Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich
Sicherungen waren nicht etwa nur negativer Natur; sie bestanden nicht nur darin, dass England und Frankreich, wie vorher schon Russland, sich verpflichteten, ihren bisherigen Widerstand gegen den Ausbau der Bagdadbahn aufzugeben. Vielmehr war die aktive Mitwirkung dieser Mächte erforderlich, um die durch das Ergebnis des Balkankriegs bedrohten finanziellen Grundlagen des Bagdadunternehmens wiederherzustellen. Die Abtrennung fast des ganzen europäischen Territoriums von dem türkischen Reich hatte zur notwendigen Folge eine entsprechende Minderung der für die Bagdadobligationen verpfändeten türkischen Staatseinnahmen. Die Frage, in welcher Weise die türkischen Staatsgläubiger vor der sich aus der territorialen Veränderung des türkischen Reichsbestandes ergebenden Schädigung geschützt werden sollten, gehörte mit zu den Verhandlungsgegenständen der Pariser Finanzkonferenz. Der gute Wille und die Mitwirkung der Westmächte bei der Lösung dieser Frage war gerade für die Sicherung des Bagdadunternehmens von besonderer Wichtigkeit.
In der Hauptsache allerdings war die finanzielle Sicherstellung der Bagdadbahn und ihres Ausbaus in Verhandlungen mit der türkischen Regierung durchzusetzen. Es handelte sich dabei nicht nur um Kompensationen für den durch den Verlust der europäischen Türkei drohenden Ausfall an den für die Bagdadobligationen verpfändeten Einnahmen, sondern auch um die Bereitstellung von ausreichenden Garantien für den Ausbau der Hauptlinie bis Basra und der wichtigsten Zweiglinien, namentlich der Linie Bagdad — Hanekin (persische Grenze), die nach dem Potsdamer Abkommen mit Russland dort Anschluss an das nordpersische Eisenbahnnetz finden sollte. Außerdem gehörte zu der Sicherung des Ausbaus des Bagdadeisenbahnnetzes eine Anpassung der finanziellen Konstruktion des Bagdadunternehmens an die durch den Tripolis- und Balkankrieg wesentlich verschlechterten Verhältnisse des türkischen Staatskredits. Über alle diese Dinge wurde gleichlaufend mit den deutsch-englischen und deutschfranzösischen Verhandlungen mit der türkischen Regierung verhandelt, in dem allseitigen Einverständnis, dass unsere Abmachungen mit der Türkei einerseits, mit England und Frankreich andrerseits sich gegenseitig bedingten. Musste die unbedingte Sicherung für einen in absehbarer Zeit durchzuführenden Ausbau der Bagdadbahn die Voraussetzung sein allein schon für unsern Verzicht auf die Golfstrecke und den Hafen am Golf gegenüber den Engländern sowie für unser weitherziges Entgegenkommen gegenüber den Franzosen bei der Abgrenzung der beiderseitigen Eisenbahnnetze, so wurde diese Notwendigkeit verstärkt durch eine Reihe weiterer Forderungen, die England in die Verhandlungen hineinwarf. Ich habe oben bereits Englands Anspruch auf die Flussschifffahrt in Mesopotamien erwähnt. Das von der britischen Regierung für eine unter englischer Kontrolle stehende Gesellschaft türkischen Rechts erstrebte Monopol bildete für die deutsche Regierung einen schweren Stein des Anstoßes. Hakki Pascha hatte sich in London von dem Foreign Office eine Zusage abringen lassen. Die britische Regierung machte es gegenüber der deutschen zur Voraussetzung für jede Abmachung über die vorderasiatischen Angelegenheiten, dass die deutsche Regierung sich mit der von der türkischen Regierung zugestandenen Schifffahrtskonzession auf den mesopotamischen Flüssen abfinde. Gegenüber allen Vorstellungen hielt sie mit der größten Hartnäckigkeit an diesem Standpunkt fest. Wenn die deutsche Regierung die Verhandlungen nicht scheitern lassen wollte, musste sie sich darauf beschränken, die deutschen Interessen an der mesopotamischen Schifffahrt durch Sicherstellung der völligen Gleichberechtigung deutscher Frachten und durch eine deutsche Beteiligung am Kapital und in der Verwaltung der Schifffahrtsgesellschaft nach Möglichkeit zu wahren. Wenn aber die deutsche Regierung sich mit dem unter britischer Kontrolle stehenden Schifffahrtsmonopol abfand, so musste sie — sollte nicht England in dem Verkehrsgebiet der Bagdadbahn einen kaum mehr einzuholenden Vorsprung gewinnen — auf der Sicherung des sofortigen Ausbaues der Bagdadbahn mit verdoppeltem Nachdruck bestehen.
In der gleichen Richtung wirkten die britischen Ansprüche hinsichtlich der mesopotamischen Bewässerungsanlagen und der Ausbeutung der mesopotamischen Petroleumvorkommen.
Schließlich erstreckte die britische Regierung die Verhandlungen auch noch auf eine der deutsch-französischen Abmachung analoge Verständigung zwischen der von britischem Kapital kontrollierten Smyrna-Aidin-Bahn im westlichen Kleinasien einerseits, der Anatolischen Eisenbahn und Bagdadeisenbahn andrerseits.
Die Verhandlungen waren außerordentlich schwierig. Sie wurden von der englischen Seite mit einer nicht zu übertreffenden Zähigkeit geführt, auch im Festhalten an Einzelheiten, die im Verhältnis zu der Gesamtheit der auf dem Spiel stehenden Interessen für England nur geringfügige Bedeutung haben konnten. Immer wieder wurde die deutsche Seite vor die Frage gestellt, ob sie an der oder jener mehr oder weniger wichtigen Frage das Verständigungswerk scheitern lassen wollte. Es gehörte für uns ein ungewöhnliches Maß von Geduld und gutem Willen dazu, um alle die kleinen und großen Klippen zu überwinden.
Schließlich kam nach mehr als einjährigen Verhandlungen eine Einigung zustande, die in großen Zügen folgendermaßen aussah:
Als südlicher Endpunkt der Bagdadeisenbahn wurde Basra festgesetzt. Auf eine Weiterführung der Bagdadeisenbahn bis zum Golf und auf den Hafen am Golf leistete die Bagdad-Eisenbahn-Gesellschaft Verzicht. Dafür verpflichtete sich die englische Regierung, dem Ausbau der Bagdadbahn bis Basra keinerlei Schwierigkeiten zu machen und keinerlei Bestrebungen, Konkurrenzbahnen zur Bagdadbahn in den Vilajets Bagdad und Mossul zu bauen, irgendwie zu unterstützen. Die Bagdad-Eisenbahngesellschaft übernahm die Verpflichtung, keinerlei differentielle Behandlung in den Bedingungen des Transports nach Nationalität, Herkunft oder Bestimmung der Waren eintreten zu lassen. Sie hielt für eine noch zu konstituierende englische Finanzgruppe eine Beteiligung an ihrem Gesellschaftskapital offen und verpflichtete sich, zwei Verwaltungsratssitze mit britischen Mitgliedern zu besetzen.
In Bagdad und Basra sollten von einer von der Bagdad-Eisenbahngesellschaft zu gründenden Untergesellschaft Hafeneinrichtungen gebaut und betrieben werden. Diese Hafengesellschaft sollte unter der Kontrolle der deutschen Gruppe stehen; für britische Interessenten sollte eine Beteiligung von 40 Prozent offengehalten werden.
England traf mit der Türkei Vereinbarungen über die Schiffbarmachung des Schott el Arab für Schiffe größeren Tiefgangs, denen Deutschland beitrat. Gleichzeitig wurde die volle Freiheit der Schifffahrt für Fahrzeuge aller Nationen auf dem Schott und der Ausschluss einer jeglichen differentiellen Behandlung dieser Schifffahrt in Bezug auf Abgaben und sonstige Bedingungen festgelegt. Für die von der Schifffahrt auf dem Schott el Arab als Beitrag zu den Kosten der Regulierung zu erhebenden Abgaben wurde ein mäßig gegriffener Höchstsatz vereinbart.
Die deutsche Regierung übernahm die Verpflichtung, der Erteilung der Konzession für die mesopotamische Flussschifffahrt an eine unter englischer Kontrolle stehende Gesellschaft keine Schwierigkeiten zu machen. Von dem Kapital der Gesellschaft sollte ursprünglich die Hälfte auf England, die andere Hälfte auf die Türkei entfallen. Man einigte sich jedoch schließlich dahin, dass 40 Prozent des türkischen Anteils, also 20 Prozent des Gesamtkapitals, für deutsche Interessenten offengehalten werden sollten. Damit war natürlich auch eine entsprechende Vertretung im Verwaltungsrat der Schifffahrtsgesellschaft verbunden. Der Ausschluss einer jeden differentiellen Behandlung in den Transportbedingungen wurde in ähnlicher Weise festgelegt wie bei der Bagdadeisenbahn. In den Abmachungen zwischen England und der Türkei und in den Statuten der Schifffahrtsgesellschaft war die peinlichste Fürsorge dafür getroffen, dass in allen wichtigen Angelegenheiten im Falle von Stimmengleichheit der Vorsitzende des Verwaltungsrats, der von der englischen Gruppe gestellt wurde, den Ausschlag geben sollte.
Das Inkrafttreten der Abmachungen war gebunden an die Ergänzung der durch die Abtretung der europäischen Provinzen verminderten Pfänder für die Bagdadobligationen und an das Zustandekommen der Abmachungen mit der Türkei über die Bereitstellung der für den sofortigen Ausbau des Bagdadeisenbahnnetzes erforderlichen Garantien. Die britische Regierung war ihrerseits bereit, die Stellung dieser Garantien dadurch zu unterstützen, dass sie ihre Einwendungen gegen die von der Türkei geplante und für die Konsolidierung der türkischen Finanzen unbedingt notwendige Zollerhöhung endlich fallen ließ. Wenn auch die Bagdad-Eisenbahn-Gesellschaft schon im Jahre 1911 endgültig auf ihre früheren Ansprüche auf den Ertrag der Zollerhöhung verzichtet hatte und auch jetzt nicht daran dachte, auf die Zollerhöhung für die Finanzierung des Ausbaus ihres Netzes zurückzugreifen, so wurde der türkischen Regierung durch das Zugeständnis der Zollerhöhung wenigstens indirekt die Zuweisung der für den Ausbau der