Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit. Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit - Marie  Brennan


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Monster – ja. Genau das bin ich geworden.

      Der Tote Rick schüttelte sich, als könne er seine düstere Laune abschütteln wie Wasser. Wenn er hier scheiterte, würde Nadrett dafür sorgen, dass er mehr als nur düster gelaunt wäre.

      Er trabte schnell der Spur des Mädchens nach und folgte ihrem Geruch. Sein Innehalten hatte ihr Zeit gegeben, einen Vorsprung zu bekommen, und in Abwesenheit seines Knurrens war sie still geworden. Die Spur führte ihn über die Brücke. Er erhaschte am Geländer einen Hauch, als sei sie dort stehen geblieben und hätte das schmutzige Wasser betrachtet. Aber für ein Mädchen in einem Rock, das wahrscheinlich nicht schwimmen konnte, wäre es nur ein unglücklicher Selbstmord. Am Ende war sie weitergelaufen.

      Über ein Feld aus struppigem Gras, fast so hoch wie er. Der Tote Rick sprang über eine umgefallene Vase und hoffte, ihr den Weg abzuschneiden. Das Risiko zahlte sich aus: Sie kam den Pfad herunter auf ihn zu. Erneutes Knurren trieb sie in die andere Richtung, und jetzt wusste er, wie das hier enden würde. Normalerweise setzte er sie an der Wand fest, aber mit ein wenig Treiben …

      Sie stand kurz vor dem Ende ihrer Kräfte. Der Tote Rick erhöhte sein eigenes Tempo, bellte wie ein Wolf und sprang fast direkt an ihren Fersen ins Freie. Das Mädchen stürzte sich über den zerklüfteten Boden, die Treppe eines verfallenen Pavillons hinauf, und fiel längs über dessen Bodenbretter. Der Tote Rick sprang …

      Ihr Schrei hallte durch die Luft, und dann verstummte er.

      Die Pfoten des Toten Rick krachten auf ihre Brust hinab, und seine Kiefer schlossen sich knapp vor ihrer Nase. Das Mädchen unter ihm war vor Panik erstarrt, und ihr Mund stand weit offen und weitete sich immer wieder, als würde sie immer noch schreien, doch kein Geräusch kam heraus.

      Für einen Augenblick war da das Sehnen. Seine Zähne in jene verwundbare Kehle zu graben, das Fleisch herauszureißen und das heiße Blut aufzulecken, wenn es heraussprudelte. Der Tod gehörte zur Natur eines Skrikers. Es wäre einfach, solange er sie nicht als Person betrachtete – nur Fleisch und Furcht und eine Stimme, die man stehlen konnte.

      Aber das war Nadretts Art und die des Goblinmarkts. Der Tote Rick biss seine Schnauze zusammen, bis sie wehtat, und wich langsam zurück, wobei er vorsichtig auftrat, damit seine rauen Klauen das Mädchen nicht unter dem Kleid aufkratzten.

      Nadrett lehnte an einer Säule des Pavillons und ließ einen kleinen Krug von Hand zu Hand fliegen. »Das ist eine gute«, sagte er mit einem zufriedenen Grinsen. »Hervorragendes Material. Das wird einen guten Preis bringen, ganz bestimmt. Vielleicht lasse ich dich sogar was vom Gewinn haben, hm?«

      Wenn er irgendwelchen Stolz übrig gehabt hätte, hätte der Tote Rick das abgelehnt. Weil er das nicht tat, sprang er auf das Gras hinunter und lief ohne auch nur ein Knurren an Nadrett vorbei.

      Sein Herr lachte, als er hinausging. »Guter Hund.«

      Der Tote Rick schämte sich bei diesen Worten.

      WHITECHAPEL, LONDON

       4. März 1884

      Als sich der Straßenname von Fenchurch zu Aldgate High Street zu Whitechapel Road änderte, zeigte sich eine lebhafte Verwandlung. Binnen weniger als einer Meile kam Eliza von einem London in ein anderes, von den großen Geschäftshäusern und respektablen Läden der Innenstadt zu den einfachen Ziegelgebäuden und schmalen Hinterhöfen, die sie bis vor wenigen Monaten ihr Heim genannt hatte.

      Sie war sich den ganzen Vortag über mit sich selbst uneins gewesen, ob sie wirklich zurückkommen sollte. Eine Reihe guter Tage hatten ihr genug Geld für die Unterkunft der letzten und der kommenden Nacht gebracht, und es war noch genug übrig, um neue Waren zum Verkauf zu erwerben, doch ein Tag, den sie nicht mit Arbeit verbrachte, war ein Tag näher am Verhungern. Zu verkaufen, während sie unterwegs war, hätte jedoch dafür gesorgt, dass sie von den Straßenhändlern vertrieben würde, die in dieser Gegend arbeiteten, und außerdem wollte sie, dass nichts sie mit der Frau verband, die heiße Krapfen und andere Kleinigkeiten in der Innenstadt verkaufte. Deshalb blieb ihr Karren bei einer Frau in St. Giles untergestellt, bei der sie hoffentlich darauf vertrauen konnte, dass sie ihn nicht in dem Augenblick verkaufen würde, wenn Eliza ihr den Rücken zudrehte, und Eliza selbst hatte sich einen Tag freigenommen. Ein Risiko, ja – aber nicht mehr als die Rückkehr nach Whitechapel überhaupt.

      »Du hast ja Nerven, Eliza O’Malley, dein Gesicht hier offen zu zeigen.«

      Der Ruf kam aus der Tür eines Lumpenladens an der Ecke von George Yard. Eliza war drei Schritte weitergelaufen, ehe ihr bewusst wurde, dass sie stehen bleiben konnte: Es war nicht länger nötig oder nützlich, vorzugeben, sie sei Elizabeth Marsh, eine brave englische Straßenhändlerin. Jene, die ihr hier Schwierigkeiten machen wollten, wussten bereits, wer sie war.

      Also blieb sie stehen, drehte sich um und sah, wie Fergus Boyle am Türrahmen lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt und einen Fuß auf der Kiste, die er offensichtlich getragen hatte. Er grinste, als sie sich zu ihm umdrehte. »Hab dich erschreckt, hm?«

      Ihre Haut prickelte immer noch vom plötzlichen Schreck, als sie nach Monaten, in denen sie jemand anderen gespielt hatte, ihren Namen gehört hatte. Der gewohnte Akzent jedoch kam ihr ganz ohne Schwierigkeiten über die Lippen. »Hau ab, Fergus Boyle. Hast du nichts Besseres mit dir anzufangen, als mich zu ärgern?«

      »So, wie du verschwunden bist? Nö.« Mit dem Fuß schob er die Kiste an die Wand, damit sie unbeschadet blieb. Eliza blieb stehen, als er näherkam. »Du solltest die Geschichten hören. Manche denken, du wurdest ins Gefängnis geworfen, wie dein alter Paps. Diejenigen, die denken, dass du vorsichtig bist, sagen, dass du nach Amerika gefahren bist, egal wie du die Reise bezahlen würdest. Ich habe gewettet, dass du dich bei den Feniern versteckst. Hatten deine Freunde und du irgendetwas mit diesem Dynamit an der Victoria Station vor ein paar Tagen zu tun?«

      »Ich bin keine Fenierin«, sagte Eliza und warf einen misstrauischen Blick auf die Leute auf der Straße. Die Streifenpolizisten scherten sich kaum darum, die Ordnung in Whitechapel aufrechtzuerhalten, aber seit letztem Jahr achtete die neue Irische Sondereinheit sehr genau auf jegliches Flüstern über aufrührerische Aktivitäten.

      »Sicher«, sagte Boyle und grinste auf eine Art, die ihr nicht gefiel. »Du hattest letzten Herbst nichts mit Charing Cross zu tun. Du hast die Bombe nur zufällig rechtzeitig gesehen, um sie hinten aus dem Zug zu werfen. Purer Zufall war das.«

      Überhaupt kein Zufall – aber was konnte sie ihm erzählen? Dass die Bomben in Charing Cross und an der Praed Street nicht das Tun der Fenier gewesen waren, nicht vollständig? Dass sie Hilfe von Feen gehabt hatten? Boyle stammte von guten Leuten aus der Grafschaft Roscommon ab, der Sohn einer Bauerntochter und eines Kerls vom benachbarten Hof. Sie hatten ihre Geschichten mitgebracht, als sie während der großen Hungersnot nach London gekommen waren. Er glaubte an Feen, ganz klar. Aber sie waren Kreaturen, für die man Milch am Hintereingang ließ, um sie davon abzuhalten, die Kühe zu verhexen oder in der Nacht das Haar der Kinder zu verfilzen. Keine in der Großstadt lebenden Goblins, die Bahnstrecken sprengten.

      Was das betraf: Ihm zu erzählen, warum sie einem Fae in die U-Bahn gefolgt war … Das hatte sie schon einmal versucht, vor beinahe sieben Jahren. Nicht bei Fergus Boyle, aber bei anderen Leuten. Und keiner von denen hatte zugehört.

      »Ich kann nicht lange bleiben«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass er ihren Themenwechsel als Beweis dafür betrachten würde, dass er richtig lag. »Was genau willst du? Mir einfach nur erklären, dass ich Nerven habe?«

      »Bleibst nicht lang, hm? Und zu was musst du zurückeilen?« Boyle trat noch näher, sodass er über ihr aufragte. »Oder ist es so, dass du Angst hast, dass die Jungs von der Sondereinheit dich erwischen?«

      Eliza schubste ihn hart an der Schulter, was ihn ein Stück zurücktaumeln ließ. »Jedenfalls habe ich mit meiner Zeit Besseres zu tun, als sie damit zu verbringen, mit Kerlen wie dir zu plaudern.«

      Fergus’ spöttisches Grinsen verflog ein wenig. »Ach, du willst nicht Mrs. Darragh ärgern, oder?«

      »Nein.«


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