Das Paradies der Damen. Emile Zola
der alte Lhomme herbei. Von seiner nahe an der Tür gelegenen Kasse aus konnte er die seines Sohnes sehen, die in der Handschuhabteilung lag. Er war schon ganz weißhaarig und durch das immerwährende Sitzen schwerfällig geworden; sein Gesicht war fahl und verschwommen. Er war der Sohn eines Steuereinnehmers aus Chablis und hatte als Kontorist bei einem Weinhändler in Paris angefangen. Eines Tages hatte er die Tochter seines Hausmeisters, eines kleinen Elsässer Schneiders, geheiratet. Seither stand er unter der unbestrittenen Herrschaft seiner Frau, deren kaufmännische Fähigkeiten ihn mit Achtung erfüllten. Sie verdiente in der Konfektionsabteilung zwölftausend Franken, während er nicht mehr als fünftausend hatte. Und die Nachgiebigkeit gegenüber dieser Frau, die solche Summen ins Haus brachte, erstreckte sich auch auf ihren Sohn.
»Wie?« murmelte er, »hat Albert etwas falsch gemacht?« Seiner Gewohnheit gemäß mengte sich jetzt Mouret in die Sache ein, um die Rolle des gütigen Herrschers zu spielen. Wenn Bourdoncle Schrecken um sich verbreitet hatte, kam Mouret, um für seine Beliebtheit zu sorgen.
»Eine Dummheit«, sagte er. »Mein lieber Lhomme, Ihr Albert ist ein Wirrkopf; er sollte sich seinen Vater zum Vorbild nehmen.«
Um sich noch liebenswürdiger zu zeigen, wechselte er das Thema.
»Wie war das Konzert neulich? Hatten Sie einen guten Platz?«
Die blassen Wangen des alten Kassierers färbten sich rot. Er besaß nur diese eine Leidenschaft: die Musik – ein heimliches Vergnügen, dem er sich ergab, indem er alle Theater, Konzerte, Generalproben besuchte. Obgleich ihm der eine Arm abgenommen war, spielte er mit Hilfe eines sinnreichen Systems von Klammem Waldhorn; und da seine Frau keine lauten Geräusche duldete, hüllte er am Abend, wenn er spielte, sein Instrument in ein Tuch ein, vollkommen befriedigt durch die seltsam dumpfen Töne, die er ihm auf solche Weise entlockte. In seinem zerrütteten Haushalt gewährte die Musik ihm Trost. Sie und seine Kasse – etwas anderes kannte er nicht, außer der Achtung vor seiner Frau.
»Einen sehr guten Platz«, erwiderte er mit funkelnden Augen.
»Sie sind zu gütig, Herr Mouret.«
Mouret, der ein Vergnügen daran fand, die Leidenschaften anderer zu befriedigen, pflegte Lhomme die Konzert- und Theaterkarten zu schenken, die ihm von wohltätigen Damen aufgeredet worden waren.
Bourdoncle hatte unterdessen den Rundgang schon fortgesetzt. In der Mittelhalle, einem mit Glas überdachten Innenhof, befand sich die Seidenabeilung. Sie folgten zunächst einem Gang an der Seite der Rue Neuve-Saint-Augustin, an dem vom einen Ende bis zum andern Weißwaren ausgestellt waren. Sie fanden nichts Auffallendes und gingen langsam durch die Reihen der achtungsvoll dastehenden Angestellten. Dann kamen sie durch die Abteilungen für Baumwollstoffe und für Wirkwaren, wo die gleiche Ordnung herrschte. In der Wollwarenabteilung aber nahm Bourdoncle seine Rolle als Scharfrichter wieder auf, als er an einem Ladentisch einen jungen Mann hocken sah, dem man eine schlaflos durchjubelte Nacht am Gesicht ablesen konnte. Der Gescholtene, Liénard mit Namen, Sohn eines reichen Modewarenhändlers in Angers, duckte sich unter diesen Vorwürfen, denn in seinem Dasein voller Trägheit, Sorglosigkeit und Vergnügungen fürchtete er nur eines: von seinem Vater nach Hause gerufen zu werden.
Von da ab regnete es die Rügen hageldicht, ein wahres Gewitter ging über die Angestellten nieder. Den Abschluß machte die Handschuhabteilung: hier hatte einer der wenigen Pariser, die im Hause tätig waren, der hübsche Mignot, sich über das Essen beklagt. Es gab drei Tischzeiten: die erste um halb zehn, die zweite um halb elf, die dritte um halb zwölf Uhr. Mignot, der zur dritten Schicht gehörte, behauptete, er bekomme von allem nur ungenießbare Reste.
»Wie, das Essen ist nicht gut?« fragte Mouret verwundert. Er bezahlte dem Küchenchef anderthalb Franken je Kopf und Tag, und dieser, ein fürchterlicher Auvergnate, fand dabei noch immer Mittel und Wege, sich die Taschen zu füllen; aus diesem Grund war das Essen wirklich abscheulich. Allein Bourdoncle zuckte die Achseln: ein Küchenchef, der zweimal täglich vierhundert Mahlzeiten zu liefern habe, könne sich nicht um Feinschmecker kümmern, meinte er.
»Wenn schon«, entgegnete Mouret in wohlwollendem Ton; »meine Leute sollen eine gesunde und ausreichende Kost erhalten ... Ich werde mit dem Küchenchef reden.«
Damit war Mignots Beschwerde begraben. Mouret und Bourdoncle waren jetzt zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt. Sie standen in der Nähe der Tür, wo einer der vier Inspektoren des Hauses das pünktliche Eintreffen der Angestellten kontrollierte. Gerade schloß er sein Buch und begann, die Verspäteten einzeln aufzuschreiben. Das ganze Geschäft lag sauber und ordentlich bereit und harrte des Zustroms der Kunden.
Im hellen Licht der Mittelhalle plauderten am Stand für Seidenwaren zwei Angestellte. Der eine – er hieß Hutin –, ein kleiner, hübscher Bursche, kräftig gebaut und mit rosiger Gesichtsfarbe, war der Sohn eines Gastwirts aus Yvetot und hatte sich binnen achtzehn Monaten dank seiner anpassungsfähigen, einschmeichelnden Natur zu einem der ersten Verkäufer hochgearbeitet.
»Hören Sie, Favier, ich an Ihrer Stelle hätte ihn geohrfeigt«, sagte er zu dem andern, einem großen, hageren, gallig aussehenden jungen Menschen, der aus einer Weberfamilie aus Besançon stammte und sich sehr korrekt gab, während sein kühles Äußeres eine besorgniserregende Willenskraft verbarg.
»Das führt zu nichts, wenn man die Leute ohrfeigt«, brummte er. »Besser, man wartet.«
Sie sprachen von Robineau, der die Angestellten zu beaufsichtigen hatte, wenn der Abteilungsleiter nicht da war. Hutin hetzte im stillen gegen den Zweiten, weil er selber nach dessen Stelle trachtete. Um ihn zu verletzen und hinauszuekeln, hatte er an dem Tag, als der Robineau versprochene Posten des Abteilungsleiters frei geworden war, Bouthemont ins Haus gebracht. Allein Robineau war zäh, und der Krieg riß nicht mehr ab. Hutin intrigierte mit liebenswürdiger Miene und stachelte insbesondere Favier auf, der als Rangnächster in der Reihe der Verkäufer sich scheinbar von ihm leiten ließ, während er in Wirklichkeit nur seine eigenen Interessen verfolgte.
»Pst, siebzehn!« rief er jetzt seinem Kollegen zu. Dies war ihr Zeichen, wenn Mouret oder Bourdoncle sich näherten.
Diese setzten in der Tat ihren Rundgang fort und kamen nun durch die Halle. Vor einem Stapel Samt, der sich auf einem der Tische türmte, blieben sie stehen und fragten Robineau, was das solle. Als dieser antwortete, er habe keinen Platz, rief Mouret:
»Ich sage Ihnen doch, Bourdoncle, das Geschäft ist zu klein! Eines Tages werden wir alle Mauern bis zur Rue de Choiseul niederreißen müssen. Am nächsten Montag sollen Sie einen Ansturm zu sehen bekommen!«
Sie sprachen weiter mit Robineau, doch gleichzeitig beobachtete Mouret Hutin, der sich damit abmühte, blaue, graue und gelbe Seide nebeneinander zu dekorieren, aber mit der Wirkung nicht recht zufrieden schien. Plötzlich trat Mouret dazwischen.
»Warum wollen Sie denn das Auge schonen?« sagte er. »Keine Angst: blenden Sie es! Nehmen Sie Rot, Grün, Gelb!«
Bei diesen Worten griff er in die Seidenstoffe und warf sie durcheinander, um erregende Farbkontraste zu erzielen. Alle stimmten darin überein, daß ihr Chef der beste Dekorateur von Paris sei, ein wahrhaft eigenwilliger Schöpfer und Reformer auf dem Gebiet der Schaufenstergestaltung. Mouret schwärmte für grellste Effekte, für unregelmäßig verteilte, bunt gemischte Mengen von Stoffen, als seien diese kaskadenförmig den Regalen und Fächern entquollen. Nur Hutin, der der klassischen Schule des Gleichmaßes und Farbenwohlklangs angehörte, sah ihm wortlos zu und begnügte sich damit, verächtlich die Lippen zu schürzen, wie ein Künstler, dessen Geschmack durch solche Roheiten verletzt wird.
»Da haben Sie es!« rief Mouret, als er fertig war. »Lassen Sie die Anordnung so. Sie werden am Montag sehen, wie die Frauen anbeißen.«
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