Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit. Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit - Marie  Brennan


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war ihr viel kälter, als man mit der Morgenluft hätte erklären können. »Ich versuche, Krapfen zu verkaufen. Aber ich glaube, mit diesen hier bin ich so gut wie fertig. Ich sollte bald gebratenen Fisch holen, oder etwas anderes.«

      »Was du direkt hierher zurückbringst. Vielleicht stehst du ein bisschen am Krankenhaus herum oder am Gefängnis, aber du hältst dich, so lange du kannst, in der Nähe von Newgate, wenn du zumindest ein paar Pennys hast, um Abendessen und einen Schlafplatz zu bezahlen. Die feinen Gentlemen reden gerne über faule Leute, die sich nicht genug darum scheren, einen besseren Lohn zu verdienen – aber du bist die Einzige, die ich je getroffen habe, bei der das wahr ist.« Tom kratzte sich am Hals und betrachtete sie auf eine Art, die sie dazu brachte, weglaufen zu wollen. »Du redest anders, du kommst nicht aus einer richtigen Straßenhändlerfamilie … Ich weiß, dass die dich manchmal vertreiben, wenn du auf ihr Territorium kommst. Kurzum, du bist ein Mysterium, und schon seit du angefangen hast, hierherzukommen, versuche ich, dich zu verstehen. Was gibt es in der Nähe von Newgate für dich, Elizabeth Marsh, wofür du drei Monate damit verbringst, darauf zu warten, dass es aufkreuzt?«

      Ihre Finger fühlten sich wie Eis an. Eliza fummelte an den Enden ihres Schultertuchs herum, dann hörte sie auf, weil es nur Aufmerksamkeit darauf lenkte, wie ihre Hände zitterten. Was gab es da zu befürchten? Es war kein Verbrechen, hier herumzuhängen, solange sie ehrliche Arbeit betrieb. Tom wusste gar nichts. Soweit es ihm bekannt war, war sie einfach Elizabeth Marsh, und Elizabeth Marsh war niemand.

      Aber sie hatte sich für ihn keine Lügengeschichte ausgedacht, weil sie nicht erwartet hatte, dass er fragen würde. Ehe sich ihr Verstand ausreichend beruhigen konnte, um eine gute zu erfinden, wurde seine Miene zu sanfterem Mitleid. »Hast jemanden in Newgate, hm?«

      Er zuckte mit dem Kinn nach Westen, als er das sagte. Newgate im spezifischen Sinn, das Gefängnis, das in der Nähe stand. Was nahe genug an der Wahrheit lag – wenn nicht der echten Wahrheit –, dass Eliza die Chance erleichtert ergriff. »Meinen Vater.«

      »Dachte, es wär vielleicht ein Mann«, sagte Tom. »Du wärst nicht die erste Frau, die ohne Ring herumläuft. Wartest darauf, dass er rauskommt, oder hoffst, dass er das nicht tut?«

      Eliza dachte an das letzte Mal, als sie ihren Vater gesehen hatte. Vor vier Monaten, und die Worte, die sie gewechselt hatten, waren nicht nett gewesen – das waren sie nie –, aber sie hatte das völlig vergessen, nachdem sie aus dem Gefängnis marschiert war und jenes vertraute, verhasste Gesicht gesehen hatte.

      Sie zuckte unbeholfen mit den Schultern und hoffte, dass Tom das Thema wechseln würde. Je mehr Fragen sie beantwortete, desto wahrscheinlicher würde er bemerken, dass etwas seltsam war. Besser, es blieb bei einem namenlosen Vater mit einem ungenannten Verbrechen. Tom bohrte nicht weiter nach, sondern nahm eine seiner Zeitungen und fing an, die hinteren Seiten abzusuchen. »Da, schau dir das an.«

      Der Artikel über seinem zerfurchten Fingernagel war kurz, nur zwei knappe Absätze unter der Überschrift MR. CALHOUNS NEUE FABRIK. »Fabrikarbeit ist nicht schlecht«, sagte Tom. »Besser als Haushaltshilfe jedenfalls – keine Herrin, die einen ständig nervt, und einige Fabriken bezahlen mehr –, und es würde dich von hier wegbringen. Hier zu warten, wird dir nichts bringen, Lizzie, und wenn du so weitermachst, wirst du früher oder später Pech haben. So viel Pech, dass du ins Armenhaus musst.«

      »Ach, du versuchst doch nur, mich loszuwerden«, sagte Eliza. Es kam wegen der Enge in ihrer Kehle höher heraus als sonst. Tom war einfach nützlich. Seine Ecke war die beste zum Beobachten. Sie hatte nie mehr als das vorgehabt – niemals Freundschaft –, und seine Nettigkeit ließ sie umso mehr Schuldgefühle wegen ihrer Lügen empfinden.

      Aber er hatte recht, was die Arbeit anging. Sie war früher Dienstmädchen gewesen, bei einer italienischen Familie, die in Spitalfields gebrauchte Kleidung verkaufte. Ein Mädchen für alles zu sein, war ungeachtet der Familie wenig besser, als eine Sklavin zu sein. Viele Mädchen sagten, dass Fabrikarbeit vorzuziehen war, wenn man sie bekommen konnte. Aber Newgate zu verlassen …

      Sie konnte nicht. Ihr ungehorsamer Blick wanderte trotzdem zurück zu der Anzeige. Und dann sah sie, was darunter lag, das Toms Hand vorher verdeckt hatte.

      LONDONER FEENGESELLSCHAFT – Eine neue Vereinigung wurde in Islington gegründet, zum Verständnis von Großbritanniens schnell weniger werdenden Feeneinwohnern. Treffen am zweiten Freitag in jedem Monat in der White Lion St. 9, 7 Uhr abends.

      Eliza konnte sich kaum davor zurückhalten, Tom die Zeitung aus der Hand zu reißen, um die Worte anzustarren und zu sehen, ob sie verschwanden. »Darf ich?«, fragte sie.

      Sie hatte nur vor, es noch einmal zu lesen, doch Tom übergab ihr die Zeitung und winkte mit den Händen hinterher. »Behalt sie.«

      Die Kälte war verschwunden. Eliza war vom Kopf bis in die Zehen warm. Sie konnte nicht von den Worten wegsehen. Zufall – oder Vorherbestimmung? Vielleicht war es gar nichts: Leute mit Geld, die über kleine »Blumenfeen« plauderten statt über die Feen, die Art, die Eliza allzu gut kannte. Diese neue Gesellschaft wusste vielleicht gar nichts, was ihr helfen konnte.

      Aber ihre Alternative war es, hier zu warten, mit der schwindenden Hoffnung, dass es ihr irgendetwas nützen würde. Nur weil es eine weitere Bombe gegeben hatte, bedeutete das nicht, dass irgendwelche von den Leuten, die damit zu tun hatten, hier gewesen waren. Es hätte letzten Oktober reiner Zufall sein können, als sie ihn in Newgate gesehen hatte. Seitdem hatte sie beinahe jeden Tag hier verbracht und nicht einmal einen weiteren Blick auf ihn erhascht. Sie waren trickreiche Kreaturen, diese Feen, und nicht leicht zu erwischen. Aber vielleicht konnte diese Londoner Feengesellschaft ihr helfen.

      »Danke«, sagte Eliza zu Tom, faltete die Zeitung und stopfte sie in die ausgeleierte Tasche ihres Umhangs.

      Er zuckte mit den Schultern und sah geniert weg. »Ach, das ist doch nichts. Du fütterst mich oft genug mit Krapfen. Ich schulde dir wenigstens eine Zeitung dafür.«

      Sie dankte ihm gerade nicht für die Zeitung, aber das auszusprechen, hätte ihn nur noch unbeholfener gemacht. »Ich ziehe besser weiter«, sagte Eliza. »Diese Krapfen werden sich nicht von selbst verkaufen. Aber ich werde über die Fabrik nachdenken, Tom. Wirklich.« Das meinte sie auch so. Es wäre wundervoll, zu etwas wie einem normalen Leben zurückzukehren. Nicht mehr diese Existenz von einem Tag zum anderen, wo sie alles auf die Hoffnung auf eine zweite Glückssträhne setzte. Nach diesen drei Monaten würde sie sogar wieder in den Dienst bei den DiGiuseppes treten, nur um jeden Abend zu wissen, dass sie ein Dach über dem Kopf haben würde.

      Falls ein normales Leben überhaupt noch möglich war, nach allem, was sie durchgemacht hatte. Aber das war eine Frage für die Zukunft. Zuerst musste sie sich eine Fee fangen.

      Tom wünschte ihr Glück, und sie packte wieder die Griffe ihres Karrens und schob ihn durch Newgate auf einen Kerl in Holborn zu, der ihr gebratenen Fisch verkaufen würde, wenn sie den Rest ihrer momentanen Ware loswerden konnte. Ihr Blick machte seinen üblichen Tanz über die Menge, als sie ihre Waren anpries, doch sie sah nichts Ungewöhnliches.

      Der zweite Freitag. Das wird dann der Vierzehnte sein. Etwas mehr als zwei Wochen noch. Sie würde bis dahin hier weitermachen, wegen der geringen Chance, dass ihr Glück sich besserte. Aber Islington, hoffte sie, würde die Antworten liefern.

      DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

      2. März 1884

      Mit dem Klacken von Zehennägeln auf mit Rissen überzogenem schwarzem Gestein trottete der Hund in den Raum voller Käfige. Ein halbes Dutzend waren in der schmalen Kammer aufgereiht, drei pro Seite, die meisten mit schlafenden Menschen gefüllt. Im nächsten lag ein junges Mädchen allein auf schmutzigem Stroh, fest zusammengekrümmt. Der Hund trat schnüffelnd näher. Seine Nase strich über ihr Haar, dicht an den hölzernen Gitterstäben des Käfigs, und sie schreckte mit einem angsterfüllten Schrei hoch.

      Der Hund setzte sich auf seine Hinterbeine und betrachtete sie, während ihm die Zunge nur ein Stück heraushing. Das kam einem freundlichen Aussehen so nahe, wie ihm ein räudiges Ding wie er


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