Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich
war stark betroffen.
Nach einer kurzen Pause des Schweigens äußerte er Zweifel. Ich verwies ihn darauf, dass unsere raschere Mobilmachung uns gegenüber der russischen Überzahl einen Vorsprung gebe, der durch kein Zaudern verloren werden dürfe; davon sei Zivil und Militär bei uns durchdrungen. Deshalb sei Mobilisieren und Losschlagen für uns gleichbedeutend.
Davydoff überzeugte sich von dem Ernst der Sache. Er erklärte diesen Punkt für so außerordentlich wichtig, dass er noch in der Nacht darüber nach Petersburg telegraphieren müsse.
Am nächsten Vormittag, Montag, 27. Juli, machte ich dem Unterstaatssekretär Zimmermann von der nächtlichen Unterhaltung mit Herrn Davydoff Mitteilung und fragte ihn, welche Andeutungen ich eventuell Herrn Davydoff über einen Ausweg machen könne, der nach seinem Wunsch Russland ermöglichen solle, "das Gesicht zu wahren". Das Ergebnis der Besprechung mit Zimmermann war, dass ich Herrn Davydoff als meine persönliche Anregung nachstehenden Gedanken mitteilte:
Österreich-Ungarn hat in seiner Zirkularnote an die Mächte gesagt, dass es das Beweismaterial für den der Note an Serbien zugrundeliegenden Tatbestand zur Verfügung der Regierungen halte. Da die russische Regierung Zweifel in die Richtigkeit der von Österreich-Ungarn behaupteten Tatsachen setze, bleibe vielleicht die Möglichkeit, der Wiener Regierung zu suggerieren: Die österreichisch-ungarische Regierung teilt sua sponte und ohne eine Anfrage der russischen Regierung abzuwarten, dieser ihr Beweismaterial mit. Die russische Regierung könne, wenn es ihr auf einen Ausweg aus der Sackgasse ankomme, diesen freundschaftlichen Schritt benutzen, um sich für überzeugt zu erklären und Österreich-Ungarn freie Hand für ein Vorgehen gegen Serbien zu lassen.
Davydoff griff den Gedanken auf und meinte, Russland müsse wohl außerdem darüber vergewissert werden, dass die österreichisch-ungarische Aktion keine Verschiebung des Gleichgewichts auf dem Balkan zur Folge haben werde.
Auf meinen Hinweis, dass Österreich-Ungarn bereits feierlich erklärt habe, dass es keine territorialen Ziele verfolge, antwortete er, dass es vielleicht möglich wäre, noch zu präzisieren und zu ergänzen, um dadurch Russland den Rückzug zu erleichtern.
Im Einverständnis mit Zimmermann setzte ich mich dann mit dem österreichisch-ungarischen Botschaftsrat Baron Haimerle in Verbindung. Baron Haimerle sagte mir, dass die Beweise für die in der Note an Serbien aufgeführten Tatsachen in Form eines Memoires von der Wiener Regierung den sämtlichen Großmächten in den nächsten Tagen zugestellt werden sollten. Damit werde meiner Anregung in der Sache entsprochen. Darüber hinaus seiner Regierung einen besonderen Schritt gegenüber Russland zu empfehlen, lehnte er ab, da in der augenblicklichen Lage jeder besondere Schritt Österreich-Ungarns gegenüber Russland als Schwäche ausgelegt werde und damit die Entwirrung der Lage erschwere.
Ich legte nun — immer im Einverständnis mit dem Unterstaatssekretär Zimmermann — Herrn Davydoff, der mich um eine Formulierung gebeten hatte, die er nach Petersburg telegraphieren könne, folgende Fassung vor:
"Dr. Helfferich glaubt Grund zu der Annahme zu haben, dass die österreichisch-ungarische Regierung spontan der russischen Regierung, und ebenso den Regierungen der übrigen Großmächte, das Material betreffend die Verschwörung gegen das Leben des Erzherzogs Franz Ferdinand und deren Zusammenhang mit der großserbischen Agitation vorlegen wird, um auf diese Weise den Regierungen Gelegenheit zu geben, sich von der Richtigkeit der in der Note an Serbien aufgeführten Tatsachen und von der Berechtigung der Forderungen Österreich-Ungarns zu überzeugen,"
Ich war mir ganz klar darüber, dass dieser Strohhalm äußerst dünn war. Trotzdem äußerte Davydoff, nachdem er die Fassung aufmerksam durchgelesen hatte: "Das ist immerhin schon recht viel."
Auch am folgenden Tag bezeichnete Davydoff den von mir suggerierten Weg als gangbar und erklärte, dass er in Petersburg dafür eintreten werde, dass man diesen Weg benutze. Er äußerte ferner bei dieser letzten Unterredung, dass er sich ganz besonders viel von einer Initiative des Kaisers gegenüber dem Zaren, der hierfür sehr zugänglich sei, verspreche.
Unmittelbar vor seiner Abreise am Abend des 28. Juli ließ mir Davydoff noch bestellen, er habe in der russischen Botschaft eine hoffnungsvolle Mitteilung über die letzte Unterhaltung zwischen Ssasonoff und dem Grafen Pourtales gesehen. Beide Staatsmänner hätten sich gegenseitig zugesagt, dass beiderseits zunächst keine weiteren militärischen Vorbereitungen getroffen werden sollten.
Zimmermann war von einem solchen Austausch von Zusagen über ein beiderseitiges Unterlassen militärischer Vorbereitungen nichts bekannt. Vom Grafen Pourtales liege kein Bericht vor, der auf etwas Derartiges schließen lasse; im Gegenteil, es häuften sich die Nachrichten, dass die Russen auch an unserer Grenze mobil machten. Auf meine Mitteilung der Anregung Davydoffs, ob der Kaiser dem Zaren gegenüber nicht eine Initiative ergreifen wolle, sagte mir Zimmermann, dass der Kaiser aus eigenem Antrieb bereits einen sehr herzlichen Friedensappell an den Zaren gerichtet habe.
In der Tat war die russische Friedenspartei, die sich wohl hauptsächlich um Kokowzoff gruppierte und in deren Auftrag Davydoff — wie ich ohne weiteres annehme, guten Glaubens und mit dem besten Willen — sich betätigte, zu schwach, um die Partie gegen die übermächtig gewordene russische Kriegspartei durchzuhalten. Der Minister des Auswärtigen, Herr Ssasonoff, besorgte, wie später aus den verschiedenen amtlichen Veröffentlichungen und vor allem auch aus den Aussagen im Ssuchomlinoff-Prozess einwandfrei bekannt geworden ist, zusammen mit dem Kriegsminister Ssuchomlinoff und dem Generalstabschef Januschke witsch unbeirrbar die Geschäfte der Kriegspartei. Schon am 24. Juli, dem Tag nach der Übergabe des Ultimatums, hatte er den Botschaftern Englands und Frankreichs erklärt, dass Russland die Mobilmachung, über die ein Kronrat am nächsten Tage beschließen werde, unter allen Umständen durchführen werde. Ein solcher Beschluss ist in der Tat am 25. Juli gefasst worden, und zwar mindestens für die südlichen und südöstlichen Gouvernements. Der Beschluss wurde vor Deutschland und Österreich -Ungarn zunächst geheim gehalten. Ebenso wie Davydoff mir am 28. Juli abends Mitteilung von einer angeblich in Petersburg erfolgten Verständigung darüber machen ließ, dass weitere militärische Vorbereitungen unterbleiben sollten, hatte schon am 27. Juli der russische Kriegsminister dem deutschen Militärattaché beruhigende Versicherungen gegeben. In Wirklichkeit wurde am 29. Juli der Welt die Mobilisierung der Korps von Odessa, Kiew, Moskau und Kasan als vollzogene Tatsache mitgeteilt, und die Nachrichten, dass die Mobilisierung in den an Deutschland angrenzenden Gouvernements in vollem Gange sei, wurden immer zahlreicher und bestimmter.
Die Hoffnung auf ein Dazwischentreten des Zaren konnte bei der bekannten Willensschwäche dieses Herrschers nicht allzu hoch veranschlagt werden. Sein erstes Antworttelegramm an unsern Kaiser bestätigte diese Auffassung.
So gab es nur noch eines, was die russische Kriegspartei von der Entfesselung des Krieges abhalten konnte: ein starker Druck Frankreichs und Englands zugunsten des Friedens.
Österreich-Ungarn hatte einer solchen Einflussnahme Frankreichs und Englands die Wege geebnet durch seine alsbald nach Überreichung des Ultimatums abgegebene Erklärung, dass es weder eine territoriale Vergrößerung noch eine Beeinträchtigung der Integrität Serbiens, sondern nur seine eigene Sicherheit erstrebe. Als aber der deutsche Botschafter unter Hinweis auf diese Erklärung an die französische Regierung herantrat, um dieser anheimzustellen, bei der russischen Regierung im Interesse des Friedens zu intervenieren (26. Juli), da lehnte die französische Regierung diese Anregung mit der Begründung ab, Russland habe keinen Anlass zu Zweifeln an seiner Mäßigung gegeben ; aber Deutschland möge bei seinem Bundesgenossen intervenieren, um ihn von militärischen Operationen gegen Serbien abzuhalten. Aus keinem der zahlreichen von den Ententeregierungen über den Ursprung des Krieges veröffentlichten Dokumenten ergibt sich ein Anhalt dafür, dass die französische Regierung in irgendeinem Stadium der Krisis auch nur den kleinen Finger gerührt habe, um auf Russland in versöhnlichem Geiste einzuwirken und es von den mit ihrer Kenntnis eingeleiteten militärischen Maßnahmen, die den Krieg bringen mussten, zurückzuhalten. Das ganze Bestreben der französischen Regierung in jener Zeit war darauf gerichtet, von der britischen Regierung formelle und bindende Zusicherungen darüber zu erhalten, dass England im Falle des Kriegsausbruchs sofort auf der Seite Frankreichs und Russlands eingreifen werde.