Der Erste Weltkrieg. Dr. Karl Theodor Helfferich

Der Erste Weltkrieg - Dr. Karl Theodor Helfferich


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ob im Falle einer Verpflichtung Deutschlands zur Achtung der belgischen Neutralität England sich seinerseits zur Neutralität verpflichten wolle. Grey antwortete gewunden, aber doch mit dem Schlussergebnis, dass England allein auf Grund dieser Bedingung seine Neutralität nicht zusagen könne. Darauf stellte Fürst Lichnowsky die dringende Frage, ob Grey nicht die Bedingungen formulieren könne, unter denen England zur Neutralität bereit sei; seinerseits bot er die Garantie der Integrität Frankreichs und seiner Kolonien an. Ja, die deutsche Regierung ging noch weiter: sie erklärte, dass die deutsche Flotte, solange England sich neutral verhalte, die Nordküste Frankreichs nicht angreifen und im Falle der Gegenseitigkeit, keine feindlichen Operationen gegen die französische Handelsschifffahrt vornehmen werde. Aber Sir Edward Grey hatte auf alles nur die Antwort: er müsse endgültig jedes Neutralitätsversprechen auf Grund solcher Bedingungen ablehnen und könne nur sagen, dass England seine Hände frei zu halten wünsche (englisches Blaubuch Nr. 123). —

      Deutschland hat also für die Neutralität Englands, die nicht nur die Lokalisierung, sondern wahrscheinlich in letzter Stunde noch die Verhinderung des Krieges bedeutet hätte, die Integrität Belgiens und Frankreichs einschließlich seiner Kolonien, außerdem den Verzicht auf jede Flottenaktion gegen die französische Küste und die französische Handelsschifffahrt angeboten; aber nicht einmal um diesen Preis, und auch nicht um irgendeinen anderen, war die britische Neutralität zu haben. Das Wort Sir Edward Greys vom 1. August: "England will seine Hände freihalten", das so genau mit dem Ausklang der Haldane-Verhandlungen vom Frühjahr 1912 übereinstimmt, hieß nichts anderes als: England ist entschlossen, den Krieg nicht zu verhindern und im Krieg gegen Deutschland einzugreifen.

      Die Nachrichten über diesen Verlauf des letzten Versuchs trafen im Laufe des 1. August in Berlin ein, während dort der Kaiser mit seinen ersten Ratgebern über die letzte Entscheidung beriet. Die Russland und Frankreich gestellten Fristen näherten sich ihrem Ablauf, ohne dass Antworten vorlagen. Da schien sich noch einmal ein Lichtblick zu zeigen: ein Telegramm des Fürsten Lichnowsky, Sir Edward Grey habe telefonisch bei ihm anfragen lassen, ob Deutschland, wenn Frankreich neutral bliebe, es nicht angreifen werde. Der Fürst hatte sich für ermächtigt gehalten, zu antworten, er glaube das zusichern zu können, falls England mit Heer und Flotte diese Neutralität garantiere. In Berlin wirkte diese neue Friedensaussicht wie eine Befreiung vom stärksten Druck. Aber alsbald folgte ein weiteres Telegramm des Fürsten Lichnowsky, das die neue Aussicht zunichtemachte: Sir Edward Grey erklärte, seine telefonische Anfrage sei missverstanden worden.

      Deutschland hatte alle Mittel erschöpft, um die Weltkatastrophe des Kriegs zu verhindern. Die russischen Heeresmassen rollten unaufhaltsam nach den deutschen Grenzen, Die Antworten auf die befristeten deutschen Anfragen in Petersburg und Paris blieben immer noch aus. Vor dem Berliner Schloss, in dem jetzt die Entscheidung fallen musste, wartete das Volk in -atemloser Spannung. Am Nachmittag verbreitete sich plötzlich das Gerücht, Russland habe seine Mobilmachung eingestellt. Aber ebenso rasch war festgestellt, dass immer noch keine Nachricht vorliege. Um halb sechs Uhr riefen Generalstabsoffiziere, vom Schloss über die Linden fahrend, aus ihren Autos: "Mobilmachung!"

      Schon vorher, um 3 Uhr 40 Minuten nachmittags, hatte die französische Regierung die allgemeine Mobilmachung verfügt.

      Das Rad des Schicksals war jetzt im unaufhaltbaren Rollen. Ein Zurück gab es nicht mehr. In allen beteiligten Ländern standen die Entschlüsse fest. Alles, was jetzt noch geschah, war Taktik und Formalität.

      So sehr ich auch heute noch, nach dem unglücklichen Verlauf des Krieges, überzeugt bin, dass uns in der Sache keine andere Wahl blieb, dass unsere Feinde den Krieg gewollt und uns den Weg des Krieges vorgeschrieben haben, ebenso sehr war ich damals schon als nicht unmittelbar beteiligter Zuschauer und Beobachter der Meinung, dass in den Fragen der Taktik und der Formalitäten unsere Gegner uns überlegen waren. Ich habe z. B. damals schon die förmlichen Kriegserklärungen an Russland und Frankreich als einen überflüssigen und schädlichen Ausfluss übertriebener formalistischer Gewissenhaftigkeit angesehen. Wir wussten, dass Russland den Krieg unter allen Umständen wollte und durch nichts — außer durch den nicht einsetzenden englischen Gegendruck — zu halten war. In der Tat haben russische Truppen und Banden die ostpreußische Grenze bereits vor Ablauf der von uns am 31. Juli gestellten Frist und vor der Überreichung unserer Kriegserklärung überschritten und damit den Kriegszustand herbeigeführt. Wozu hatten wir es nötig, durch eine förmliche Kriegserklärung uns auch nur rein formell in die schlechtere Position des Angreifers zu bringen? — Wir wussten, dass Frankreich Russland gegenüber zur Waffenhilfe verpflichtet und entschlossen war. Wozu mussten wir durch eine formelle Kriegserklärung der französischen Regierung den Nachteil der Vorhand abnehmen? — Nach meinem Gefühl wäre es richtiger gewesen, nach dem Wort eines klugen Franzosen zu verfahren: "Il ne faut jamais mettre les points sur les I's!" Durch unsern formalistischen Eifer haben wir das Spiel der Gegner gespielt und den äußeren Anschein der tatsächlichen Vorgänge zu unseren Ungunsten verschoben. — Dasselbe gilt nach meiner Ansicht für unsre Behandlung der belgischen Neutralitätsfrage. Auch hier haben wir uns formal ins Unrecht gesetzt, wie mir später erklärt worden ist, um der belgischen Regierung eine goldene Brücke zur Nichtbeteiligung am Krieg zu bauen, Belgien hat diese Brücke nicht betreten, während das von uns selbst anerkannte Unrecht an uns haften blieb.

      Dagegen hat der Hauptspieler in unserm diplomatischen Gegenspiel, das britische Foreign Office, gerade die belgische Neutralitätsfrage, in der es selbst so schwer durch die seit dem Jahre 1906 eingeleitete militärische Zusammenarbeit mit Belgien belastet war, in virtuoser Technik zum Angelpunkt seiner diplomatischen Aufmachung des Krieges ausgestaltet.

      Die serbische Sache' war in sich zu schlecht, um gegenüber der englischen öffentlichen Meinung und gegenüber der Welt als Ausgangspunkt für Englands Eintritt in den Krieg dienen zu können. Die pazifistische Bewegung war auch in England zu stark geworden und zählte gerade in der herrschenden liberalen Partei zu viele Anhänger, ja sie hatte selbst im britischen Kabinett einen zu starken Einfluss, als dass sich die serbische Angelegenheit zu einer wirksamen Kriegsparole hätte machen lassen. Ich erinnere daran, dass Sir George Buchanan am 24. Juli 1914 Herrn Ssasonoff gegenüber die von diesem verlangte Solidaritätserklärung abgelehnt hatte mit der tags darauf von Sir Edward Grey ausdrücklich gebilligten Begründung, nicht etwa: es sei ein Verbrechen an der Menschheit, wegen der schlechten serbischen Sache einen Weltkrieg heraufzubeschwören — solche "Sentimentalität" lag der britischen Politik fern — , sondern mit der Begründung: "die direkten britischen Interessen in Serbien seien gleich Null und ein Krieg wegen dieses Landes werde niemals durch die englische öffentliche Meinung gebilligt werden."

      Noch in jener verhängnisvollen Unterhaltung, die Sir Edward Grey am Vormittag des 29. Juli mit Paul Cambon hatte, wies der britische Staatsmann, so sehr er die britische Bereitschaft zur Waffenhilfe durchblicken ließ, darauf hin, dass die serbisch-österreichische Frage und selbst ein russischdeutscher Konflikt für England kein geeigneter Ausgangspunkt zum Eintreten in den Krieg sei. Herr Cambon antwortete auf diese Bemerkung nach Sir Edwards eigener Mitteilung an den großbritannischen Botschafter in Paris: "Er verstehe, dass England keinen Beruf fühle, in einen Balkanstreit oder auch in einen Kampf um die Vorherrschaft zwischen Deutschen und Slawen einzugreifen ; wenn aber andere Ausgangspunkte entstehen und Deutschland und Frankreich hineinverwickelt werden sollten, so dass der Fall zur Frage der Hegemonie über Europa werde, so werde England zu entscheiden haben, was es zu tun habe." — Mit anderen Worten, Herr Cambon verstand, und Sir Edward widersprach nicht nur nicht, sondern gab selbst das Stichwort an seinen Pariser Botschafter weiter: die serbisch-österreichische und auch eine deutsch-russische Frage genügen für uns nicht, um England in den Krieg zu führen; wenn ihr aber aus der serbisch-österreichischen oder deutsch-russischen Frage etwa eine deutsch-französische und damit eine Frage der Vorherrschaft in Europa macht, dann habe ich den Ausgangspunkt, den ich brauche.

      Diesen Ausgangspunkt zu schaffen, lag in Frankreichs Hand: Frankreich brauchte nur seine unbedingte Solidarität mit Russland zu erklären, was, wie ich oben gezeigt habe, noch an demselben 29. Juli geschah.

      Dass Sir Edward Grey hier eine starkklingende Saite anschlug, zeigt der Brief, den die Führer der konservativen Opposition in den beiden Kammern, Mr. Bonar Law und Lord Lansdowne, am 2. August an den Premierminister richteten; sie betonten in diesem


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