101 GEDANKEN AN TOM. Gabriele Hasmann

101 GEDANKEN AN TOM - Gabriele Hasmann


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und Verfahrensvarianten mit meiner Leiche so meine Gedanken mache, sind Wiedergeburt und karmische Altlasten. Ich verspüre wenig Lust darauf, noch ein weiteres Mal einen Fuß auf diese Welt zu setzen, auf der es sich höchst unsicher existiert, man jederzeit von einem Meteoriten erschlagen, einer Springflut ersäuft oder einem Terroristen erschossen werden kann und nur die Erdanziehungskraft verhindert, dass einen das Weltall in seine unendlichen Weiten saugt. Noch dazu, wo man gar nicht weiß, als was man wieder in das irdische Leben befördert wird, womöglich als Hausstaubmilbe oder Blobfisch. Na, vielen Dank auch! Hätten Sie darauf etwa Lust? Seit Jahren versuche ich, nur noch leichtfüßig durch die Gegend zu tänzeln, damit ich nicht versehentlich einen Wurm zertrete. Keine Lust auf mieses Karma!

      Ich stelle fest, dass ich immer noch in der Küche sitze und schon eine halbe Stunde lang nicht mehr an Tom gedacht habe … okay, jetzt schon … und mittlerweile kalten Kaffee schlürfe, obwohl ich die Schönheit jetzt auch nicht mehr brauche.

      Es ist fast Mittag. Soll ich mich ins Wohnzimmer schleppen und mich vom Fernseher anplärren lassen? Bin ich schon dazu in der Lage, endlich den Artikel über die Vor- und Nachteile von Online-Dating aus der Sicht einer Frau zu verfassen, auf den Gregor, mein Redaktionschef, wartet? Wenn ich nur daran denke, diese Thematik zu betexten, möchte ich mich über die Klomuschel hängen und kotzen oder vom Balkon stürzen. Nein, ich bin eindeutig noch nicht so weit, über Flirts, Liebe und Sex zu schreiben. Vielleicht morgen. Vielleicht. Ein bisschen Zeit gibt mir mein Vorgesetzter sicher noch, außerdem bin ich offiziell bis Ende der Woche im Urlaub.

      Seufzend schütte ich den Rest des Kaffees weg und stehe danach unschlüssig herum. Welchen Weg werde ich einschlagen? Den nach rechts ins Wohnzimmer oder nach links geradewegs zurück ins Bett?

      Das Handy läutet. Es ist meine Mutter, die hören will, ob ihre Tochter immer noch in Selbstmitleid badet oder schon darin ertrunken ist. Wenn ich nicht rangehe, steht sie womöglich in einer halben Stunde vor der Tür, räumt mich – meine Einwände und das ausgesprochene Zutrittsverbot ignorierend – beiseite und dann im Anschluss vermutlich die Wohnung auf. Dabei würden garantiert Worte wie »Rücksichtslosigkeit«, »Saustall« und »Katastrophe« fallen, gemurmelt selbstverständlich, damit man im Fall der Fälle abstreiten kann, so etwas jemals gesagt zu haben. Im schlimmsten aller Szenarien hätte sie eine Schüssel mit gelblichgrauer Flüssigkeit in ihrer riesigen Altfrauentasche und würde mich mit Plattitüden wie »Hühnersuppe heilt Körper und Seele« foltern. Zudem kenne ich ihre Kochkünste: Ich würde angeekelt vor der gesund und daher fettarm produzierten Plörre sitzen und feststellen, dass mehr Augen in den Teller hinein- als herausschauen.

      Angesichts dieser Horrorvision gehe ich ans Telefon und melde mich mit einem fröhlichen »Hallo!«. Meine Mutter wartet etwa drei Sekunden lang, bevor sie antwortet – ich hoffe, die Pause ist nicht aus der Überraschung heraus entstanden, dass ich noch lebe.

      »Kind!«, ruft sie, ebenfalls betont munter. »Wie geht es dir?« Bevor ich antworten kann, beginnt sie wie eine im Zeitlupentempo feuernde Maschinenpistole, die Eckdaten ihrer Erlebnisse der letzten beiden Tage herunterzurattern: Tante Elisabeth getroffen, Laub gerecht, Vater zum Arzt gefahren … »Und wann kommst du endlich bei uns vorbei?«, endet sie nach einer gefühlten Stunde, ohne wissen zu wollen, wie es mir geht. »Du willst doch nicht, dass Papa und ich uns noch mehr Sorgen machen, als wir das ohnehin schon tun!«

      »Mama, bitte!«, entgegne ich, der Demoralisierung angesichts dieser Aussage, die als Feststellung formuliert war, nicht als Frage, trotzend.

      Sie lässt einen Seufzer hören, der von einer höheren Macht Anteilnahme für dieses undankbare Kind einfordert und mir zusätzlich ein schlechtes Gewissen machen soll – erfolglos natürlich. Dort, wo andere Töchter ein sensibles Gespür für die Stimmungen ihrer Mütter entwickelt haben, existiert bei mir nur emotionale Hornhaut.

      Nach dem Gespräch lege ich mit einem roten Ohr und schwachem temporären Tinnitus auf, froh, das Telefonat ohne weitere Schramme auf meiner angeknacksten Psyche hinter mich gebracht zu haben.

      Aber: Ich war wieder zwanzig Minuten lang von meinem Kummer abgelenkt und musste nicht an Tom denken. Dafür ist er jetzt wieder umso raumfüllender in meinem Kopf.

      Nach erledigter Arbeit und damit einhergegangener Bekämpfung des Schamgefühls für die Müllorgie – ich hatte beispielsweise eine Deponie von rund hundert tränenfeuchten und rotzklebrigen Taschentüchern zu entsorgen – stelle ich mich ans Fenster und starre in die Tagverdunkelung. Witzig, dass die Bäume vor meinem Wohnzimmerfenster bei einbrechender Finsternis kollektiv einen Schritt nach vorne zu schreiten scheinen, als wollten sie das Haus stürmen. Der böige Herbstwind fegt durch die Landschaft, feuchte Blätter vor sich hertreibend und eines davon direkt vor meiner Nase an die Scheibe klatschend. Gleich darauf ist es mucksmäuschenstill, fast endzeitmäßig, wie vor einem jeden Moment über die Erde hereinbrechenden Inferno – ich höre nur noch, wie die Uhr an meinem Handgelenk die Sekunden aus meinem Leben tickt. Während anschließend die ersten im Mondlicht silbern schillernden Regentropfen zu Boden fallen, versuche ich, mich darauf zu konzentrieren, was in meinem Leben gut, schön und unproblematisch ist. Wirklich viel fällt mir im Moment nicht ein, was an meiner negativen Grundhaltung und Leckt-mich-alle-am-Arsch-Stimmung liegen mag.

      Seit Tom weg ist, ist alles irgendwie nur halb, bemerke ich in einem Anfall von Sentimentalität. Um nicht zu sehr zu vergeistigen, beschließe ich, ab sofort die Gedanken an meinen Ex-Freund – so wie ich es heute ohnehin schon den ganzen Tag mache, ohne es mir vorgenommen zu haben – zu zählen. Erstens ist es irgendwie tröstend, zweitens habe ich dann mehr Stoff für einen Psychiater, sollte ich jemals das Bedürfnis verspüren, einen aufzusuchen. Heute waren es zwölf, stelle ich fest.

      Anschließend wende ich mich vom Fenster ab, einem körperlichen Bedürfnis zu und gehe zu Bett – natürlich nicht, ohne vor dem Einschlafen ein weiteres Mal an Tom und seine Barbie für Arme denken zu müssen.

       Tag 14: Körbchengröße Fingerhütchen und ein Pudding

      Als ich erwache, sticht die Sonne ihre Strahlen durchs Fenster direkt in mein Gesicht. Scheiße, kann bitte jemand diese Helligkeit abstellen! Depressive Menschen bevorzugen die Dunkelheit, lieben den Geruch nach Moder und hassen Knoblauch. Um Himmels willen, ich bin zum Vampir mutiert! Danke, Tom!

      Was ist denn heute überhaupt für ein Tag, wissen Sie das vielleicht?

      Ich stehe schnell auf, wobei der Vorgang dank instabilen Kreislaufs und schlafsteifer Glieder dann doch gut zwei Minuten dauert, und schlingere Richtung Küche. Kaffee, bitte! Und es ist Montag, wie ich bei einem Blick auf meinen Kalender eruiere, an dem ich jeden Tag seit der Trennung durchstreiche. Mit Augenlidern auf halbmast greife ich nach dem schwarzen Stift und zeichne mit quietschenden Linien ein weiteres großes X aufs Papier. Es steht für: Nix ist es geworden mit der großen Liebe und glücklichen Zweisamkeit bis ans Lebensende – weil mein Ex-Freund sich benehmen musste wie ein hormongesteuerter Neandertaler, der seine familiären Gene ausstreut wie der Landwirt die Saat. Na, hoffentlich fällt die nicht auf unfruchtbaren Boden, denke ich gehässig (Tom wünscht sich eine große Familie).

      Bei einer lustlosen Inspektion des Kühlschranks stelle ich fest, dass er dringend wieder einmal gefüllt werden sollte. Da Verhungern nicht auf meiner Liste der fünfzig möglichen Varianten, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, steht, werde ich einkaufen gehen müssen.

      Nach einer Stunde und unzähligen vergeblichen Versuchen, wie eine Frau auszusehen, die nicht vor dreizehn Tagen von ihrem Freund verlassen wurde, befinde ich mich auf dem Weg zum Supermarkt. Ob die Leute um mich herum wohl ahnen, dass ich ein Vampir bin? Ich halte mein Gesicht in den aufkommenden Wind und hoffe, damit einen gewissen Straffungseffekt hinsichtlich meiner Zornesfalten erzielen zu können.

      Unheil naht! Da die Nervenzellen in meinem Körper in der Lage sind, drohenden Ärger seismografisch zu erfassen, bin ich vorgewarnt, als sich ein Beben ankündigt.

      Und tatsächlich, ich entdecke meinen Ex-Freund in der Menge der Fußgänger, die mir mit muffeligen Montagsgesichtern und Wochenbeginn-Stress im Blick entgegenkommen. Zum Glück ist


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