Heiße Tage, heiße Nächte. Ananke
zu müssen, nahm Ilona den Zug jeden Morgen um dieselbe Uhrzeit und fand sich in der Regel im gleichen Waggon ein. So kam es, dass ihr bald ein Mann auffiel, wie sie Ende zwanzig, oder Anfang dreißig, der stets an der nächsten Haltestelle einstieg. Braune kurz geschnittene Haare, Wangen und Kinn manchmal mit Drei-Tage-Bartstoppeln überzogen, die seine Attraktivität nicht schmälerten. Aufmerksamkeit erregte er jedoch dadurch, dass er während der Fahrt Notenblätter studierte. Leichtes Wippen eines Fußes zeigte den Takt an, die Bewegungen der rechten Hand gaben mit etwas Fantasie Aufschluss über Rhythmus, Tempo und Art der imaginären Musik. Es kam aber auch vor, dass er ein mit Klaviertasten bedrucktes Band ausrollte, um darauf zu üben, als wären es echte Tasten.
Viele Mitreisende belächelten dann den in ihren Augen wohl seltsamen Menschen. Ilona aber nicht, sie bewunderte ihn. Denn für sie war es nur schwer vorstellbar, wie sich jemand Töne im Kopf vorstellen konnte beziehungsweise ohne sie zu hören wissen konnte, ob er gerade die richtige Taste traf. Eines der größten musikalischen Genies war Beethoven gewesen, das wusste sie, der im Alter taub gewesen war und trotzdem noch überragende Kompositionen erschaffen hatte. Aber das traf nicht auf den normalen Durchschnittsmenschen zu, der in der Regel nicht einmal Noten lesen konnte.
Als der Fremde eines Morgens von seinem Klaviaturband aufsah, trafen sich ihre Blicke. Für einen Moment wirkte er auf Ilona wie weit entrückt, ganz in seine imaginäre Musik eingetaucht. Dann jedoch klarten seine Augen auf und er schenkte ihr ein freundliches Nicken als Guten-Morgen-Gruß. Obwohl es nicht mehr war, befiel Ilona ein leises Kribbeln.
Jedes Details seines Gesichtes kannte sie inzwischen, weil sie es nicht lassen konnte, ihn stets aufs Neue zu beobachten. Seine dunkelbraunen Augen, umrahmt von einem dichten Wimpernkranz, darüber ein paar schmale dunkle Brauen, seine schlanke Nase, deren Flügel sich ab und an blähten wie die Nüstern eines Pferdes, dazu die leicht eingefallenen Wangen mit dem Dreitagebart – alles hatte sich längst in ihrem Kopf eingeprägt.
Von da an wartete sie jeden Morgen darauf, dass er sie wahrnahm und sich im Idealfall ihr Gegenüber setzte. Obwohl sie noch nie ein Wort miteinander gesprochen hatten, erschien er ihr unendlich vertraut und sie fühlte sich in seiner Nähe wohl und beschwingt.
Diese Tage waren die besten in jeder Woche. Sie begannen mit einer Leichtigkeit, die ihresgleichen suchte. War der Fremde einmal nicht da, fragte Ilona sich sofort, ob er krank war oder womöglich weggezogen.
Obwohl Ilona sich selbst als etwas schüchtern bezeichnete, war sie diejenige, die den ersten Schritt wagte. Eines Montags hatte sie in einer kleinen Box frische Früchte dabei, die sie am Vortag auf einem Erdbeerfeld gepflückt hatte. Frühling und Sommer waren ihre liebsten Jahreszeiten. Alles grünte und blühte, vor ihrem Schlafzimmerfenster zwitscherten morgens die Vögel ein fröhliches Konzert und es fiel ihr leichter aufzustehen als in der dunkleren Jahreszeit. Ihre liebsten Früchte kamen nicht aus dem Gewächshaus, sondern von Feldern, schmeckten vollmundig gereift und saftig.
Ihr Herz hämmerte erwartungsvoll, als sie in die S-Bahn einstieg. Was für ein Glück. Er war da und der Platz ihm gegenüber war noch frei.
»Guten Morgen, mögen Sie eine Erdbeere? Ganz frisch und lecker«, fragte sie, kaum dass sie sich gesetzt hatte und hielt ihm die Box hin. Ihr Magen zog sich ängstlich zusammen, wie er reagieren würde.
»Oh, danke. Das ist sehr nett von Ihnen«, erwiderte der Mann überrascht und griff lächelnd hinein. Puh, sie hatte alles richtig gemacht. Sie beobachtete ihn dabei, wie er von der Erdbeere abbiss, genussvoll den Bissen im Mund hin und her schob – am liebsten hätte sie ihm mit ihrer eigenen Zunge dabei geholfen. Das restliche Stück saugte er beinahe zwischen seinen Lippen ein, als wäre es eine. ..
Du meine Güte, hoffentlich sieht er mir nicht an, was ich gerade denke!, rief sie sich erschrocken zur Ordnung.
Später erinnerte Ilona sich nicht mehr an jedes einzelne Wort, das sie von da an gewechselt hatten. Aber an seinen freundlichen Blick und die feinen Züge seiner Lippen, wenn Marius sprach. Marius Alexander Böhm. Marius, erklärte er, hätten ihn seine Eltern nach Marius Müller-Westernhagen benannt, dessen Musik seine Mutter während der Schwangerschaft bevorzugt gehört habe. Alexander ganz altmodisch nach seinem Vater und dessen Vater.
Ilona erinnerte sich noch daran, dass sie ihn auf Musik angesprochen hatte, und was er jeden Tag in der Bahn übe. Es handelte sich nicht nur um klassische Musikstücke, wie sie vermutet hatte, denn er beschäftigte sich auch mit Jazz, Musicals, und sogar mit Rock’n’Roll. Als eines der jüngsten Mitglieder des örtlichen Philharmonieorchesters.
Ilona war beeindruckt.
Zwei Stationen bevor sie aussteigen musste, fragte er: »Wollen wir uns mal treffen? Ich meine, außerhalb der S-Bahn?«
»Ja gerne. Ihr gebt nicht zufällig demnächst ein Konzert?« Dumme Kuh, er meint das bestimmt nicht so! Manchmal sprach sie Sachen aus, die unwichtig oder einfach nur daneben waren. Wenn sie verlegen war und ihr Mund sprach ohne den Kopf einzubeziehen.
Er lachte. »Auch. Wir geben ständig Konzerte. Aber das heißt ja nicht, dass ich dir nicht persönlich vorspielen könnte. Ganz exklusiv.« Um Zustimmung heischend zwinkerte er ihr zu.
Hitze stieg ihr in die Wangen. Was meinte er mit exklusiv? Natürlich nur die Musik, was glaubst du denn? Bestimmt war er virtuos, nicht nur weil er ständig übte und einem bedeutenden Orchester angehörte. Nein, wer solche feingliedrigen langen Finger wie er hatte, der musste einfach sein künstlerisches Metier beherrschen. Ilona konnte sich an diesen schlanken langen Händen nicht sattsehen. Ob die wohl auch sensibel streicheln konnten? Ihr wurde noch heißer.
»Was hältst du von, sagen wir, morgen Nachmittag um drei Uhr? Bei mir?«
Bei ihm zuhause? Aber klar, er wollte ihr vorspielen, also hatte er bestimmt ein Klavier zuhause stehen. Dazu konnten sie sich nicht in einem Café treffen. Sie schluckte. Wieso sollte er an etwas anderes denken. In der S-Bahn hatte er ja auch nur seine Musik im Kopf. Vielleicht war er sogar ein musikalisches Genie, am Ende war sein Name für Fans längst Programm, und sie ahnte davon nicht einmal etwas.
Nachdem sie noch Adresse und Telefonnummer ausgetauscht hatten, machte Ilona sich auf den Weg zur Arbeit. Am nächsten Vormittag war einkaufen angesagt. Unter der Woche besorgte sie nur das Notwendigste wie Obst oder Brot. Alles andere erledigte sie am Samstag. Allerdings schweiften Ilonas Gedanken einige Male ab. Bestimmt hatte sie etwas vergessen. Ihre Aufregung stieg mit jeder Stunde.
Der Wohnungsputz musste heute warten. Lieber widmete Ilona sich um die Mittagszeit ihrer eigenen Pflege im Bad. Sie genoss es normalerweise in der Wanne zu liegen, ein Glas Orangensaft und ein Buch zur Hand, leise Musik aus dem Badradio. Aber heute fand sie nicht die nötige Gelassenheit. Zu gespannt war sie auf das Treffen mit ihrer neuen Bekanntschaft.
Sorgfältig, aber dennoch dezent geschminkt und in einem leichten Sommerkleid machte sie sich auf den Weg.
Die Wohngegend gehörte zu den besseren Lagen der Stadt. Altgewachsene, gut instand gehaltene und behutsam modernisierte Gebäude prägten das Bild. Kleinere, in die Wohnblocks integrierte Geschäfte hatten sich bislang halten können, anstelle großer Supermarktketten, für die ohnedies kein Platz war. Nur der Mietspiegel war für Ilonas Geschmack ein wenig zu hoch, sonst hätte sie sich auf eine der Wartelisten eintragen lassen, die es mittlerweile für viele Häuser gab. Zog jemand aus, war die Wohnung am nächsten Tag schon wieder belegt.
Schmale, hohe Sprossenfenster kennzeichneten das Haus als Altbau mit höheren Decken. Ilona musste sich fest gegen die hohe Eingangstür stemmen, um sie aufzudrücken. Ein Durchgang unter dem Gebäude führte in den Hinterhof und zum Rückgebäude. Über eine seitliche Steintreppe gelangte Ilona zu den beiden Wohnungen im Hochparterre.
Es dauerte einen Moment, bis auf Ilonas Klingeln Schritte zu hören waren. Dann stand Marius vor ihr, leger mit einem gestreiften Polohemd und Jeans bekleidet und reichte ihr die Hand.
»Hallo, schön dass du da bist. Hast du gleich hergefunden?«
»Ja danke, kein Problem. Klasse Wohngegend«, erwiderte Ilona und reichte Marius eine Flasche Prosecco. »Ich hoffe, du trinkst sowas?«
»Na