Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich
in der gegenwärtigen Krisis zu zögern" ; falls das Kabinett diese Unterstützung gewähre, böten sie ihm die rückhaltlose Unterstützung der Opposition an.
Aber im liberalen Kabinett selbst gab es Leute, und erst recht in der liberalen Partei und der Arbeiterpartei, sowohl im Parlament wie im Lande, die auch mit dieser Parole sich nicht blindlings in den Krieg führen lassen wollten. Darunter, wenn unwidersprochen gebliebene Mitteilungen englischer Blätter stimmen, sogar Lloyd George. Noch am 30. Juli musste Grey dem französischen Botschafter mitteilen, das Kabinett sei zu dem Schluss gekommen, es könne im gegenwärtigen Moment keine Verpflichtung übernehmen. Diese Mitteilung war nicht nur Herrn Cambon, sondern sichtlich auch Sir Edward, dessen Eröffnungen vom Tage vorher an Herrn Cambon durch das Kabinett gewissermaßen desavouiert waren, sehr unangenehm. Sir Edward beeilte sich, tröstend hinzuzufügen, weitere Entwicklungen könnten die Lage ändern und Regierung und Parlament von der Berechtigung einer britischen Intervention überzeugen; die Neutralität Belgiens könne, wenn nicht ein entscheidender, so doch mindestens ein wichtiger Faktor für die Bestimmung der Haltung Englands sein. Und Sir Arthur Nicolson, der Vater der britisch-russischen Entente, der wohl von allen britischen Staatsmännern mit dem größten Zielbewusstsein auf den Koalitionskrieg gegen Deutschland hinarbeitete, gab Herrn Cambon, als dieser ihm beim Verlassen des Kabinetts des Staatssekretärs begegnete, vertraulich zu verstehen — so berichtete Herr Cambon nach Paris — , dass der Staatssekretär nicht verfehlen werde, die Diskussion im Kabinett wiederaufzunehmen.
In all dem kann niemand auch nur die Spur eines Bemühens nach Verhinderung des Krieges finden; was klar und unverhüllt zutage tritt, ist das Suchen nach einem für das britische Kabinett und die britische öffentliche Meinung genügend zugkräftigen Kriegsgrund. Man stelle das Verhalten Sir Edward Greys gegenüber dem französischen Botschafter und gegenüber dem deutschen Botschafter in Vergleich: In seinen Unterhaltungen mit dem Fürsten Lichnowsky lehnte er jede Andeutung über die Bedingungen ab, unter denen es für England möglich sei, dem Kriege fernzubleiben. Dagegen erörterten seine Gespräche mit Herrn Cambon fast ausschließlich die Frage nach einem geeigneten Ausgangspunkt für ein sofortiges Eingreifen Englands in den Krieg. Dieser Unterschied zeigt das wahre Gesicht der jedenfalls in jenem Stadium auf den Krieg gerichteten britischen Politik.
Nachdem auch der "Kampf um die Hegemonie in Europa" als Kriegsparole keinen unbedingten Erfolg versprach, griff Sir Edward Grey die Frage der belgischen Neutralität auf. Er operierte gegenüber den Zögernden mit der ungenügenden, weil ausweichenden Antwort, die der Staatssekretär von Jagow auf die erste Anfrage des britischen Botschafters in Berlin am 31. Juli gegeben hatte. Als ihm dann der Fürst Lichnowsky am 1. August die Gegenfrage stellte, ob England bereit sei, im Fall der Respektierung der belgischen Neutralität durch Deutschland selbst neutral zu bleiben, enthielt Grey seinem Kabinett das in dieser Gegenfrage liegende, von ihm alsbald abgelehnte Angebot vor, das der britischen Regierung die Sicherung der belgischen Neutralität um den Preis der eignen Neutralität ermöglicht hätte ; ebenso wie er dem Kabinett das deutsche Angebot vorenthielt-, gegen Zusicherung der Neutralität Englands von jedem Angriff auf die atlantische Küste und Schifffahrt Frankreichs abzusehen und die Integrität Frankreichs und seiner Kolonien zu gewährleisten.
Am Abend des 4. August stellte der britische Botschafter in Berlin dem Reichskanzler jene bis Mittemacht befristete Anfrage, ob Deutschland sich verpflichte, die belgische Neutralität zu respektieren. Damals hatten deutsche Truppen die belgische Grenze schon überschritten. Das britische Kabinett hatte seinen Kriegsvorwand und seine Kriegsparole.
Wie stark die militärische Notwendigkeit war, selbst auf die Gefahr hin, England einen wirksamen Kriegsvorwand und eine zugkräftige Kriegsparole zu liefern, die belgische Neutralität außer Acht zu lassen, vermag ich nicht zu beurteilen. Unsere moralische Berechtigung, durch Belgien zu marschieren, steht für mich nach allem, was vorausgegangen war, außer Zweifel. Ebenso außer Zweifel steht für mich, dass auch die peinlichste Respektierung der belgischen Neutralität England nicht vermocht hätte, dem Kriege als unser Gegner fernzubleiben.
Letzteres ergibt sich aus der ganzen langen Vorgeschichte des Krieges, in der England die treibende Kraft war; aus den Besprechungen zwischen dem Foreign Office und Herrn Cambon, die sich schließlich nur noch um die Frage des Ausgangspunktes für das britische Eingreifen drehten; und schließlich aus folgendem wichtigen Umstand:
Am 2. August, ehe ein deutscher Soldat auf belgischem Boden stand und ehe die erst am Abend dieses Tages in Brüssel gestellte deutsche Anfrage wegen des Durchmarsches vorlag, bestätigte Sir Edward Grey auf Grund eines Kabinettsbeschlusses dem französischen Botschafter eine Eröffnung, die er ihm tags zuvor schon auf eigne Verantwortung gemacht hatte. Nach dem von Herrn Cambon nach Paris erstatteten Bericht lautete diese Eröffnung:
"Falls das deutsche Geschwader in den Kanal einfahren oder die Nordsee passieren sollte, um die britischen Inseln zu umschiffen, in der Absicht, die französischen Küsten oder die französische Kriegsflotte anzugreifen und die französische Handelsflotte zu 'beunruhigen (!), würde die britische Flotte eingreifen, um der französischen Marine ihren Schutz zu gewähren, in der Art, dass von diesem Augenblick an England und Deutschland sich im Kriegszustand befinden würden." (Franz. Gelbbuch Nr. 143.)
Das war die Entschlossenheit zum Krieg, unabhängig von der Verletzung der belgischen Neutralität, für einen bestimmten Fall, der bei einem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich der Natur der Dinge nach sich einstellen musste. Das britische Kabinett hatte sich gegen den Widerstand seiner friedensfreundlichen Mitglieder zu dieser Erklärung entschließen müssen, weil auf Grund der dem Kabinett seit 1911 bekannten militärischen und maritimen Abmachungen mit Frankreich die französische Flotte im Mittelmeer konzentriert war und infolgedessen für England die moralische Verpflichtung bestand, die atlantische Küste und Schifffahrt Frankreichs zu schützen.
Aber dieser casus belli wurde nicht praktisch. Die britische Politik behielt den Vorteil der in der deutschen Verletzung der belgischen Neutralität enthaltenen Kriegsparole.
Am Abend des 4. August stand fest, dass Deutschland durch einen unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod mit einer überlegenen Koalition werde gehen müssen. Durch das ganze deutsche Volk ging eine grimmige Entschlossenheit, den uns aufgezwungenen Krieg aufzunehmen und durchzuführen. Vor dem Schloss in Berlin staute sich die Menge und huldigte dem Kaiser, der seinem Volke sechsundzwanzig Jahre lang den Frieden erhalten hatte und der es jetzt in Worten, die jedem zu Herzen gingen, aufrief zum Kampf um Hof und Herd, um das Recht auf Leben und Arbeit.
Wenige Wochen später, am 28. August, sah ich den Kaiser im Schloss zu Koblenz. Der Aufmarsch unsrer Heere war in glänzender Weise durchgeführt; die französischen Armeen und das britische Hilfskorps waren geschlagen; unsere Truppen waren überall im Westen in siegreichem Vormarsch ; aus dem Osten kamen die ersten Nachrichten von Hindenburgs gewaltigem Sieg bei Tannenberg. Es schien alles über Erwarten gut zu gehen, und die Hoffnungsfreudigen glaubten an ein rasches und glückliches Ende des Krieges.
Der Kaiser ging nach dem Frühstück länger als eine Stunde mit mir im Park auf und ab und sprach sich über die gewaltigen Ereignisse der letzten Wochen in der rückhaltlosesten Weise aus. Ich hatte von ihm den Eindruck eines Mannes, der, trotzdem das Glück seiner Sache günstig zu sein schien, innerlich auf das tiefste erschüttert war und schwer an der Verantwortung für seine Entschlüsse trug. Er schilderte mir in der ihm eigenen Lebhaftigkeit die Vorgänge, die zum Krieg geführt hatten, und seine persönlichen Bemühungen, den Krieg abzuwenden. Er rief Gott zum Zeugen dafür an, dass er in seiner ganzen Regierungszeit keinen höheren und heiligeren Wunsch gekannt habe, als seinem Volke den Frieden zu erhalten und es durch friedliche Arbeit zu besseren und glücklicheren Lebensbedingungen zu führen. Er erinnerte an sein letztes Zusammensein mit seinen Vettern, dem Zaren und dem König von England, im Schloss von Berlin bei Gelegenheit der Hochzeit seiner Tochter mit dem Herzog von Braunschweig im Jahre 1913, an die Beruhigung, die er damals über die friedlichen Absichten Russlands und Englands gewonnen zu haben glaubte. Er habe sich gar nicht an den Gedanken gewöhnen können, dass alle die Freundschafts- und Friedensversicherungen nur Lug und Trug gewesen seien; und doch habe er sich aus dem Gang der Dinge überzeugen müssen, dass damals unter seinem eignen Dach seine Gäste die Verschwörung gegen Deutschland bereits im Herzen trugen. Er habe