101 GEDANKEN AN TOM. Gabriele Hasmann

101 GEDANKEN AN TOM - Gabriele Hasmann


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      Die nächsten Schritte, die ich nun tun muss, damit ich nicht komplett meine Selbstachtung verliere, sind die ins Badezimmer.

      Während ich die Beißerchen aus Angst vor Karies niemals vernachlässigen würde, ist es dem Rest meines Körpers in den letzten Tagen weniger gut ergangen. Aufgrund momentan nicht verpflichtend notwendiger sozialer Integration – ich habe frei, muss also nicht in die Redaktion, und besitze außerdem ausreichend Lebensmittel auf Vorrat – sehe ich recht speckig aus. Das Haar klebt in fetten Strähnen am Kopf und mein Gesicht glänzt wie traniger Fisch, der Blick in die Augen meines Spiegelbilds ist leer. Der Pyjama verströmt ein muffiges Geruchsgemisch, das ich, müsste ich es benennen, als Schweißkäsemoder bezeichnen würde. Haben Sie es jetzt auch in der Nase?

      Eine Generalsanierung muss vorgenommen werden, zumindest eine des Körpers, sonst lässt sich dieser jämmerliche Zustand womöglich nicht mehr ändern und ich kann nie wieder unter Menschen gehen. Zudem will ich nicht riskieren, dass die neugierige Nachbarin glaubt, in meiner Wohnung verwest etwas. Auf meinen vernachlässigten Geist kann ich derzeit keine Rücksicht nehmen – hoffentlich verblöde ich nicht komplett. Und die Seele wird noch schlimmer verdrecken, als sie es aufgrund des Unrats aus meiner Kindheit ohnehin schon ist. Danke, Tom, du Wichser, für dieses Elend!

      Ich wasche, shampooniere und rasiere, steige wenig später lavendelduftend und mit rund einem Drittel weniger Haare am Körper aus der Dusche und wickle mich in mein flauschigstes Badetuch. Zum ersten Mal seit Tagen fühle ich mich ein bisschen wohl. Trotz des verbalen Abschusses vor zwölf Tagen – mitten ins Herz: »Jerry, ich habe mich in eine andere Frau verliebt.«

      Was werde ich heute tun? Soll ich wieder einmal den Computer starten? Sicher quillt mein Mailkasten vor elektronischen Briefen schon über. Und im sozialen Netzwerk meines Vertrauens haben mir reelle und virtuelle Freunde während der Kommunikationsstoßzeit unmittelbar nach der Trennung von Tom – dieser Gedanke zählt jetzt aber eindeutig nicht, denn es handelt sich ausschließlich um eine Feststellung – wahrscheinlich bereits Hunderte Posts hinterlassen. Darunter befinden sich vermutlich zahlreiche sinnleere Fragen wie Lebst du noch *lol*? Oder, noch schlimmer, Trostparolen à la Andere Mütter haben auch hübsche Söhne. Vermutlich haben die besonders empathischen Personen sogar ein paar laientherapeutische Maßnahmen nach dem Motto Wir gehen raus und lassen es krachen! Also melde dich! vorgeschlagen. Übrigens habe nicht ich das Aus der Beziehung unserer gemeinsamen Online-Community verkündet, sondern Tom. Und der Gedanke gilt auch nicht!

      Ich will den PC gar nicht hochfahren und im Posteingang nachsehen, habe keine Lust, mich zu rechtfertigen, weil ich noch lebe, nicht an andere hübsche Söhne denken mag – außer, sie würden sich in genau diesem Moment nackt und voller Sehnsucht nach mir in meinem Bett wälzen – oder zwangsbespaßt werden möchte. Da meine Aufmerksamkeitsspanne, sobald ich das Interesse auf andere Menschen richten muss, etwa der eines Regenwurms entspricht, wäre ich auch kein guter Kommunikationspartner.

      Und bei Ego-Floskeln in Richtung »Weißt du, auch mir wurde schon einmal das Herz gebrochen …« würde ich spontan den Wunsch verspüren, mich zu entleiben. Deshalb gehe ich nicht ans Telefon.

      Geduscht und geföhnt marschiere ich erst mal in die Küche zurück. Früher habe ich einen Kaffee und eine Zigarette gefrühstückt, doch das Rauchen hat mir Tom abgewöhnt.

      Gedanke Nummer acht an den Scheißkerl seit dem Aufstehen. Sollte ich wieder damit beginnen, an mit getrocknetem Kraut gefüllten, brennenden Papierröllchen zu nuckeln? Weil’s schmeckt! Oder aus Trotz. Oder einfach deshalb, weil es keinen Weltfrieden gibt. Wen interessiert schon der Grund? Was meinen Sie? Zunächst einmal beschließe ich, Tabakpflanzenschützerin zu bleiben und meinen Drogenkonsum auf Kaffee zu beschränken.

       Tag 13: Makabre Gedanken und eine Barbie für Arme

      Wie werde ich den heutigen Tag verbringen? Wie oft im Laufe der quälend langsam verstreichenden Stunden meinen Ex-Freund verfluchen? Und wie häufig werde ich ihn und seine neue Freundin im Geiste massakrieren und vor dem inneren Auge dahinscheiden sehen? Meine Fantasie in Bezug auf diese in der Vorstellung recht abwechslungsreich gestalteten Doppelmorde als blühend zu bezeichnen, wäre ironisch – meine destruktiven Visionen hinterlassen nur verbrannte Erde, in der garantiert nichts mehr gedeiht. Und ich genieße sie, meine geistig zelebrierten Bluträusche, in denen Kettensägen, Glasscherben und ätzende Säuren keine unwesentlichen Rollen spielen, ebenso wie mich reuevoll um Vergebung anflehende Opfer, die im Finale des Vergeltungsakts qualvoll verrecken.

      Aber die noch viel wichtigere Frage neben der, wie oft ich in meiner Vorstellung zur Zeugin, Richterin und Henkerin in einer Person werde, ist: Wie oft würde ich heute wieder daran denken, nicht nur das Leben anderer Personen, sondern auch mein eigenes zu beenden? In den letzten zwölf Tagen geschah dies bestimmt zwanzigmal! Mindestens zehn von rund fünfzig mir eingefallenen Möglichkeiten, Selbstmord zu begehen, habe ich ernsthaft in Erwägung gezogen, die anderen vierzig könnte man als masochistische Hirnwichserei bezeichnen. Doch die verbliebenen Varianten sind durchaus praktikabel, um sich aus dem Spiel zu nehmen und vom Diesseits ins Jenseits zu befördern, auch wenn sie sicherlich nicht häufig vorkommen. Bei etwa der Hälfte davon wird das Duell mit dem Sensenmann einsam ausgetragen, die verbliebenen Versionen eignen sich dafür, als öffentliches Spektakel inszeniert zu werden.

      Aber vielleicht murkse ich mich letztendlich doch mittels einer der gängigeren Arten ganz seriös ab: Ich lege zuerst die Vinylscheibe (ja, ein paar von denen existieren noch außerhalb eines Museums) mit dem Song »Gloomy Sunday« auf den Plattenspieler (ja, ich besitze so ein Ding) und mich dann in die mit warmem Wasser gefüllte Badewanne. Anschließend schneide ich mir die Pulsadern an den Handgelenken auf – klar, der Länge nach, ich bin doch kein Amateur – und blute langsam aus, bis mein Körper nur noch eine blasse Hülle ist und sich die Seele hoffentlich auf einem psychedelischen Ritt ins Universum befindet. Doch zuvor würde ich jede Menge Maiskörner essen – für die Party danach, wenn mein Leichnam, wie von mir gewünscht, in den Verbrennungsofen geschoben wird. Plopp, plopp, plopp! Übrigens, falls Sie es nicht wissen: Bei »Gloomy Sunday« handelt es sich um ein im Jahr 1933 komponiertes Lied des ungarischen Pianisten Rezső Seress, auch bekannt als »Lied der Selbstmörder«. Obwohl der melancholische Titel, den bis heute über fünfzig verschiedene Musiker interpretiert haben, von staatlicher Seite nie verboten wurde, weigerten sich früher viele Radiosender, dieses Lied zu spielen.

      Doch zurück zur Entleibung. Befremdlich finde ich die Aussage mancher Suizidaler, mit ihrem Freitod niemanden belasten zu wollen. Ich denke, sogar eine Ameise würde mit ihrem Selbstmord andere Ameisen verdrießlich stimmen … Wie sollte es dann einem Menschen gelingen, von der Trauer der Angehörigen und Freunde einmal abgesehen, niemanden in Mitleidenschaft zu ziehen? Was ist mit den Leuten, welche die Leichenteile der von Dächern gesprungenen Personen aufsammeln und später zusammenpuzzeln oder nach einem Kopfschuss Blut und Hirnmasse der Lebensüberdrüssigen von den Wänden kratzen müssen? Auch wenn es zum Berufsrisiko zählt: Emotional wenig erfreulich ist der Anblick eines qualvoll gestorbenen Menschen in jedem Fall. Und unaufdringliche Todesarten, die keinen zerfetzten, von diversen Körperflüssigkeiten besudelten oder aufgeblähten Leichnam hinterlassen, sind selten. Mir fiele zur Entlastung der involvierten Personen nur ein: sich in einer kühlen Aufbahrungshalle mit Spucklätzchen um den Hals und Windel in der Hose vergiften und im Augenblick des Todes versuchen, die schrecklichen Schmerzen zu ignorieren und einen glücklichen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Auf diese Weise belastet man womöglich so wenig Mitmenschen wie möglich. Ansonsten … schwierig, schwierig, meinen Sie nicht auch?

      Und dann wäre da noch das Testament, dessen Aufsetzung ein kniffliges Unterfangen darstellt. Ich könnte mich niemals einfach so aus dem Staub machen und mein Nachleben ungeregelt hinterlassen – so wie ich es auch nicht fertigbrächte, in den Urlaub zu fahren, ohne vorher meine Wohnung aufzuräumen. Ordnung muss sein.

      Natürlich müssten in diesem Dokument nicht nur die Vererbungsanweisungen, sondern auch die Bestattungs- beziehungsweise Kompostierungswünsche meiner sterblichen Überreste festgehalten werden. Da ich mich nicht als Wurmfutter sehe, lasse ich mich in den Ofen schieben und pulverisiert irgendwo aufstellen


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