Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich
geworden, der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Russland war vor aller Welt erklärt.
Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, alle die Phasen darzustellen, die der russisch-österreichische Konflikt in den acht Tagen bis zum Kriegsausbruch durchlaufen hat. Die Vorgänge sind von den verschiedensten Seiten eingehend geschildert worden, auch von mir in meiner Arbeit über "Die Entstehung des Weltkriegs im Lichte der Veröffentlichungen der Dreiverbandsmächte". An dieser Stelle steht im Vordergrund, was ich aus persönlichen Wahrnehmungen zur Bestätigung und Aufhellung der Vorgänge beitragen kann.
Es fügte sich, dass ich Gelegenheit hatte, am Abend des 26. Juli, also am Abend nach der Überreichung der von Österreich-Ungarn als Ablehnung behandelten serbischen Antwortnote, mich mit einer russischen Persönlichkeit, die enge Beziehungen zu den maßgebenden Regierungskreisen hatte, über die politische Lage eingehend unterhalten zu können.
Der früher bereits erwähnte Präsident des Direktoriums der Russischen Bank für auswärtigen Handel, Herr Davydoff, teilte telegraphisch mit, dass er am Sonntag, 26. Juli, abends 11 Uhr, für ganz kurzen Aufenthalt in Berlin eintreffen werde und großen Wert darauf lege, meinen Kollegen Mankiewitz, zu dessen Geschäftskreis in der Direktion der Deutschen Bank die russischen Geschäfte gehörten, und mich möglichst bald nach seiner Ankunft zu sprechen. Herr Mankiewitz und ich suchten Herrn Davydoff alsbald nach seiner Ankunft im Hotel Adlon auf. Die Fenster seines Salons gingen nach den Linden. Von der Straße herauf brauste das Gewoge der Volksmenge, die sich, wie schon am Abend vorher, in großer Erregung und vaterländische Lieder singend durch die Hauptstraßen der inneren Stadt bewegte.
Herr Davydoff empfing uns sichtlich beeindruckt durch die Kundgebungen, deren Zeuge er auf der Fahrt vom Bahnhof nach dem Hotel gewesen war. Schon aus seinen ersten Worten ergab sich, dass er nicht in geschäftlichen Angelegenheiten nach Berlin gereist war, sondern zu Zwecken der politischen Orientierung, und zwar mit Wissen und im Auftrag maßgebender russischer Kreise.
Er berief sich auf seine langjährigen Bemühungen um die Herstellung eines guten Verhältnisses zwischen Deutschland und Russland und bekannte seine großen Besorgnisse wegen der Weiterentwicklung der serbischen Angelegenheit. Die größte Gefahr liege darin, dass in Petersburg nahezu an allen Stellen die Überzeugung bestehe, dass die deutsche Regierung Österreich-Ungarn zu seinem Vorgehen gegen Serbien aufgestachelt habe und der eigentliche Verfasser des Ultimatums sei; dass die Aktion gegen Serbien nur ein Glied in der Kette unfreundlicher Handlungen Deutschlands gegen Russland bedeute, und dass, wenn Russland sich jetzt füge, in kurzer Zeit neue Demütigungen folgen würden. Diese gefährliche Auffassung werde mit Nachdruck und Erfolg von Iswolski vertreten, der mit ihm von Petersburg hierhergereist sei und direkt nach Paris weiterfahre. Er fügte hinzu, dass er von dem Wiedereintreffen Iswolskis in Paris Schlimmes befürchte.
Ich trat der Auffassung, als ob Deutschland Russlands Demütigung suche, mit Entschiedenheit entgegen. Davydoff, der sich selbst mit dieser Auffassung nicht identifizierte, konnte an Fällen, in denen Deutschland die russischen Wege gekreuzt habe, außer unserem Eintreten für unseren österreichisch-ungarischen Bundesgenossen in den verschiedenen serbischen Konfliktfällen nur die Angelegenheit der deutschen Militärmission für Konstantinopel nennen, in der doch Deutschland sich schließlich dem bei uns als unberechtigt empfundenen russischen Einspruch gefügt hatte. Auch der Auffassung, als ob die deutsche Regierung Österreich-Ungarn vorgeschoben hätte und der eigentliche Verantwortliche für das Belgrader Ultimatum sei, konnte ich nach meiner eigenen Kenntnis der Vorgänge widersprechen und dabei auf die von den deutschen Botschaftern bei den verschiedenen Regierungen abgegebenen Erklärungen, die Davydoff noch nicht kannte, hinweisen. Davydoff erwartete eine gute Wirkung davon, wenn er die offiziellen Erklärungen durch Berufung auf Mitteilungen von seiner Regierung bekannten Privatpersonen bekräftigen könne. Ich erklärte mich gern damit einverstanden, dass er meine Äußerung in diesem Sinne verwerte. Ich bat ihn jedoch, zur Vermeidung einer jeden Zweideutigkeit hinzuzufügen, dass man in Deutschland, wenn unsre Regierung auch an dem österreichisch-ungarischen Ultimatum nicht mitgewirkt habe, unverrückbar auf dem Standpunkt stehe, dass Österreich-Ungarn in seinem Rechte sei und dass niemand Österreich-Ungarn hindern dürfe, sein Verhältnis zu Serbien nach seinen Lebensinteressen zu ordnen.
Im weiteren Verlauf der Unterhaltung suchte Davydoff meine Ansicht darüber zu erfahren, ob Österreich-Ungarn durch Deutschland nicht zu einer Milderung seiner Note veranlasst werden könnte. Als ich dies nach dem Stand der Dinge als unwahrscheinlich bezeichnete, ließ er durchblicken, es komme in dieser Sache weniger darauf an, den Serben entgegenzukommen, als darauf, Russland einen Ausweg aus der furchtbaren Situation zu zeigen, die sonst unvermeidlich zum Weltkrieg führen müsse. Es gebe, wie mir bekannt sei, in Russland eine sehr starke und einflussreiche Kriegspartei; wir Deutschen hätten das Interesse, der Friedenspartei und allen denjenigen, die ein dauernd gutes Verhältnis zu Deutschland wünschen, zu helfen und ein Auskunftsmittel zu suchen, das es Russland möglich mache, ohne Krieg das Gesicht zu wahren.
Ich versprach, mein Bestes zu tun, und behielt mir vor, am nächsten Morgen auf diese Anregung zurückzukommen und vielleicht einen Vorschlag zu machen.
Es war inzwischen fast halb zwei Uhr geworden. Im Begriff, mich zu verabschieden, fragte ich Davydoff nach seinen weiteren Dispositionen. Davydoff antwortete, er wolle Dienstagabend abreisen, also Donnerstag in Petersburg zurück sein. Auf meine Bemerkung: "Und Sie glauben, dass bis dahin nichts Entscheidendes und Unwiderrufliches passiert?" antwortete er: "Ich glaube, es wird nichts Entscheidendes geschehen; wir werden wohl einen Teil unserer Armee mobil machen, aber — "
Ich fiel ihm ins Wort: "Sie meinen also, eine russische Mobilmachung sei nichts Entscheidendes? — Da bin ich allerdings anderer Ansicht. Ich bin auf das bestimmteste überzeugt, dass eine russische Mobilmachung die deutsche Mobilmachung zur sofortigen Folge hat."
Davydoff: "Nun und —? Dann demobilisiert man wieder! Das kostet zwar Geld, braucht aber doch noch kein Blut zu kosten."
Mir war bekannt, dass unsere Regierung aus zwingenden militärischen Gründen die russische Mobilmachung als gleichbedeutend mit dem Kriegsfall ansah. An demselben 26. Juli, an dessen Abend ich diese Unterredung mit Herrn Davydoff hatte, war unser Botschafter in Petersburg angewiesen worden, der russischen Regierung eine Erklärung abzugeben, in der es hieß:
"Vorbereitende militärische Maßnahmen Russlands werden uns zu Gegenmaßnahmen zwingen, die in der Mobilisierung der Armee bestehen müssen. Die Mobilisierung aber bedeutet den Krieg. Da uns Frankreichs Verpflichtungen gegenüber Russland bekannt sind, würde die Mobilmachung gegen Russland und Frankreich gerichtet sein. Wir können nicht annehmen, dass Russland einen solchen europäischen Krieg entzünden will."
Dass diese deutsche Auffassung auch von den Verbündeten Russlands als ganz selbstverständlich anerkannt wurde, zeigt der Bericht des britischen Gesandten in Petersburg vom 25. Juli (Blaubuch Nr. 17), in dem es heißt:
"I said all I could to impress prudence on the Minister for foreign Affairs, and warned him that, if Russia mobilised, Germany would not be content with mere mobilisation, or give Russia time to carry out hers, but would probably declare war at once." (Ich sagte alles, was ich konnte, um dem Minister des Auswärtigen Vorsicht nahezulegen, und warnte ihn, dass im Falle einer russischen Mobilisation Deutschland sich nicht auf eine bloße Mobilisation beschränken oder Russland Zeit zur Durchführung der seinigen geben, sondern wahrscheinlich sofort den Krieg erklären werde.)
Dass die leitenden militärischen Kreise in Russland selbst die eigne Mobilmachung als gleichbedeutend mit der Kriegserklärung an Deutschland ansahen, ist später außer Zweifel gestellt worden durch eine von uns in Polen aufgefundene Anweisung des russischen Kriegsministers vom September 1912, lautend: "Allerhöchst ist befohlen, dass die Verkündigung der Mobilmachung zugleich die Verkündigung des Krieges gegen Deutschland ist."
Die russische Mobilmachung war also — das war damals auch meine innerste Überzeugung — von allen für den weiteren Verlauf der Dinge zu befürchtenden Komplikationen die verhängnisvollste; sie musste allen Versuchen, den Frieden zu erhalten, ein kurzes Ende bereiten. Es gab mir damals einen förmlichen Ruck, Herrn Davydoff so leichthin über diese Möglichkeit sprechen zu hören.
"Sie