Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit. Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit - Marie  Brennan


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beibringen und sie vor diesem schrecklichen, schrittweisen Tod retten.

      Das hofft sie, und sie hofft es schon länger, als sie sich erinnern kann. Doch jeder Stich bringt das Messer so viel näher an ihr Herz.

      So oder so, sie wird nicht viel länger durchhalten müssen.

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      Die Monsterstadt strotzte vor Leben. Ihre Straßen, wie große und kleine Arterien, pulsierten im Verkehrsstrom: Hackneys und Privatkutschen, Omnibusse, die vor Passagieren drinnen und draußen fast platzten, Pferdetrams, die auf ihren Eisenschienen vorbeiratterten. Fußgänger, Reiter, Menschen auf den unglaublichsten Rollern und Fahrrädern. Auf dem Fluss Schiffe: Wälder aus Masten und Kaminen, Segelschiffe, die Fracht hin und her transportierten, Fähren, die Passagiere auf Stege spuckten, die vom stinkenden Ufer wegragten. Züge donnerten aus den Vorstädten herbei und wieder hinaus, die Bevölkerung stieg an und sank, als würde die Stadt atmen.

      Die Luft, die ihre Lungen füllte, war aus zahllosen verschiedenen Arten der Menschlichkeit gemacht. Die Hochgestellten und die Niedriggestellten, die vor Diamanten oder Tränen der Verzweiflung glitzerten, Dutzende Sprachen in Hunderten Akzenten hören ließen, dicht gedrängt lebten, übereinander und untereinander und nebeneinander, doch völlig unterschiedliche Welten bewohnten. Die Stadt schloss sie alle ein: Lebend und sterbend bildeten sie einen Teil des gewaltigen Organismus, der täglich drohte, sie mit seinem gleichzeitigen Wachsen und Verfall zu ersticken.

      Dies war London, in all seinem Schmutz und seiner Pracht. Mit Nostalgie für die Vergangenheit, während es danach strebte, die Ketten vergangener Zeitalter zu sprengen und nach vorn in die strahlende Utopie der Zukunft zu treten. Stolz auf seine Leistungen, doch voll Verachtung für seine eigenen Makel. Ein Monster, sowohl in Größe als auch Charakter, das die Unachtsamen verschlingen und in nicht wiederzuerkennender und niemals erträumter Form wieder ausspeien würde.

      London, die Monsterstadt.

      DIE INNENSTADT VON LONDON

      26. Februar 1884

      »Heiße Krapfen! Einen Viertelpenny pro Stück, warm an einem kalten Morgen! Wollen Sie einen Krapfen kaufen, Sir?«

      Der Ruf hallte durch die Luft und verlor sich unter anderen, wie ein Vogel in einem Schwarm. Eine Dampfwolke aus dem offenen Schacht entlang der Farringdon Road kündigte die Ankunft eines unterirdischen Zuges an. Eine Minute später spuckte der Bahnhof darüber eine Menschenmasse aus, die sich jenen anschloss, die durch die Kraft ihrer eigenen Füße in die Stadt gekommen waren. Sie schlurften den Snow Hill entlang und zum Viadukt von Holborn hinauf, gähnend und schläfrig, und so viele von ihnen, dass sie Kutschen und Omnibusse anhalten ließen, wenn sie über die Straßenkreuzungen strömten.

      Die Stimme einer Straßenverkäuferin musste kräftig sein, um über den Gesprächen und Schritten und Kirchenglocken, die sieben Uhr läuteten, gehört zu werden. Eliza füllte ihre Lunge und brüllte wieder: »Heiße Krapfen! Direkt aus dem Ofen! Nur einen Viertelpenny pro Stück!«

      Ein Kerl hielt inne, kramte in seiner Tasche und gab ihr einen Penny. Die vier Krapfen, die Eliza ihm im Tausch überreichte, waren heiß gewesen, als sie ihre Ladung vor einer Stunde abgeholt hatte. Seither hatten sie nur ein wenig Wärme gehalten, weil sie dicht beieinander lagen. Aber das hier waren die Sekretäre, die tintenbefleckten Männer, die in den Geschäftshallen der Stadt viele Stunden für wenig Geld hart arbeiteten. Sie würden nicht über den Wahrheitsgehalt ihrer Werbung diskutieren. Zu dem Zeitpunkt, bis die wohlhabenden Höhergestellten zur Arbeit kamen, in drei Stunden oder so, würde sie ihre Ware verkauft und ihren Karren mit etwas anderem gefüllt haben.

      Falls alles gut lief. Gute Tage waren diejenigen, an denen sie immer wieder die Straßen entlanglief, jede Runde mit neuen Waren: Schnürsenkel für Stiefel, Bänder für Strümpfe, Schwefelhölzer, selten sogar Zigaretten. An schlechten Tagen pries sie bei Sonnenuntergang noch kalte, zähe Krapfen an und hatte keinen Trost, außer dass sie an jenem Abend etwas zu essen haben würde. Und manchmal konnte sie den Betreiber eines Nachtasyls überreden, dass er einige im Tausch gegen einen Platz auf seiner Bank nahm.

      Der heutige Tag fing gut an. Sogar ein Krapfen von nur mäßiger Wärme war an einem kalten Morgen wie diesem eine gewisse Annehmlichkeit. Aber kühles Wetter machte die Männer am Nachmittag und Abend mürrisch, wenn sie ihren Kragen hochklappten und ihre Hände in die Taschen schoben und nur an den Zug oder Omnibus oder langen Marsch dachten, der sie nach Hause bringen würde. Eliza wusste es besser, als anzunehmen, dass ihr Glück anhalten würde.

      Zu dem Zeitpunkt, als sie Cheapside erreichte und der Menge aus Männern auf ihrem Weg zu den Bürogebäuden folgte, wurde das Gedränge auf den Straßen dünner. Jene, die noch draußen waren, hasteten weiter aus Angst, dass ihnen für eine Verspätung Lohn abgezogen würde. Eliza zählte ihre Münzen, steckte versuchsweise einen Finger zwischen die übrigen Krapfen und beschloss, dass sie kalt genug waren, dass sie einen für sich selbst entbehren konnte. Und Tom Granger war immer willens, sie für eine Weile bei ihm sitzen zu lassen.

      Sie lenkte ihre Schritte zurück zur Ecke der Ivy Lane, wo Tom halbherzig Ausgaben der Times vor Passanten schwenkte. »Mit dieser faulen Hand wirst du sie nie verkaufen«, sagte Eliza und stellte ihren Karren neben ihm ab.

      Sein Grinsen war so schief wie seine Schneidezähne. »Warte bis morgen. Bill sagt, dass wir dann aufregende Neuigkeiten haben.«

      »Ach?« Eliza bot ihm einen Krapfen an, den er annahm. »Skandal, oder wie?«

      »Besser. Es hat wieder eine Bombe gegeben.«

      Sie hatte gerade einen großen Bissen genommen. Er verfing sich in ihrer Kehle, und für einen Moment befürchtete sie, dass sie ersticken würde. Dann rutschte er hinunter, und sie hoffte, dass Tom, falls er ihre Panik gesehen hatte, es dem zuschreiben würde. »Wo?«

      Tom hatte sich bereits den halben Krapfen in den Mund gestopft. Seine Antwort war völlig unverständlich. Sie musste warten, bis er genug gekaut hatte, um zu schlucken. »Victoria Station«, sagte er, sobald er wieder deutlicher sprechen konnte. »Gleich heute früh. Hat den Fahrkartenschalter und alles halb bis zum Mond gepustet. Aber keiner verletzt – schade. Wir verkaufen mehr Zeitungen, wenn’s Tote gibt.«

      »Wer hat das getan?«

      Er zuckte mit den Schultern, dann wandte er sich ab, um einem Mann im Flanellmantel eines Tischlers eine Zeitung zu verkaufen. Als das erledigt war, sagte er: »Harry denkt, es war eine Gasleitung, die hochgegangen ist, aber ich schätze, das waren wieder die Fenier.« Er spuckte auf die Pflastersteine. »Verdammte Irenschweine. Sie verkaufen Zeitungen, das geb ich ja zu, aber die und ihre Drecksbomben, hm?«

      »Die und ihre Drecksbomben«, wiederholte Eliza und starrte den Rest ihres Krapfens an, als würde er ihre Aufmerksamkeit brauchen. Jeglicher Appetit war ihr vergangen, aber sie zwang sich, trotzdem fertig zu essen. Ich habe es verpasst. Während ich an eine Bank gebunden geschlafen habe, war er hier, und ich habe meine Chance verpasst.

      Tom schimpfte weiter über die Iren, gestand ihnen zu, dass sie verteufelt kräftige Kerle und gut für harte Arbeit seien, aber vor einigen Tagen sei ein Paddy dahergekommen, dreist ohne Ende, und hätte versucht, Zeitungen zum Verkaufen zu bekommen. »Bill und ich haben ihn ganz schnell verjagt«, sagte Tom.

      Eliza teilte seine Genugtuung nicht im Geringsten. Während Tom sprach, suchte ihr Blick die Straße ab, als könnten hektische Versuche jetzt ihr Scheitern wiedergutmachen. Zu spät, und das weißt du. Was hättest du überhaupt getan, wenn du letzte Nacht hier gewesen wärst? Wärst du ihm wieder gefolgt? Das hat ja letztes Mal sehr gut geklappt. Aber du hast deine Gelegenheit verpasst, es besser zu machen. Sie war überrascht, als Tom seine Tirade unterbrach und sagte: »Drei Monate sind es jetzt, und ich verstehe dich immer noch nicht.«

      Sie hoffte, dass ihr Blick nicht so offensichtlich verblüfft war, wie er sich anfühlte. »Was meinst du?«

      Tom deutete auf sie und schien sowohl die zerlumpte


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