich habe ihn nicht verlassen. Oder Sie. Ich …«

      Dass es im Raum heller wurde und kalte Luft hereinblies, war ihre Vorwarnung. »Hast sie nicht verlassen?«, rief eine scharfe Stimme hinter ihr. »Hast eine seltsame Art, das zu zeigen, Eliza O’Malley, ohne auch nur ein Wort zu verschwinden.«

      Sie stand nicht aus der Hocke auf oder ließ Mrs. Darraghs Hände los, sondern drehte nur den Kopf. Maggie Darragh stand am Eingang, ein Brotstück in einer Faust, die andere Hand flach auf die Tür gedrückt. Ihre mitgenommene Haube warf einen Schatten über ihr Gesicht, aber Eliza musste es nicht sehen, um sich ihren Gesichtsausdruck vorstellen zu können.

      »Du hast deutlich gemacht, dass du mich nicht in der Nähe haben wolltest«, sagte Eliza.

      Maggie machte ein angeekeltes Geräusch und stieß die Tür weg, sodass sie an der Wand abprallte und ein kleines Stück zurückschwang. »Nicht deutlich genug, schätze ich, denn da bist du wieder und flüsterst dein Gift in ihre Ohren.«

      Die Hände rissen sich von Elizas eigenen los, als Mrs. Darragh sie unter ihre Ellbogen steckte und sich selbst umarmte. Im helleren Licht zeigte sich der bemitleidenswert zerlumpte Zustand ihres Kleids. »Gift?«, fragte Eliza. »Was ich bringe, ist Hoffnung, was mehr ist, als sich irgendjemand anderer bemüht, ihr zu geben.«

      Maggies Gelächter klang wie das Krächzen einer Krähe. »Hoffnung nennst du das, was Ma zum Weinen


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