101 GEDANKEN AN TOM. Gabriele Hasmann

101 GEDANKEN AN TOM - Gabriele Hasmann


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teilnahmslos oder zickig sein – und mir vorkommen wie ein Sack nasser Sand, auf den pausenlos eingeprügelt wird.

      Was würden Sie mir raten angesichts meiner Lage? Zu einem Urlaub unter Palmen mit langen Spaziergängen am weißen Sandstrand tagsüber und ausufernden Partys mit karibischen Jungs bei Nacht? Zur Rettung eines Welpen aus dem Tierheim? Zu einem Beauty- und Wellnesstag inklusive Friseurtermin und Typveränderung?

      Ich spüre Heidis Blick im Nacken und stelle fest, dass ich durch den Wald laufe wie ein Reh auf der Flucht vor dem Jäger und sie dabei abgehängt habe. Meine Freundin schnauft heran wie eine Dampflok, ergreift meine Schulter, als wolle sie mich am Entkommen hindern, und fragt keuchend in schönster Laienpsychologenmanier: »Wovor rennst du denn weg?« Der Klassiker. Wenn ich mich schon wie ein lebendes Klischee verhalte, dann auch wie eines der gängigsten nach einer Trennung vom Partner. Als würde ich vor der Erinnerung an die Zeit mit Tom (ach, Scheiße, an dem Gedanken ist jetzt aber meine Freundin schuld!) davonlaufen.

      »Vor dir!«, antworte ich grinsend und deute auf die blauen Lederschuhe. »Du stinkst nach Schnapskotze!«

      »Hast du gerade dein Humor-Coming-out?« Heidi beginnt zu kichern. Ich lobe mich innerlich für die Weitsicht und mein Talent, mir meine Freunde zu einem Großteil nach ihrer Fähigkeit auszusuchen, selbst die blödesten Witze zu verstehen und/oder lustig zu finden. Gleich darauf lachen wir lauthals durch die Botanik und verschrecken damit garantiert das eine oder andere Wildtier, das gut gelaunt das schöne Wetter genießen wollte. Stellt euch nicht so an, Silvester ist lauter.

      Kurz darauf kehre ich zurück zu meinen Plänen, mir etwas Gutes zu tun und meinen Fokus neu auszurichten. Für einen Urlaub habe ich kein Geld und für einen Welpen aus dem Tierheim keine Zeit. Bleibt nur das Rundumpflegeprogramm. Mein Entschluss steht fest: Ich werde mein Schicksal in die Hände von Fachpersonal, Haare und Kosmetik betreffend, legen und hoffen, dass es damit in eine neue Richtung gelenkt wird.

      »Satteln wir die Pferde und reiten in den Sonnenuntergang!«, rufe ich euphorisch und erzähle meinem Gegenüber von dem Vorhaben, mich pflegen und stylen zu lassen. Heidi klatscht begeistert in die Hände, womit sie wieder mindestens fünfzig kleinere und größere Tiere in unserer Nähe verschreckt haben dürfte, und gratuliert mir zu dieser vorwärtsgerichteten und glücksträchtigen Entscheidung.

      Gut gelaunt treten wir den Rückweg an. Schon bald, so nehme ich mir vor, wird jede Erinnerung an Tom verblassen, da ich mich wie Phönix aus der Asche erheben und an jedem Finger mindestens einen neuen Verehrer haben werde. Noch besser wäre meine Stimmung, hätte nicht wieder ein Gedanke an den Verräter die rosig schimmernde Zukunftsvision getrübt.

       Tag 15/Tag 16: Ein bisschen bi?

      Kaum habe ich eine mögliche Rüsselkäferpaarung beobachtet und etwas später beschlossen, die Pferde zu satteln, träume ich in dieser Nacht von Sex – anfangs von recht wenig erfreulichem mit Männern; na ja, eigentlich nur mit einem: Tom. Und dieser ähnelte stark jenen körperlichen Aktivitäten, die in den letzten Monaten eher selten von Erfolg, nämlich einem kurzen Grunzlaut seinerseits sowie einem kleinen Jauchzer meinerseits, gekrönt waren – vor allem dann nicht, wenn wir beide viele Dinge im Kopf und wenig Enthusiasmus in den Lenden hatten. Im Anschluss an diese fade Bettgymnastik suchen mich, nur der Himmel und mein Unterbewusstsein wissen, warum, erotische Fantasien anderer Art heim. In den folgenden Träumen spielt ausschließlich eine Frau eine tragende beziehungsweise nackt auf mir herumturnende Rolle. Ich sehe mich, ungewohnt gelenkig und agil, die seltsamsten Verrenkungen vollführen, wobei ich zugleich die Biegsamkeit des anderen weiblichen Körpers bewundere, während meine Partnerin und ich uns leidenschaftlich lieben.

      Als ich endlich vor Erregung zitternd schweißgebadet erwache, starre ich minutenlang mit aufgerissenen Augen und klopfendem Herzen in die mich umgebende Finsternis. Was sollte das denn, bitte? Schwimme ich nach der Enttäuschung von Tom und wegen eines daraus erwachsenden Misstrauens anderen Männern gegenüber womöglich gerade ans andere Ufer?

      Bisher haben mir meine eigenen weiblichen Körperteile zum Glücklichsein völlig ausgereicht, weshalb ich stets nach dem passenden Gegenstück suchte, das im Idealfall von einem darüber befindlichen Sixpack gekrönt wurde. Außerdem bin ich mit den eigenen prämenstruell bedingten flexiblen Stimmungen bedient genug und froh darüber, dass der Kerl dieses Symptom nicht auch noch aufweist.

      Eine Dokumentation über den Psychoanalytiker Sigmund Freud kommt mir in den Sinn, der behauptete, dass jeder Mensch bisexuell veranlagt ist. Er meinte, dass sich fast alle Männer und Frauen nach einer Phase der Zuneigung zu beiden Geschlechtern in frühen Jahren unbewusst für die Homo- oder die Heterosexualität entscheiden und diese ausleben. Währenddessen schlummere die bisexuelle Veranlagung im Inneren weiter und trete gelegentlich wieder zutage. Denken Sie, bei mir ist das Nickerchen der ambivalenten Neigung zu Ende? Oder sogar das eindeutige Verlangen nach einer Beziehung mit einem Wesen ohne Testosteron erwacht? Ein bisschen Orientierungshilfe wäre jetzt fein, ich fühle mich wie ein Boot ohne Steuermann, hin- und hergerissen im Sturm der Gefühle.

      Mit vor Kälte oder Panik – das weiß ich im Moment nicht so genau – zu Berge stehenden Körperhärchen denke ich an ein Erlebnis aus meiner Zeit als schwer Pubertierende zurück, als ich mich unsterblich in einen Burschen aus der Parallelklasse verliebte. Doch der hübsche Junge entpuppte sich als hässliches Mädchen und ich erlitt den Schock meines Lebens, zweifelte ich doch an meiner sexuellen Ausrichtung.

      Wumms, mit voller Wucht knallt eine meterhohe Welle gegen mein Boot, während ich hilflos im Kreis rudere. Bin ich wach oder träume ich schon?

      Eine weitere Erinnerung ereilt mich: an einen Vorfall, der sich etwa vor zwei Jahren in einer Bar zugetragen hat. Die Laune war bestens, das Bier süffig und der Abend weit fortgeschritten. Meine Freunde saßen an mehreren Tischen verteilt und so wechselte ich immer wieder den Platz, um mit allen zu plaudern. Tom befand sich auch unter den Leuten, wir waren damals seit etwa einem halben Jahr ein Paar. Einige von ihnen schielten bereits bedenklich … und orderten bei mir mehr Alkohol, wenn ich an den Tisch kam, weil sie mich für die Kellnerin hielten.

      Nach einiger Zeit verlangte meine mit Gerstensaft gefüllte Blase nach Entleerung und so machte ich mich mit elastischen Beinen auf den Weg zur Toilette, während hinter mir die Menge weitergrölte. Als ich die sanitären Anlagen wieder verließ und den Gastraum betrat, kam mir meine Freundin Claudia entgegengeschwankt und umarmte mich wie eine Ertrinkende auf hoher See. Sie flüsterte mir, wie ein nasser Sack in meinen Armen hängend, ins Ohr, dass sie mich furchtbar liebhabe, und streichelte unablässig meinen Rücken. Gerührt ob des Gefühlsausbruchs antwortete ich: »Ich hab dich auch lieb, Maus, aber lass mich jetzt bitte wieder los!«, schob Claudia von mir, als sie nichts dergleichen unternahm und ich befürchten musste, dass sie entweder eingeschlafen war oder sich jeden Augenblick über meine Schulter übergab. Behutsam setzte ich sie auf eine der Bänke und ging danach zu meinen Freunden zurück, nicht ohne mir vorzunehmen, etwas später wieder nach Claudia zu schauen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, denn gefühlte fünf Sekunden später stand meine Freundin wie der Schiefe Turm von Pisa vor mir und grinste mich an. Mit entgleister Miene und glasigem Blick, bei dem ein Auge mich, das andere einen fiktiven Punkt irgendwo im Lokal zu fixieren versuchte, lallte sie lauthals: »Ich will jetzt sofort mit dir knutschen!«

      Ich sah mich daraufhin veranlasst, aufzuspringen, Claudia umzudrehen und retour zu den WC-Anlagen zu schieben, um dort ihren Kopf in kaltes Nass zu halten – ich wollte sie zwar nicht in eine Klomuschel tauchen, aber zumindest über einem Waschbecken unter den Wasserhahn bugsieren. Doch meine Freundin zeigte sich nur bedingt kooperationsbereit, drehte sich plötzlich um und zog mich ruckartig an sich. Ihre geschürzten Lippen, welche die meinen anvisierten, befanden sich nur wenige Zentimeter von meinem panisch zusammengepressten Mund entfernt, bevor ich mich im letzten Moment losreißen konnte, sodass sie ins Leere torkelte und mit dem Kopf gegen die Wand donnerte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass durch den heftigen Aufprall kein bleibender Schaden, sondern höchstens eine Beule zurückbleiben würde, zog ich Claudia zurück ins Lokal. Ich platzierte sie auf einem Stuhl, wo sie augenblicklich in sich zusammensackte wie ein Duracell-Hase, dem die Batterie entfernt wurde.


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