EQUALIZER. Michael Sloan
sie vielleicht 17 war. Sie hatte eine gewisse Zerbrechlichkeit, die attraktiv und verstörend zugleich wirkte. Aber sie strahlte auch Ruhe aus. Als lebte sie in ihrer eigenen Welt. McCall war sich nicht sicher, dass sie da so glücklich war. Und im Moment waren ihre wunderschönen Augen feucht und Tränen schimmerten darin. Er merkte, dass ihre Hände leicht zitterten.
Als er wieder an der Bar war, stellte er das Tablett ab. Andrew Ladd, der zweite Barkeeper, ein junger, aufstrebender Stückeschreiber, nahm gerade die sauberen Gläser aus der Spülmaschine, trocknete sie ab und hängte sie in die Halterungen über der Bar.
»Kannst du mal kurz die Bestellungen machen, Kumpel?«, fragte McCall.
Er lächelte. »Sicher. Ich glaube nicht, dass ich hier in dem Ansturm totgetrampelt werde.«
McCall ging zur ersten Nische und setzte sich dem Teenagermädchen gegenüber. Sie sah ihn an. Blickte direkt durch ihn durch. Es kam ihm so vor, als konnte sie den echten Mann unter der Oberfläche sehen – gefährlich, ruhelos, isoliert – nicht Bobby Maclain.
»Wie geht’s dir, Natalya?«, fragte er mit ruhiger Stimme.
Sie nickte nur. Es war keine Antwort auf seine Frage, aber zumindest hörten ihre Hände zu zittern auf.
»Weiß deine Mutter, wo du bist?«
Sie nickte.
»Triffst du dich hier mit ihr?«
Ein Achselzucken.
»Willst du was zu trinken? Wie wäre es mit einer Cola light?«
Sie nickte.
Er wollte gerade aus der Sitznische rutschen, als sie die Arme ausstreckte und seine Hände packte. Fest. Ihr Blick war flehend.
»Was ist los? Stimmt was nicht?«
Sie starrte ihn nur an.
»Ein Problem mit deiner Mutter?«
Sie nickte.
»Zwischen euch beiden?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Jemand, den deine Mom kennt? Ihr Freund?«
Sie schüttelte heftig den Kopf, sagte McCall damit, dass es keinen Freund gab.
»Jemand, mit dem sie arbeitet?«
Sie nickte. Dann starrte sie ihn weiter an. Als wollte sie, dass er ihre Gedanken las. Er wusste nicht, ob sie nicht reden konnte oder nicht wollte. Mit dem Hören hatte sie anscheinend keine Probleme. Sie war nicht taubstumm, obwohl er sie nie ein einziges Wort hatte sagen hören, wenn sie und ihre Mutter ins Bentleys zum Mittag- oder Abendessen kamen.
»Ich hol dir deine Cola.«
Sie ließ seine Hände los. Er rutschte aus der Sitznische. Mit ihrer Mutter hatte er nicht viel geredet. Höchstens um ihre Getränkebestellung aufzunehmen, ihnen zu sagen, dass gleich ein Kellner kam, bei dem sie Essen bestellen konnten, oder sie zu fragen, wie ihnen New York City gefiel. Er wusste, dass sie aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion kamen. Er hatte Katia auf Russisch am Handy reden hören. Der Gedanke ließ ihn auf halbem Weg zur Bar innehalten. Nicht Russisch. Tschetschenisch. McCall konnte fließend Russisch und verstand ein paar Brocken Tschetschenisch.
Er glaubte nicht an Zufälle. Seit fast einem Jahr lebte und arbeitete er in diesem Viertel in New York. Auch wenn er eine Menge Leute kennengelernt hatte, kannte er niemanden davon besonders gut. Eigentlich lernte er nie jemanden wirklich gut kennen. Die Leute aus der Nachbarschaft waren kaum mehr als Bekannte, aber sie kamen ihm doch wie eine erweiterte Familie vor. Katia hatte eine lebhafte Persönlichkeit, die einfach ansteckend war. Man konnte nicht anders als zu lächeln. Aber da war auch eine gewisse Traurigkeit, die sie manchmal wie ein Mantel umgab. Er hatte immer das Gefühl gehabt, es habe mit ihrer Tochter zu tun. Aber vor Kurzem war ihm der tschetschenische Einfluss hier in der Nachbarschaft aufgefallen.
Hatte diese Finsternis auch Katia und ihre Tochter beeinflusst?
McCall duckte sich unter der Klappe der Bar durch. Laddie gab ihm ein sauberes Glas. McCall nahm den Getränkeschlauch mit dem Pistolengriff und drückte den Knopf für Cola light. Er ließ den Blick durch das Restaurant schweifen, während es ins Glas sprudelte. Karen und ihre Freunde hatten in ihrer Nische die Köpfe zusammengesteckt, sie planten vermutlich das Ableben des Stalkers. McCall sah in Richtung des Empfangspultes und der ersten Sitznische. Natalya schrieb etwas auf die Rückseite der Cocktailkarte, die geformt war wie ein englischer Bentley. Durchs Fenster sah McCall Katia die Straße entlang auf das Restaurant zugehen.
McCall duckte sich wieder unter der Barklappe durch und trug die Cola light zu Natalyas Nische. Er kam in dem Moment am Tisch an, als Katia durch die Eingangstür trat. Die Empfangsdame des Bentleys, eine schlanke, junge asiatische Frau namens Sherry, die aussah wie eine kleine Puppe, die zum Leben erwacht war, hatte gerade ihren Dienst angetreten. Sie lächelte Katia an, in der sie eine Stammkundin erkannte, und nahm eine Speisekarte in die Hand. Katia schüttelte den Kopf und ging an der Empfangsstation vorbei. McCall stellte das Glas Cola vor Natalya.
Katia erreichte die Nische. Sie wirkte sehr angespannt.
»Hallo, Bobby. Wie lange ist sie schon da?«
»Nur ein paar Minuten. Wolltest du sie nicht hier treffen?«
»Nein. Ich war spazieren. Als ich zur Wohnung zurückkam, war sie weg. Aber es gibt nur ein paar Orte, zu denen sie geht. Die Bibliothek. Washington Square Park.« Sie langte über den Tisch und berührte den Arm ihrer Tochter. »Natalya, wir müssen nach Hause, bevor ich zur Arbeit gehe.«
Natalya schüttelte den Kopf. Katia seufzte, rutschte in die Nische und setzte sich neben sie. Der Teenager rutschte auf die andere Seite. Katia redete leise mit ihrer Tochter. McCall hatte sie den Rücken zugewandt. Er konnte die leisen, drängenden Worte nicht verstehen, aber der Tonfall war selbsterklärend. Sie sollte tun, was man ihr sagte. Natalya war verängstigt. McCall stand einen langen Moment herum, er wollte nicht gehen.
»Kann ich irgendwas tun?«
Katia drehte sich um und sah zu ihm hoch, nicht unbedingt verächtlich, aber der Blick sagte alles. Du bist ein Barkeeper in Bentleys Bar & Restaurant, wie kannst du mir schon helfen? Ein Lichtblitz erregte McCalls Aufmerksamkeit. Er blickte auf ihre Hände. Sie drehte ein kleines silbernes Rechteck in der Hand. Ein Streichholzbriefchen. Er konnte den Namen Dolls in geprägter silberner Schrift darauf erkennen.
»Danke«, sagte sie. »Aber du kannst nichts tun.« Dann, eher zu sich selbst: »Niemand kann irgendwas tun.«
Durch das Fenster sah man einen schwarzen Lexus, der vor dem Bentleys am Straßenrand hielt. Ein junger, dunkelhaariger Mann in einem dreiteiligen Anzug mit einer protzigen, goldenen Uhrkette daran stieg aus der Fahrerseite. McCall hatte ihn schon mal gesehen. Einer der jungen tschetschenischen Schlägertypen, die gemütlich im Luigi’s beim Essen gesessen und am nächsten Morgen den alten Moses im Antiquitätengeschäft aufgescheucht hatten. Katia wandte sich wieder ihrer Tochter zu und packte sie fester am Arm. Sie redete leise mit ihr auf Tschetschenisch. Die Tränen, die Natalya schon vorher in den schönen Augen gestanden waren, flossen jetzt ihre Wangen hinab. Sie nickte. Mutter und Tochter rutschten aus der Sitznische. Katia wühlte in ihrer Jackentasche und holte ein paar Dollarscheine heraus.
»Die Cola geht aufs Haus«, sagte McCall.
»Danke.«
Sie gingen in Richtung der Vordertür. McCall griff Katia sachte an den Arm.
»Katia …«
»Bitte, ich muss gehen.«
Sie verließen das Restaurant. McCall veränderte seine Position, damit er besser sehen konnte, wer hinten in dem Lexus saß. Er hörte, wie Katia den Fahrer »Kuzbec« nannte. Der junge Tschetschene öffnete die Hintertür für sie. Höflich und respektvoll. McCall sah einen Moment Bakar Daudovs Gesicht im Halbschatten des Rücksitzes. Dann wurde er von den beiden einsteigenden Frauen verdeckt und Kuzbec schloss die Tür. Er setzte sich hinters Steuer und scherte in den Verkehr ein,