Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich
Regierung hatte die Wahl, entweder durch eine Aufmunterung an Frankreich und Russland, vielleicht auch schon durch ein passives Gewährenlassen, den Krieg zu entzünden, oder durch eine nachdrückliche Bekundung, dass sie wegen der österreichisch-serbischen Angelegenheit nicht in den Krieg gehen werde, den Brand im Keime zu ersticken.
Die Nachrichten, die in jenen Tagen aus London herüberkamen, amtliche und private, ließen zunächst einige Hoffnung, dass die britische Regierung, insbesondere Sir Edward Grey, sich ernstlich im Interesse des Friedens bemühen werde. Es sickerte durch, dass England dem Drängen Russlands und Frankreichs nach einer sofortigen Solidaritätserklärung einigen Widerstand entgegengesetzt hatte. In der Tat billigte Sir Edward Grey ausdrücklich die am 24. Juli von Sir George Buchanan in Petersburg gegenüber Ssasonoff gemachten Ausführungen, dass die britische öffentliche Meinung einen Krieg wegen der serbischen Streitfrage nicht sanktionieren werde. Allerdings sprach er sich auf der anderen Seite scharf missbilligend über das österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien aus und betonte, dass die serbische Antwort der Wiener Regierung hätte genügen müssen; desgleichen legte er dem deutschen Botschafter nahe, dass die deutsche Regierung im Sinne des Friedens auf Wien Einfluss nehmen müsse.
Letzteres ist von deutscher Seite geschehen, nachdem die deutsche Regierung den Vorschlag Greys, die österreichisch-serbische Angelegenheit einer Konferenz, bestehend aus Grey als Vorsitzendem und den Botschaftern Frankreichs, Deutschlands und Italiens, zu unterbreiten, mit dem Hinweis darauf abgelehnt hatte, dass nach Petersburger Nachrichten Herr Ssasonoff einen direkten Meinungsaustausch mit dem Grafen Berchtold beabsichtige, dessen Ergebnis zweckmäßigerweise zunächst abgewartet werden müsse. Sir Edward Grey hat diesen Hinweis als berechtigt anerkannt ; er telegraphierte am 28. Juli an den britischen Botschafter in Berlin, dass er jeden anderen Vorschlag suspendieren wolle, da der direkte Meinungsaustausch den Vorzug vor allen anderen Methoden verdiene.
Aber ehe noch dieser direkte Meinungsaustausch in Fluss kam und ehe eine deutsche Einwirkung auf Wien sich zeigen konnte, hatte die englische Regierung Schritte getan, die nur als direkte Aufmunterung Russlands und Frankreichs wirken konnten. Ich erwähne die am 28. Juli erfolgte Bekanntgabe der Aufrechterhaltung des mobilen Zustandes der zu Manöverzwecken in Portland konzentrierten Nordseeflotte, ferner die Unterhaltung Sir Edward Greys mit dem französischen Botschafter am Vormittag des 29. Juli, in der Sir Edward Grey Herrn Cambon eröffnete: er habe die Absicht, dem deutschen Botschafter zu sagen, dass er sich durch den freundschaftlichen Ton der bisherigen Unterhaltung nicht irreführen lassen dürfe zu irgendeinem Gefühl falscher Sicherheit, dass England beiseite stehen werde, wenn alle Anstrengungen, den Frieden zu erhalten, die England jetzt in Gemeinschaft mit Deutschland mache, scheitern sollten.
Mit dieser Eröffnung Greys an Paul Cambon waren die Würfel zugunsten des Krieges gefallen. Jetzt glaubte der französische Botschafter über das sofortige Eingreifen Englands in den Krieg an der Seite Frankreichs und Russlands vergewissert zu sein. Noch am Abend desselben Tages konnte die russische Regierung Herrn Iswolski beauftragen, der französischen Regierung die aufrichtige Erkenntlichkeit der russischen Regierung für die Erklärung der unbedingten Waffenhilfe auszudrücken (russ. Orangebuch Nr. 58). Schon am 25. Juli hatte Ssasonoff dem englischen Botschafter erklärt: "Wenn Russland der Hilfe Frankreichs sicher ist, wird es alle Risiken des Krieges auf sich nehmen" (engl. Blaubuch Nr. 17). Jetzt hatte Herr Ssasonoff diese Sicherheit von der französischen Regierung erhalten, nachdem diese am Morgen des gleichen Tags durch die Eröffnung Greys an Paul Cambon über die englische Hilfe vergewissert war.
In Berlin traf der Bericht über die Unterhaltung zwischen Sir Edward Grey und dem Fürsten Lichnowsky in der Nacht auf den 30. Juli ein. Der Inhalt deckte sich mit der Ankündigung Greys an Cambon. Ich gewann, als ich am Vormittag des 30. Juli das Auswärtige Amt besuchte, den Eindruck, dass auch die Optimisten, die bisher immer noch an "russischen Bluff" geglaubt hatten, jetzt zur Erkenntnis des ganzen Ernstes der Lage gekommen waren. Man setzte jetzt den schwachen Rest von Hoffnungen, die man noch für die Erhaltung des Friedens hatte, auf die im Einvernehmen mit Sir Edward Grey in Wien eingeleitete Aktion.
Schon am 28. Juli hatte der deutsche Kaiser an den Zaren telegraphiert, er setze seinen ganzen Einfluss ein, um Österreich-Ungarn dazu zu bestimmen, eine offene und befriedigende Verständigung mit Russland anzustreben. Die deutsche Regierung beschränkte sich gegenüber der österreichisch-ungarischen nicht auf allgemeine Ratschläge zur Mäßigung; sie bestand vielmehr nachdrücklich auf der Einleitung direkter Besprechungen mit Russland, zu denen Herr Ssasonoff sich bereit erklärt hatte, und sie gab als Grundlage für diese Besprechungen einen Vermittlungsvorschlag nach Wien weiter, den Sir Edward Grey gemacht hatte. Graf Berchtold erklärte sich zur sofortigen Aufnahme der direkten Besprechungen mit der russischen Regierung bereit. Als der Reichskanzler am Abend des 29. Juli aus Petersburg die Nachricht erhielt, dass die Aufnahme der Besprechungen von dem österreichisch-ungarischen Botschafter abgelehnt worden sei, ließ er eine Instruktion an den Botschafter nach Wien telegraphieren, in der es hieß:
" . . Wir können Österreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhandeln, mit dem es in Kriegszustand begriffen ist. Die Verweigerung jedes Meinungsaustauschs mit St. Petersburg aber würde ein schwerer Fehler sein. Wir sind zwar bereit, unsre Bundespflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Österreich-Ungarn durch Nichtbeachtung unsrer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen. Euer Exzellenz wollen sich gegen Grafen Berchtold sofort mit allem Nachdruck und großem Ernst in diesem Sinne aussprechen."
Der Reichskanzler hat seinem Schritt bei der Wiener Regierung durch ein zweites Telegramm folgenden Inhalts noch einen besonderen Nachdruck gegeben:
" Falls die österreichisch-ungarische Regierung jede Vermittlung ablehnt, stehen wir vor einer Konflagration, bei der England gegen uns, Italien und Rumänien allen Anzeichen nach nicht mit uns gehen würden, so dass wir mit Österreich-Ungarn drei Großmächten gegenüberständen. Deutschland würde infolge der Gegnerschaft Englands das Hauptgewicht des Kampfes zufallen. Das politische Prestige Österreich-Ungarns, die Waffenehre seiner Armee sowie seine berechtigten Ansprüche gegen Serbien könnten durch die Besetzung Belgrads oder anderer Plätze hinreichend gewahrt werden (das entsprach dem Vorschlag Greys). Wir müssen daher dem Wiener Kabinett dringend und nachdrücklich zur Erwägung stellen, die Vermittlung zu den angebotenen Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden Folgen wäre für Österreich-Ungarn und uns eine ungemein schwere."
Die deutsche Regierung hat also von der Bewegungsfreiheit, die sie sich durch ihre Nichtbeteiligung an der Festlegung der Einzelheiten der österreichisch-ungarischen Aktion gewahrt hatte, im entscheidenden Augenblick Gebrauch gemacht, um im Sinne des Friedens auf die Wiener Regierung einen Druck auszuüben, und zwar — wie der Reichskanzler von Bethmann Hollweg später mit Recht sagte — "in Formen, welche bis an das Äußerste dessen gehen, was mit unserm Bundesverhältnis verträglich ist". Jedenfalls haben die französischen und englischen Staatsmänner diesem deutschen Druck auf Österreich-Ungarn keinerlei auch nur entfernt ähnlich geartete Aktion bei der russischen Regierung zur Seite zu stellen.
Der Erfolg des deutschen Druckes auf Wien war, dass der österreichisch-ungarische Botschafter in Petersburg alsbald Weisung bekam, die infolge eines russischen Missverständnisses bisher unterbliebene Konversation mit Herrn Ssasonoff sofort aufzunehmen, und zwar auch, was die Wiener Regierung bisher hartnäckig verweigert hatte, über den materiellen Inhalt des Ultimatums; dass ferner Graf Berchtold die deutsche Regierung wissen ließ, er sei bereit, dem Vermittlungsvorschlag Greys näherzutreten; dass schließlich noch am Nachmittag des 30. Juli eine Unterredung zwischen dem Grafen Berchtold und dem russischen Botschafter in Wien, Herrn Schebeko, stattfand, die alle einer direkten Aussprache zwischen Wien und Petersburg noch entgegenstehenden Schwierigkeiten aus dem Wege räumte. Der französische Botschafter in Wien, der ebenso wie sein englischer Kollege von Herrn Schebeko alsbald über den Verlauf dieser Unterredung unterrichtet wurde, telegraphierte nach Paris, dass er nun wieder eine Hoffnung auf Lokalisierung des Konfliktes sehe. Sir Edward Grey telegraphierte am folgenden Tag an den britischen Botschafter in Petersburg, dass er mit großer Genugtuung von dieser Wiederaufnahme der direkten Aussprache zwischen Österreich-Ungarn und Russland Kenntnis genommen habe.
Es war also der Bemühung Deutschlands am Nachmittag des 30. Juli gelungen, die Wiener