Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich
dass durch die britisch-russische Marinekonvention alle bisher erzielten Fortschritte in der deutsch-englischen Annäherung in Frage gestellt und eine Verschärfung des Misstrauens zwischen den beiden Ländern herbeigeführt werden müsste.
Diese Wirkung musste umso notwendiger eintreten, als durch den engeren Zusammenschluss der Triple-Entente die in Russland und Frankreich ohnedies im Wachsen begriffenen kriegerischen Strömungen ermuntert und verstärkt wurden. Für die russische Kriegspartei war die Entsendung einer deutschen Militärmission nach Konstantinopel im Herbst 1913 Wasser auf ihre Mühlen. Insbesondere die Neuerung, dass dem Führer der Militärmission, dem General Liman von Sanders, das Kommando über das Konstantinopeler Armeekorps übertragen werden sollte, während die bisherigen Führer der deutschen Militärmissionen in der Türkei, zuletzt der Generalfeldmarschall von der Goltz, keine Kommandogewalt gehabt hatten, wurde von den deutschfeindlichen Treibern zur Erregung der öffentlichen Meinung ausgenutzt. Dem scharfen Protest in Konstantinopel und Berlin, zu dem sich die russische Regierung veranlasst sah, schloss sich die französische und auch die englische Regierung an, obwohl schon seit einiger Zeit eine britische Marinemission, deren Führer gleichfalls mit Kommandobefugnissen ausgestattet waren, in der Türkei tätig war. Deutschland gab schließlich, um einem Konflikt mit Russland auszuweichen, nach und erklärte sich damit einverstanden, dass die Befugnisse des Generals Liman auf die Generalinspektion der türkischen Militärschulen beschränkt wurden. Aber auch diese Nachgiebigkeit führte kein Nachlassen in den Treibereien gegen Deutschland herbei. Die Sprache der russischen und französischen Presse gegen Deutschland wurde immer maßloser. Auf russischer Seite wurde das Anrecht Russlands auf die asiatische Türkei und das Anrecht des Slawentums auf die von Slawen bevölkerten Teile der vor dem Zusammenbruch stehenden österreichisch-ungarischen Monarchie, auf französischer Seite Frankreichs unverjährbarer Anspruch auf Elsass-Lothringen mit erneutem Nachdruck proklamiert. Ganz offen besprach die Presse beider Länder die infolge der ihrer Vollendung zugehenden russischen Rüstungen immer besser werdenden Aussichten eines Krieges gegen die Mittelmächte. Blätter, deren enge Beziehungen zu den offiziellen Kreisen in Petersburg und Paris weltkundig waren, beteiligten sich an diesem Feldzug. Der russische Kriegsminister, Herr Ssuchomlinoff, äußerte sich in dem ihm nahestehenden Blatte wiederholt in kaum mehr verhüllten Kriegsdrohungen: " Frankreich und Russland wollen den Krieg nicht, aber Russland ist bereit und erwartet, dass Frankreich es gleichfalls sein wird." Und am 24. April 1914, also unmittelbar nach dem Besuch des Königs Georg in Paris, berichtete der belgische Gesandte in Berlin, Baron Beyens, an seine Regierung: "Herr Cambon (der französische Botschafter in Berlin) sieht wieder die Hand des Herrn Iswolski in dieser zwecklosen Kampagne der russischen und französischen Zeitungen." Ich fand, als ich im Mai 1914 zum letzten Mal zu geschäftlichen Besprechungen in Paris war, dort unter aufrichtigen Freunden der Erhaltung des Friedens eine sehr nervöse und besorgte Stimmung. Die Presse und öffentliche Meinung waren in einer durch konkrete Tatsachen allein nicht zu erklärenden Erregung, die auf die leitenden Kreise teils übergriff, teils von ihnen gefördert wurde. Gerade damals entrüstete man sich in Paris, dass in einer Theatervorführung — ich glaube im Berliner Eispalast — französische Fremdenlegionäre in Uniform auf die Bühne gebracht worden waren. Ernsthafte Leute fragten mich aus diesem Anlass, ob denn Deutschland durchaus den Krieg wolle! Ich ließ mir die letzte Ausgabe des "Temps" geben und zeigte den Aufgeregten im Theateranzeiger drei oder vier Stücke, in denen deutsche Offiziere auf Pariser Bühnen Abend für Abend unter tosendem Beifall des Publikums in den kläglichsten Rollen vorgeführt und beschimpft wurden. Der Eindruck, den ich damals von Paris mitnahm, dass wir trotz aller Verständigungsbemühungen Frankreich und Russland gegenüber weiter denn je von einer friedlichen Entspannung entfernt seien und dass die Beziehungen der Mittelmächte zum Zweibund keinerlei nennenswerte Belastung vertragen könnten, wurde auch von anderen Beobachtern geteilt. Wir kennen heute einen Bericht des belgischen Gesandten in Paris, Baron Guillaume, aus jener Zeit — er ist vom 8. Mai 1914 datiert — , in dem es heißt:
"Unstreitig ist die französische Nation in diesen letzten Monaten chauvinistischer und selbstbewusster geworden.
Dieselben berufenen und sachverständigen Persönlichkeiten, die vor zwei Jahren sehr lebhafte Befürchtungen bei der bloßen Erwähnung von möglichen Schwierigkeiten zwischen Frankreich und Deutschland äußerten, stimmen jetzt einen anderen Ton an; sie behaupten, des Sieges gewiss zu sein, machen viel Aufhebens von den übrigens wirklich vorhandenen Fortschritten, die die französische Armee gemacht hat, und behaupten sicher zu sein, das deutsche Heer zum mindesten lange genug in Schach halten zu können, um Russland Zeit zu lassen, mobilzumachen, Truppen zusammenzuziehen und sich auf seine westlichen Nachbarn zu stürzen . . . Ein erfahrener und hochgestellter Diplomat sagte neulich: 'Wenn sich jetzt plötzlich eines Tages ein ernster Zwischenfall zwischen Frankreich und Deutschland ereignet, so werden die Staatsmänner beider Länder sich bemühen müssen, ihm innerhalb der nächsten drei Tage eine friedliche Lösung zu geben, oder es gibt Krieg.' "
Es ist ausgeschlossen, dass die britische Regierung über diese Stimmungen und Strömungen in Frankreich und Russland nicht unterrichtet war. Es ist ausgeschlossen, dass sich Sir Edward Grey und seine Leute keine Rechenschaft darüber gegeben haben, dass die von Iswolski angeregte engere Knüpfung der Triple-Entente in dem Gedanken seines Urhebers dazu dienen sollte und in ihrer tatsächlichen Wirkung dazu dienen musste, den überhitzten Kessel noch weiter anzuheizen. Man mag zugunsten der bona fides der britischen Politik unterstellen, dass Sir Edward sich damals auf den Vorschlag Iswolskis nur eingelassen habe, um den durch die britisch-deutsche Verständigung über so wichtige Einzelfragen beunruhigten Ententegenossen eine Sicherheit über Englands loyales Festhalten an der Entente zu geben, dass es ihm nur darauf angekommen sei, für den Fall des Nichtzustandekommens der Verständigung mit Deutschland oder des Nichteintretens der von dieser Verständigung erwarteten Entspannung des deutsch-britischen Verhältnisses sich eine starke Koalition gegen Deutschland zu erhalten — es wäre eine durch nichts gerechtfertigte Aberkennung jeder politischen Urteilsfähigkeit der britischen Staatsmänner, wenn man annehmen wollte, diese seien sich nicht klar darüber gewesen, dass ihr grundsätzliches Eingehen auf die Iswolskische Anregung und ihr Eintritt in Besprechungen über die zwischen England und Russland abzuschließende Marinekonvention die stärkste Aufmunterung des kriegerischen Geistes in Frankreich und Russland bedeuten musste, dass damit die deutsch-englischen Abmachungen, noch ehe sie zu Ende verhandelt waren, um ihre Frucht gebracht wurden.
Nimmt man zu der damals vor dem Abschluss stehenden britisch-deutschen Verständigung die Tatsache hinzu, dass Deutschland in dem Ausbau seiner Flotte ohne vertragsmäßige Festlegung sich nach dem von Lord Haldane im Februar 1912 vorgeschlagenen Schlüssel gerichtet hatte, so kann man aus all dem nur den Schluss ziehen, dass die britischen Staatsmänner die diplomatische und militärische Vorbereitung einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Deutschland unter allen Umständen und ganz unabhängig von der Bereinigung noch so wichtiger Einzelfragen als oberstes Ziel ihrer Politik festzuhalten entschlossen waren.
Die Erklärung liegt wohl weniger in dem Willen der britischen Staatsmänner, die zufällig in jener entscheidenden Epoche der Weltgeschichte die Geschäfte Englands leiteten, als vielmehr in den alten Traditionen der britischen Politik, durch die England groß geworden war und durch die es seine Größe zu erhalten suchte. Englands Politik war stets gegen die politisch und wirtschaftlich stärkste Kontinentalmacht gerichtet ; seitdem Deutschland die politisch und wirtschaftlich stärkste Kontinentalmacht geworden war, seitdem England durch Deutschland mehr als durch ein anderes Land sich in seiner weltwirtschaftlichen Stellung und in seiner Seegeltung bedroht fühlte, war der englisch-deutsche Gegensatz unüberbrückbar und durch keine Verständigung über irgendwelche Einzelfragen aus der Welt zu schaffen; es sei denn, dass England mit allen seinen Überlieferungen gebrochen und ehrlich darauf verzichtet hätte, von seinen Machtmitteln zur Erhaltung seiner wirtschaftlichen Vorherrschaft Gebrauch zu machen. Zu einem solchen Bruch mit der treibenden Kraft seiner Geschichte war England nicht bereit, trotz aller pazifistischen Strömungen, die sich auch in der britischen Öffentlichkeit einstellten. Das Wort Bismarcks vom Jahre 1897 blieb wahr: das einzige Mittel zur Besserung der deutsch-englischen Beziehungen sei, dass wir unserer wirtschaftlichen Entwicklung einen Zaum anlegten, und dieses Mittel sei nicht anwendbar.
Die Verstärkung der für eine kriegerische Auseinandersetzung mit Deutschland geschmiedeten Koalition durch England