Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
Hieronymus aus einem richtigen Gefühl heraus seinen Komponisten schließlich einfach verbot. Auch Mozart hat sich hier erst allmählich dem Banne des Herkommens entrungen; im allgemeinen aber lehren seine Messen, daß er gerade den Gloria-Teil mehr und mehr mit individuellerem und tieferem Leben zu erfüllen bestrebt war.
Das wort- und gedankenreiche Credo, dessen Inhalt das nicänische Glaubensbekenntnis bildet, hatte die ältere glaubensstarke und -freudige Zeit durch einen männlichen, mitunter herben Grundton zu bewältigen gesucht, der in Verbindung mit einer charaktervollen Stimmführung dem Bekenntnis einen festen, echt kirchlichen Ausdruck verlieh. Auch hier verfährt die Schule Hasses mit dem Dogma weit äußerlicher. Es kommt ihr nicht in den Sinn, den einzelnen metaphysischen Ideen des Textes auf den Grund zu gehen, sondern sie hält sich an das sinnlich Faßbare und hebt dieses auf Kosten des übrigen heraus32. Im allgemeinen spiegelt sich gerade in diesen Sätzen der Geist der damaligen Kirchenmusik besonders getreu wider: es geht sehr angeregt, kräftig und flott zu, aber statt ernster Sammlung und innerer Weihe herrschen Heiterkeit und Glanz vor, und nur an einzelnen Stellen scheinen sich die Komponisten der tieferen Bedeutung ihres Textes bewußt zu werden. Am sichtbarsten ist dies bei dem Abschnitt von Christi Menschwerdung und Passion, dem "Et incarnatus est" und "Crucifixus", altem Brauche zufolge, der Fall; allerdings gehen auch hierin zwei grundverschiedene Auffassungen nebeneinanderher, eine geistige, für die Christi Menschwerdung ein Mysterium ist, und eine sinnliche, echt neapolitanische, der dabei die volkstümliche Krippenszene vorschwebt, und die deshalb hier ganz unbefangen pastorale Sicilianoweisen anstimmt33. Auch im "Crucifixus" werden meist tiefere Töne angeschlagen, und der Aufschwung des "Et resurrexit" wird in wirksamem Gegensatz dazu herausgearbeitet. Bei der Verteilung von Solo- und Chorgesang walten auch hier oft genug rein musikalische Rücksichten vor; daß sich z.B. bei den Worten "Et in spiritum sanctum" die dritte Person der Dreieinigkeit häufig mit einem recht leichten und tändelnden Sologesang begnügen muß, läßt sich nur aus dem Streben nach einem rein musikalischen Gegensatz erklären. Den Schluß bildet, wie schon bemerkt, auch hier eine Fuge, die, wie Beethovens große Messe lehrt, an und für sich der Idee des ewigen Lebens wohl entspricht, in der Ausführung dagegen bei seinen Vorgängern hinter jenem Ideal weit zurückbleibt.
Die schwierigste Aufgabe war jedoch, beim Credo noch mehr als beim Gloria, diese Fülle der Erscheinungen zur Einheit zusammenzuschließen. Die ältere, noch von Padre Martini vertretene Art, zu der auch Mozart einen Beitrag geliefert hat (K.-V. 115), hatte auf einen musikalisch-formalen Zusammenschluß überhaupt verzichtet und ihre Hauptaufgabe in einem möglichst engen Anschluß an den Text erblickt. Nun aber regen sich die Versuche, den ganzen Komplex auch musikalisch abzurunden und dadurch übersichtlicher zu gestalten, sei es, daß man bestimmte Hauptthemen nach Art der zyklischen Formen wiederholte, oder die Einheit mittels durchgehender Orchestermotive herstellte, oder endlich gar die Hauptgedanken des Textes (wie das Wort "credo" selbst) dem Hörer durch öftere Wiederholung einprägte. Hierin hat gerade Mozart bahnbrechend gewirkt, und die Spuren seiner Arbeit lassen sich bis in Beethovens Schaffen hinein verfolgen.
Im Sanctus hatten sich im Laufe der Zeit die Verhältnisse derart verschoben, daß das Benedictus, ursprünglich nur ein kurzer Zwischensatz, mehr und mehr zum Hauptteil wurde, gegenüber dem das Sanctus die Rolle einer bloßen Einleitung erhielt. Den Beginn macht das stets knapp gehaltene Sanctus im Tone weihevoller Erhabenheit, ihm folgt mit dem "Pleni sunt coeli" ein längerer, bewegter Satz voll festlichen Glanzes, der von dem fugiert gehaltenen "Osanna" beschlossen wird. Alle drei Abschnitte fallen dem Chore zu. Dagegen ist das Benedictus34, mit seiner kindlichen Zuversicht ein Lieblingsstück der Wiener Messe, ein Hauptplatz des Sologesangs, sowohl des einstimmigen als des von Mozart besonders bevorzugten vierstimmigen. Wie ein trauliches Idyll liegt es zwischen den beiden umgebenden Sätzen eingebettet, und gerade diesem Satze hat Mozart den Stempel seines Geistes so sichtbar aufgeprägt, daß später seine Auffassung vorzugsweise maßgebend geworden ist. Das "Osanna" wird danach gewöhnlich ganz oder abgekürzt wiederholt, mitunter aber auch in das Benedictus selbst verwebt. Allerdings findet sich daneben, wenn auch schwächer vertreten, ein zweiter Typus des Benedictus, der herbe, ja sogar düstere Töne anschlägt, wie sie für gewöhnlich erst das Agnus Dei bringt; es ist, als ob dieses bereits seine Schatten vorauswürfe und der Anblick des Gottgesandten in der Seele des Komponisten das Gefühl tiefer Zerknirschung hervorriefe. Meist zeichnen sich diese Sätze auch durch eine weit strengere Stimmführung aus.
Im Agnus Dei ist die Zweiteilung durch den Text gegeben: schuldbewußtes Flehen um Erbarmen und Bitte um Frieden; musikalisch findet sie ihren Ausdruck in einem langsamen (Agnus Dei) und einem raschen Satz (Dona). Jener ist häufig als Wechselgesang zwischen Solo und Chor gedacht; hier ist zugleich wieder eine Stelle, wo die meisten Komponisten tiefere Töne, sei es elegischer oder pathetischer Natur, anschlagen. Um so krasser wirkt dann freilich meist der Gegensatz des "Dona nobis pacem", denn hier pflegt die Verweltlichung einen selbst für neapolitanische Verhältnisse ungewöhnlichen Grad zu erreichen. Es ist, als wären die Komponisten mit ihren Gedanken bereits draußen vor der Kirche auf der Straße, so selbstgefällig heiter und tändelnd wird diese Schlußbitte oft abgemacht. Auch Mozart ist von diesem Wesen nicht immer losgekommen.
Offenbar unter Padre Martinis Einfluß sind einige nicht vollendete Messen Mozarts entstanden, deren Handschrift auf die Jahre 1770–1772 hinweist. Die neue Welt, die sich damals dem jungen Meister erschloß, spiegelt am besten die mit dem neunten Takt des Sanctus abbrechende C-Dur-Messe (K.-V. 115, S. XXIV. 28) wider, deren Autograph die neuere Forschung wohl mit Recht in den Spätsommer 1770 setzt35. Hier weist alles auf die von Padre Martini wieder stark betonte ältere italienische Kirchenmusik hin: die ausschließliche Begleitung durch die Orgel, die durchgehende strenge Kontrapunktik, ja selbst die Motive, wie der Beginn des durch fünf Adagiotakte eingeleiteten Kyrie zeigen möge:
Auch die Neigung, die einzelnen Sätze motivisch zusammenzuschließen, tritt wieder hervor. Das eben angeführte Kyrie-Thema ist nichts als die gedrängte Form des vorhergehenden Adagios. Seine Hauptmerkmale sind das Herabsinken in die Harmonie der Unterdominante und der Wiederaufstieg zur Dominant-und Tonikaharmonie vermittelst der rhythmischen Steigerung der beiden kurzen Notenwerte. Beide machen sich auch in den folgenden Sätzen immer wieder bemerkbar, und besonders der Zug nach der Unterdominanttonart, der in scharfem Gegensatz zu der neapolitanischen Vorliebe für die Dominantschlüsse steht, ist für diese Messe charakteristisch; noch die acht Sanctus-Takte legen Zeugnis dafür ab.
In keiner anderen Messe ist Mozart vom damaligen neapolitanischen Stil so weit entfernt wie hier. Das zeigt allein schon die äußerst knappe Form der einzelnen Sätze, die sich fast ängstlich vor einem Sichausbreiten der Empfindung hütet und dafür den Sinn der Textworte mit peinlicher Sorgfalt wiederzugeben strebt. Aber auch die Auffassung ist weit ernster und würdiger geworden (man betrachte hier besonders das "Et incarnatus est" mit seinen kühnen, bereits auf das Requiem vorausdeutenden harmonischen Geheimnissen), und nur das wenig ergiebige Thema der im übrigen mit großer Kunst durchgeführten Schlußfuge des Credo gemahnt an die alte Salzburger Fugenarbeit. Man kann es nur bedauern, daß die Rückkehr in die Salzburger Verhältnisse Mozart verhindert hat, der dauernde Bundesgenosse Padre Martinis und seines damals als altmodisch verschrienen und doch so charaktervollen und echt kirchlichen Messenstils zu werden. Schon der bei den Worten "sedes ad dexteram patris" abbrechende Torso einer F-Dur-Messe (K.-V. 116, S. XXIV. 33) steht zwar noch, was die Kontrapunktik und die enge Verbindung des Kyrie und Christe eleison anbetrifft, auf dem Boden Padre Martinis, fügt aber bereits kleine Orchesterzwischenspiele neapolitanischen Stiles ein. Auch das Kyrie in C-Dur (K.-V. 221, S. XXIV. 34) mag seinem Stil nach in diese Zeit gehören, obwohl es keine langsame Einleitung und ein besonderes Thema für das Christe eleison hat; es ist möglich, daß es mit den beiden andern, handschriftlich mit ihm verbundenen Stücken, einem dreistimmigen Vokalsatz mit fehlendem Text und einem "Lacrimosa" (K.-V. 21 Anh.), für ein Requiem bestimmt war36.
Den schärfsten Gegensatz zu diesem Bologneser Stil bildet aber die große Festmesse in c-Moll oder besser gesagt in C-Dur37 (K.-V. 139, S.I. 4), die wahrscheinlich Anfang 1772 entstanden ist. Denn hier kehrt Mozart nicht allein