Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich
zum Frieden wieder öffnete.
In Berlin sah man mit der größten Spannung der Wirkung der österreichisch-ungarischen Nachgiebigkeit auf Russland und die Westmächte entgegen. Die Meinungen über den Erfolg gingen am Freitag (31. Juli) im Auswärtigen Amt auseinander. Während die einen neue Hoffnung zeigten, sagte mir Herr von Stumm am Freitag (31. Juli) vormittags, er sehe keine Hoffnung mehr, England vom Krieg zurückzuhalten. Churchill und die City wollten den Krieg, und sie seien die Stärkeren. Während ich mit Herrn von Stumm sprach, kam die Nachricht, dass die Bank von England ihren Diskontsatz auf acht Prozent erhöht habe. Sturmsignal! Ferner die Nachricht, dass Asquith im Unterhaus die Vertagung der Diskussion über Homerule verlangt habe, "da England eine geschlossene Front zeigen müsse". Aus Petersburg keine Nachricht über die Aufnahme des Wiener Nachgebens; dagegen Berichte, dass trotz des von dem russischen Generalstabschef dem deutschen Militärbevollmächtigten gegebenen Ehrenwortes die Mobilisation der russischen Truppen auch gegen Deutschland unentwegt ihren Fortgang nehme. Unsere leitenden Militärs, die sich den für das Schicksal Deutschlands wesentlichen Vorteil unserer rascheren Mobilisation durch die russischen Vorbereitungen entgleiten sahen, wurden ungeduldig und drängten auf eine Entscheidung. Die Erregung der Berliner Bevölkerung war ungeheuer; sie. war tags zuvor schon auf das Äußerste gesteigert worden durch eine sofort dementierte Falschmeldung des " Lokalanzeigers", der Mobilmachungsbefehl sei ergangen.
Da kam um die Mittagszeit des 31. Juli aus Petersburg die Meldung, dass der Zar die Mobilmachung der gesamten russischen Armee und Flotte befohlen habe.
Die Generalmobilmachung war also Russlands Antwort auf die durch den Druck Deutschlands herbeigeführte Nachgiebigkeit der österreichisch-ungarischen Regierung! Die Generalmobilmachung, die nach dem russischen Erlass vom September 1912 für das russische Heer als Kriegserklärung an Deutschland zu gelten hatte und die nach Kenntnis der Regierungen Russlands und aller Großmächte auch für Deutschland den sofortigen Krieg mit Russland bedeutete.
Schon vor der Aufhellung der inneren russischen Vorgänge durch den Ssuchomlinow-Prozeß ließ dieser Schritt Russlands, der über alle Friedensbemühungen hinweg den Krieg entfesselte, nur eine Erklärung zu: "Die in jenem Augenblick in Russland entscheidenden Persönlichkeiten wollten angesichts der auf deutsches Betreiben zutage tretenden Nachgiebigkeit der österreichisch-ungarischen Regierung alle Brücken zum Frieden abbrechen und den Krieg unvermeidlich machen."
Die Aussagen im Ssuchomlinow-Prozeß haben diese Erklärung bestätigt.
Wir wissen heute, dass der Zar am 30. Juli den Mobilmachungsbefehl bereits unterzeichnet hatte und dass am Nachmittag des 30. Juli die Generalmobilmachung in vollen Gang gesetzt wurde ; dass am Abend des 30. Juli der Zar, stark beeindruckt durch die inzwischen eingegangenen Nachrichten, insbesondere das Telegramm des Deutschen Kaisers von i Uhr nachmittags, in dem dieser den Zaren nochmals eindringlich auf "die Gefahren und schweren Konsequenzen einer Mobilisation" hinwies, seinem Generalstabschef Januschkewitsch und seinem Kriegsminister Ssuchomlinow telefonisch den Befehl zur Einstellung der Mobilisation gab; dass Ssuchomlinow dem General Januschkewitsch auf dessen Frage, was er auf diesen Befehl des Zaren veranlassen solle, die klassische Antwort gab: "Tun Sie nichts!"; dass der Mobilmachungsbefehl noch in der Nacht amtlich veröffentlicht wurde, und dass dem Zaren am nächsten Tag, wie Ssuchomlinow sagte, "eine andere Überzeugung beigebracht wurde".
Wir wissen ferner, dass diesen Verbrechern der Rücken gestärkt war durch die am 29. Juli abends erlangte Sicherheit der französischen und britischen Waffenhilfe. Am 29. Juli vormittags hatte, wie ich oben dargestellt habe, Grey an Cambon jene Mitteilung über seine geplante Eröffnung an den Fürsten Lichnowsky gemacht, die Cambon nicht anders denn als Zusage des sofortigen britischen Eingreifens an der Seite Frankreichs und Russlands auffassen konnte; und am Abend desselben Tags hatte Herr Ssasonoff Herrn Iswolski beauftragt, der französischen Regierung für die Zusage der unbedingten Waffenhilfe zu danken. Tags darauf wurde dem Zaren der Mobilmachungsbefehl entlockt und dann die Mobilmachung ohne Rücksicht auf den Gegenbefehl des Zaren durchgeführt.
Wer diesen Zusammenhang bezweifelt, lese nach, was der belgische Geschäftsträger in Petersburg, Herr de l'Escaille, am 30. Juli 1914 an seinen Minister in Brüssel berichtet hat:
"Unbestreitbar bleibt nur, dass Deutschland sich hier, ebenso sehr wie in Wien, bemüht hat, irgendeinen Weg zu finden, um einen allgemeinen Konflikt zu vermeiden . . . England hat zuerst zu verstehen gegeben, dass es sich nicht in einen Konflikt hineinziehen lassen wolle. Sir George Buchanan sagte das offen. Heute (30. Juli) hat man in Petersburg die feste Überzeugung, ja man hat die Zusicherung empfangen, dass England an der Seite Frankreichs mitgehen wird. Dieser Beistand ist hier von entscheidender Wichtigkeit ; er hat nicht wenig zum Sieg der Kriegspartei beigetragen."
So hegen die Verantwortlichkeiten!
Aber auch jetzt noch machte die deutsche Politik einen letzten Versuch, das unabwendbar Gewordene abzuwenden.
Bisher schon hatte Deutschland gegenüber den russischen militärischen Maßnahmen eine nur durch den aufrichtigsten Friedenswillen erklärbare Langmut gezeigt. " Vorbereitende militärische Maßnahmen Russlands werden uns zu Gegenmaßnahmen zwingen, die in der Mobilisierung der Armee bestehen müssen. Die Mobilisierung aber bedeutet den Krieg" — so hatte es in der am 26. Juli an den Grafen Pourtales telegraphierten Instruktion geheißen. Trotzdem hatte man davon abgesehen, die von der russischen Regierung plump abgeleugneten, aber durch zahlreiche zuverlässige Berichte und Einzelheiten bestätigten "vorbereitenden militärischen Maßnahmen" Russlands durch Gegenmaßnahmen zu beantworten; ja man hatte davon abgesehen, auf die am 28. Juli verfügte Mobilmachung in den Gouvernements Moskau, Kiew, Kasan und Odessa mit Mobilmachungsmaßnahmen zu reagieren. Und sogar jetzt noch, wo der Befehl des Zaren zur Mobilisierung der gesamten russischen Streitkräfte zu Land und zu Wasser amtlich bekanntgemacht worden war, zögerte man in Berlin mit der Mobilmachungsorder. Man begnügte sich damit, den " Zustand der drohenden Kriegsgefahr" zu verkündigen und mit der Bekanntgabe dieser Verkündigung an die russische Regierung die Mitteilung zu richten, dass dem Zustand der drohenden Kriegsgefahr, die noch nicht Mobilmachung sei, die Mobilmachung folgen müsse, wenn Russland nicht binnen 24 Stunden seine militärischen Maßnahmen gegen die beiden Mittelmächte einstelle und Deutschland davon in Kenntnis setze. Gleichzeitig erhielt der deutsche Botschafter in Paris die Weisung, an die französische Regierung die binnen 18 Stunden zu beantwortende Anfrage zu richten, ob sie im Falle eines Krieges mit Russland neutral bleiben wolle.
Deutschland sah also noch immer, trotz der unmittelbaren Bedrohung durch die russische Generalmobilmachung, von dem äußersten Schritt ab, auf die Gefahr hin, dadurch kostbare und uneinbringliche Zeit zu verlieren, lediglich um noch einen letzten Spielraum für Anstrengungen zur Erhaltung des Friedens zu lassen.
Wenn überhaupt noch eine letzte Möglichkeit bestand, das Verhängnis abzuwenden, so lag sie in den Händen der britischen Regierung. Deutschland hatte Österreich-Ungarn auf den von Sir Edward Grey gewünschten Weg gebracht. Sir Edward Grey hielt mit dem Ausdruck seiner Genugtuung über diesen Erfolg nicht zurück. Wie würde er sich zu der russischen Generalmobilmachung stellen, die diesen Erfolg und jede Aussicht auf die Erhaltung des Friedens brutal zunichtemachte?
Die deutsche Regierung konzentrierte alle ihre Anstrengungen darauf, das britische Kabinett zu einer Haltung zu bestimmen, die im letzten Augenblick die Katastrophe noch hätte verhindern oder wenigstens einschränken können, und setzte, um diesem letzten Versuch noch Raum zu geben, gegen das Drängen der verantwortlichen militärischen Instanzen beim Kaiser noch einen letzten Aufschub durch.
Aber ihre Bemühungen in London schlugen fehl.
Die von der britischen Regierung veröffentlichten Dokumente enthalten auch nicht die Spur einer Andeutung irgendeines Versuchs der Einwirkung auf Russland, um eine Aufschiebung der Mobilmachung oder eine befriedigende Aufklärung an Deutschland zu erlangen. Sir Edward Grey beschränkte sich vielmehr darauf, durch den Berliner Botschafter an die deutsche Regierung die von vornherein aussichtslose und auch alsbald zurückgewiesene Zumutung zu stellen, Deutschland möge im mobilen Zustand stillhalten und weiterverhandeln. Ferner warf Sir Edward Grey jetzt, am 31. Juli, in der durchsichtigen Absicht, einen für die britische öffentliche Meinung plausiblen Kriegsgrund zu gewinnen, die Frage