Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit. Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit - Marie  Brennan


Скачать книгу
und schaute –, kam das Mädchen zögerlich wieder aus der Ecke, in die sie sich zurückgezogen hatte. Sie streckte eine Hand aus, trat langsam näher, bis sie nahe genug an den Stäben war, dass der Hund seine Nase vorschieben und höflich schnüffeln konnte. Er leckte sogar über ihre schmutzigen Finger, ein kurzes, warmes Streicheln.

      Bei dieser freundlichen Berührung brach das Mädchen in Tränen aus.

      »He da!«

      Der Hund stand auf und drehte sich schnell um. Eine untersetzte, hässliche Gestalt stand in der Tür und kratzte sich über die struppigen Barthaare. »Geh da weg«, sagte der Goblin und starrte ihn finster an. »Er will dich sehen, und zwar nicht auf vier Füßen.«

      Das Mädchen im Käfig war erneut zurückgewichen. Der Hund warf einen kurzen Blick über seine Schulter auf sie, dann seufzte er, ein seltsam menschliches Geräusch. Er senkte den Kopf und konzentrierte sich, und sein Körper fing an, sich zu verändern.

      Er hörte ein leises Wimmern hinter ihm, als die Verwandlung beendet war. Egal wie wenig beruhigend seine Hundegestalt gewesen war, als Mann war er schlimmer. Der Tote Rick wusste das nur zu gut. Zerlumpte Hosenbeine endeten knapp über seinen nackten Füßen, deren Zehennägel sich dick und schmutzig in Richtung Boden krümmten. Am Oberkörper trug er nur eine zerrissene Weste, die er einem toten Sterblichen geraubt hatte. Er hasste das beengende Gefühl von Ärmeln auf seiner Haut. Sein Haar war so dreckig und verfilzt, wie es als Fell gewesen war, und was sein Gesicht betraf … er drehte sich nicht um. Er war zwar kein Poltergeist mit den flammenden Augen eines Teufels, aber er hatte sich selbst schon im Spiegel gesehen. Der harte Schlitz seines Mundes würde niemanden beruhigen.

      Er hätte sich anderswo verwandeln können, außer Sichtweite des Mädchens. Aber es war besser für sie, wenn sie schnell lernte, dass sogar die freundlichste Kreatur hier unten nicht vertrauenswürdig war.

      Greshs breites Grinsen würde nie mit Freundlichkeit verwechselt werden. »Sie ist ein feines Exemplar, oder?«, fragte er, als der Tote Rick auf ihn zukam. »Bisschen alt, um sie aus einer Wiege zu stehlen, aber ihre Mutter hat sie trotzdem da gehabt, weil sie sonst nirgends Platz für sie hatten. Die ham zu sechzehnt in einem Zimmer gewohnt. Jetzt sind’s nur fünfzehn, und sie kriegt diesen ganzen Käfig für sich allein. Besser für alle!«

      Der Tote Rick bezweifelte, ob das Mädchen oder seine Mutter zustimmen würden. Andererseits, was wusste er schon? Vielleicht war ihre Mutter eine gingetränkte Hure und wäre ganz froh, wenn sie ein Maul weniger zu stopfen hätte. Vielleicht würde das Mädchen von irgendeinem freundlichen Fae gekauft, der ein menschliches Kind wollte, mit dem er wie mit einer Puppe spielen konnte.

      Oder vielleicht fliegen dir Engel aus dem Arsch, Welpe. Aber sie würde hier nicht altern, und Krankheit würde sie nie berühren, was mehr war, als irgendjemand für ihr Leben auf den Straßen oben sagen konnte.

      »Komm schon«, sagte er und schob sich an Gresh vorbei. »Du hast gesagt, er will mich sehen.«

      »Du brauchst mich nicht als deinen Führer«, sagte der Goblin.

      Der Tote Rick blieb im Korridor stehen und warf einen Blick zurück. Gresh stand immer noch in der Tür, die Schultern begierig gekrümmt. »Nicht«, warnte der Tote Rick ihn. »Du wirst sie verderben, und dann geht es dir an den Kragen.«

      Der Goblin funkelte zurück. »Ich brauche keinen Hund, der mir erklärt, was ich tun soll.«

      Er sagte Hund, als sei es eine Beleidigung – als sollte sich der Tote Rick dafür schämen, ein Skriker zu sein. Eine Gewohnheit, die er sich bei ihrem gemeinsamen Herrn abgeschaut hatte. Aber es hatte Vorteile, ein Hund zu sein. Der Tote Rick knurrte tief in seiner Kehle, erwiderte Greshs Starren, und bald genug wich der Goblin als Erster zurück. Er murmelte einige Beschwerden, aber er kam mit dem Toten Rick mit und ließ dem Mädchen das bisschen Frieden, den es finden konnte.

      Gelächter hallte am Gestein um sie herum wider, als sie weiterliefen, seine Quelle unmöglich zu ergründen. Das Labyrinth des Goblinmarkts war voll mit Fae und den menschlichen Kreaturen, die sie zur Unterhaltung oder Nutzung hielten. Sie drängten sich fast so dicht wie die Armen im East End, wo das Mädchen herkam. Für jeden Fae, der wegzog und sich auf die Suche nach einem Durchgang nach jenseits der sterblichen Welt machte, kam ein anderer hierher nach London. In den Onyxpalast, das verzerrte Spiegelbild der Stadt darüber, den Palast, der einst das Prachtstück von Feenengland gewesen war – und nun ihre zerbröckelnde Zufluchtsstätte gegen den Fortschritt der Menschheit darstellte.

      Spuren jener Pracht waren immer noch sichtbar, in den behauenen Säulen und Eckpfeilern, den Bögen, die sich über Kammern mit hoher Decke spannten, dem gelegentlichen Mosaik, das in das schwarze Gestein einer Mauer eingefügt war. Alles war jedoch in vergangenen Jahrhunderten schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Vieles war zerbrochen oder verschmutzt oder halb hinter dem Gerümpel der Flüchtlinge verborgen. Gardinen, die an Kordeln aufgehängt waren, teilten größere Räume in kleinere auf und schenkten die Illusion von Privatsphäre. Fae verteidigten geschätzte Besitztümer oder sterbliche Haustiere gegen die gierigen Hände ihrer Nachbarn. Aber alles konnte verkauft werden, wenn der Preis stimmte: ein menschliches Kind gegen sterbliches Brot, ein verzauberter Spiegel gegen Drogen, die sogar einen Fae seine Probleme vergessen lassen konnten.

      Gresh hatte recht. Der Tote Rick brauchte den Goblin nicht, um ihm zu zeigen, wo er hingehen sollte. Er kannte seinen Weg durch das Labyrinth blind. Der Raum, zu dem er unterwegs war, hatte einen eingerissenen Boden, wo abgeschlagenes Gestein nackter Erde Platz machte, in die jemand eine Grube gegraben hatte. Dort unten packte ein Feenhund mit roten Ohren und blutbefleckter Schnauze eine Ratte und schüttelte das Nagetier, bis dessen Genick brach. Die Beobachter – hauptsächlich Fae und einige Sterbliche – feuerten ihn brüllend an. Der Tote Rick schob sich durch die Menge und bahnte sich seinen Weg zu der kurzen Treppe, die sich am gegenüberliegenden Ende befand. Bis er sie erreicht hatte, war Gresh in der tobenden Menge verschwunden.

      Die Treppe zeigte immer noch einen Hauch Kultiviertheit, obwohl die Schnitzereien am Geländer über die Jahre etwas mitgenommen worden waren. Der Raum, zu dem sie führte, zeigte etwas mehr als einen Hauch, größtenteils, weil der mit Ratten kämpfende Pöbel nicht hereingelassen wurde. Wenn seine Stühle auch nicht zusammenpassten, waren zumindest einige aus exotischem Holz geschnitzt, und der Teppich auf dem Boden strahlte immer noch in bunten Farben. Seidenbehänge an den Wänden halfen dabei, die Risse dahinter zu verdecken, das Anzeichen für unvermeidbaren Verfall.

      Und es waren nur zwei Leute hier, ein Fae und ein Sterblicher. Letzterer war in eine lächerliche Parodie einer Leibdieneruniform gekleidet, in einem Stil, der fünfzig Jahre zuvor schon altmodisch gewesen wäre, aber das war kaum wichtig. Wichtig war, dass er dort war, ohne konkreten Nutzen, und die Selbstgerechtigkeit seines Herrn nährte.

      Der den Toten Rick finster anstarrte. Nadrett wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann sagte er: »Ich erwarte, dass du hier bist, wenn ich dich brauche. Nicht, dass ich meine Goblins überall im Labyrinth nach dir suchen lassen muss.«

      Nach Goblinmarkt-Maßstäben machte er eine elegante Figur. Nicht in Fetzen und Lumpen gekleidet, auch stolzierte er nicht in einer bunten Sammlung Zigeunerseide herum. Seine Weste mochte zwar rot wie Kinderblut sein, doch sie war zurückhaltend geschneidert. Man musste genau hinsehen, um die Knöpfe aus Knochen, die Manschettenknöpfe aus verfilztem Haar zu sehen. Er trug keinen Mantel, hatte aber den seidenen Zylinder eines Gentlemans auf, geschmückt mit einer großen Nadel aus kristallenem Sternenlicht.

      Wovon nichts die Tatsache verbarg, dass sich Nadrett seinen Weg an die Spitze des Goblinmarkts mit einer Kombination aus Gerissenheit und Brutalität erkämpft hatte. Der Tote Rick war gezwungen, seinen Blick zu senken. »Tschuldigung. Ich hab bei den Käfigen vorbeigeschaut …«

      »Du hast hoffentlich nicht mein Eigentum berührt.«

      Der Tote Rick war nicht gut im Lügen. Sein Zögern verriet genug, und Nadrett fauchte einen Fluch. »Die da ist nicht hier, um Brot zu opfern. Hab einen Käufer, der will ein Mädchen, das nach Sterblichkeit stinkt. Wenn du sie ableckst, fängt sie an, stattdessen nach Feen zu riechen, und ich kriege keinen so guten Preis.«

      Er


Скачать книгу