Hunnen und Rebellen. Jessica Mitford
die Dorfkirche für spirituelle Tröstungen, unsere jeweiligen Schlafräume als Krankenzimmer, selbst wenn Operationen notwendig waren – alles war da, entweder im Hause selbst oder in geringer Entfernung zu Fuß zu erreichen. Von draußen betrachtet war der Zutritt – in dem recht unwahrscheinlichen Fall, daß jemand ihn versucht hätte – für Außenseiter unmöglich. Zu den Außenseitern zählte mein Vater nicht nur Hunnen, Froschfresser, Amerikaner, Schwarze und sämtliche Ausländer, sondern auch Kinder anderer Leute, die Mehrheit der Bekannten meiner älteren Schwestern, nahezu sämtliche jungen Männer – tatsächlich die ganze wimmelnde Bevölkerung des Planeten, ausgenommen ein paar (gewiß nicht alle) unserer Verwandten und einige wenige rotgesichtige, in Tweed gekleidete Nachbarn, die mein Vater aus irgendeinem Grund schätzte.
Er war auf seine Art frei von »Vorurteilen« im modernen Sinne. Seit den dreißiger Jahren versteht man hierunter die Konzentration eines leidenschaftlichen Hasses auf eine bestimmte Rasse oder einen Glauben – Neger, Orientalen, Juden; das Wort »Diskriminierung« ist mittlerweile schon fast ein Synonym für »Vorurteil«. Mein Vater diskriminierte in keiner Weise, tatsächlich war er sich gewöhnlich irgendwelcher Unterschiede zwischen diversen Ausländern gar nicht bewußt. Als eine unserer Cousinen einen Argentinier spanischer Herkunft zum Mann nahm, bemerkte er: »Hat Robin also einen Schwarzen geheiratet.«
Es fand ein unablässiges Tauziehen zwischen »Farve« und Nancy, Pam und Diana statt, den älteren Töchtern, die gerne ihre Freunde eingeladen hätten. Da meine Mutter Besuch ganz gerne hatte, war sie oft ihre Verbündete, und die Schlachten wurden gewonnen. Die Freunde meines Bruders Tom – kräftig gebaute junge Männer mit hellem Haar, die Nancy »die dicken Blonden« nannte – bildeten eine Ausnahme; sie durften immer kommen.
Für die drei jüngeren Kinder, Unity, Debo und mich, galt die Gesellschaft, die wir aneinander hatten, als völlig ausreichend. Von sehr seltenen Besuchen von Cousins und Cousinen abgesehen, wuchsen wir in vollkommener Isolation von Gleichaltrigen auf. Meine Mutter hielt die Anwesenheit weiterer Kinder für unnötig, sie würde uns nur überreizen. Trotzdem hatte es eine Zeit gegeben, da wir bei seltenen Anlässen zu Geburtstagsfeiern oder Ostereiersuchen in die Häuser benachbarter Familien gebracht wurden.
Selbst dieses eingeschränkte Gesellschaftsleben kam jedoch abrupt zum Erliegen, als ich neun war, und sollte nie wieder beginnen – und der Grund dafür war ich selbst, ahnungsloserweise. Ich wurde in einen Tanzkurs eingeschrieben, der sich wöchentlich traf, immer in einem anderen der großen Häuser der Nachbarschaft. Kleine Mädchen in Organdykleidchen und Kaschmirstolen, von gestärkten Nannies begleitet, wurden vom Chauffeur im vereinbarten Hause abgeliefert und warteten auf den Lehrer, der mit dem Bus aus Oxford kam. Eines verhängnisvollen Nachmittags verspätete er sich um eine Stunde, und ich ergriff die Gelegenheit, die anderen Mädchen aufs Dach zu führen und ihnen dort reizvolle Informationen über Zeugung und Geburt von Babys mitzuteilen, die ich kürzlich erfahren hatte. »Und – sogar der König und die Königin machen das!« sagte ich mit eindrucksvoller Betonung. Es war ein großer Erfolg, insbesondere weil ich nicht widerstehen konnte, während des Erzählens einige Ausschmückungen zu erfinden. Alle baten mich, ihnen doch noch mehr zu erzählen, und schworen feierlich auf die Bibel, nie einer Menschenseele etwas zu verraten. Einige Wochen später ließ mich meine Mutter kommen. Ihr Gesicht war eine Gewitterwolke; und ich wußte sofort, was geschehen war. Bei der fürchterlichen Schelte, die nun erfolgte, erfuhr ich, daß eines von den kleinen Mädchen Nacht für Nacht schreiend aus Alpträumen aufgefahren, blaß und dünn geworden war und am Rand einer Nervenkrise schien. Schließlich hatte ihre Gouvernante ihr die Wahrheit über die entsetzliche Sitzung auf dem Dach entlockt (glücklicherweise enthüllte die Kleine nicht, daß ich auch das Königspaar mit hineingezogen hatte). Die Vergeltung folgte auf dem Fuße. Meine Teilnahme am Tanzkurs wurde beendet; es war allen – selbst mir – klar, daß ich fortan keine Gesellschaft für anständige Kinder mehr war. Die Ungeheuerlichkeit meiner unvorsichtigen Handlungsweise, ihr Gewicht und ihre Folgen waren derart, daß ich Jahre später – als ich mit siebzehn unter den Debütantinnen bei Hofe war – von einer älteren Cousine erfuhr, zwei jungen Männern der Nachbarschaft sei es immer noch verboten, sich mit mir abzugeben.
Unity, Debo und ich waren also auf unsere eigenen Möglichkeiten zurückgeworfen. Wie ein isolierter Eingeborenenstamm, getrennt von der übrigen Menschheit, nach und nach ganz eigene Charakteristika in Sprache, Benehmen und Weltbild ausformt, so entwickelten wir Idiosynkrasien, die auf andere Kinder unseres Alters recht exzentrisch gewirkt hätten. Selbst nach englischen Maßstäben in den fernen Zeiten der Mittzwanziger war unsere Erziehung einigermaßen ungewöhnlich. Unsere Fähigkeiten, Hobbys und Vergnügungen nahmen deutlich eigene Formen an. So verbrachte Debo (in einem Alter, wo sich andere Kinder mit Puppen, Sport, Klavierunterricht oder Ballettstunden befassen) lange stumme Stunden im Hühnerhaus und lernte, den Ausdruck schmerzhafter Konzentration präzise nachzuahmen, der auf das Gesicht eines Huhns tritt, wenn es ein Ei legt; außerdem sah sie jeden Morgen methodisch die Familiennachrichten in der Times durch und notierte die Zahl der Totgeburten in einem kleinen Buch. Ich vergnügte mich, indem ich mit meinem Vater Tatterichübungen durchführte, die darin bestanden, daß ich sanft sein Handgelenk schüttelte, während er Tee trank: »In ein paar Jahren, wenn du richtig alt bist, bekommst du wahrscheinlich den Tatterich. Ich muß jetzt vorher schon ein wenig mit dir üben, damit du dann nicht alles fallen läßt.«
Unity und ich erfanden eine vollständige Sprache namens Boudledidge, die für alle anderen unverständlich war, und übersetzten verschiedene unanständige Lieder (die sich auf diese Weise gefahrlos vor Erwachsenen singen ließen) sowie große Teile des Oxford Book of English Verse. Debo und ich organisierten die Sozietät der Honnen, deren Vorsitzende und einzige Mitglieder wir waren. Bei den Sitzungen der Society of Hons wurde Honnisch gesprochen, die offizielle Sprache der Sozietät, ein Englisch, gefärbt mit einer Art Mischung aus nordenglischen und amerikanischen Akzenten. Der Hinweis, den eine kürzlich erschienene Studie zum Ursprung der Honnen gibt, trifft nicht zu – der Name kam nicht von dem Umstand, daß Debo und ich den Titel Honourables führen konnten, sondern von den Hennen, die in unserem Leben eine so große Rolle spielten. Diese Hennen waren tatsächlich die Grundlage unserer Privatökonomie. Wir hielten Dutzende von ihnen, wobei meine Mutter das Futter lieferte und uns die Eier abkaufte – eine Art wohlwollender Variante des Erntepachtsystems. (Das H in »Honnen« wird natürlich – wie in »Hennen« und im Gegensatz zu »Honourables« – ausgesprochen.)
Die Hauptaktivität der Honnen bestand in Plänen, die Abstoßenden Anti-Honnen zu überlisten und zu besiegen, deren Hauptrepräsentant Tom war. »Tod den Abstoßenden Anti-Honnen!« war unser Schlachtruf, während wir ihn mit selbstgefertigten Speeren durchs ganze Haus jagten. Wir entwickelten und spielten endlos ein honnisches Spiel namens »Hure, Hare, Hure, und jetzt der Anfang« (des unerträglichen Schmerzes), ein Wettbewerb, bei dem ermittelt wurde, wer es am besten aushalten konnte, richtig fest gekniffen zu werden. »Hure, Hare, Hure« war die Weiterentwicklung eines früheren Spiels, das als »Langsam dran arbeiten« bekannt war. Das langsame Arbeiten bestand darin, daß man unbemerkt die Hand eines Älteren (gewöhnlich war es Tom) nahm, während er ein Buch las. Zuerst ganz sanft und mit unendlicher Geduld kratzte man die Haut an ein und demselben Punkt. Das Ziel war es, Blut fließen zu lassen, ehe das Opfer merkte, was vor sich ging. »Hure, Hare, Hure« andererseits brauchte zwei aktive Mitspieler. Der erste Spieler kniff den Arm des zweiten und verstärkte stetig den Druck, während er viermal langsam und rhythmisch psalmodierte: »Hure, Hare, Hure, und jetzt der Anfang«. Der Spieler, der es schweigend bis zum vierten Mal aushielt, hatte gewonnen. Uns schien das ein wunderbares Spiel, und wir baten Tom (der Jura studierte) unablässig, doch nachzuschlagen, ob man es nicht patentieren lassen und kommerziell nutzen konnte – jedesmal, wenn es jemand irgendwo spielte, müßte eine Schutzgebühr in die Honnen-Kasse wandern.
Tom, unser einziger Bruder, hatte im Familienleben einen besonderen Platz inne. Wir nannten ihn Tuddemy, einerseits, weil dies die Boudledidge-Übersetzung von »Tom« war, andererseits, weil wir glaubten, das reime sich mit dem Wort für Ehebruch: adultery. »Nur ein Bruder und sechs Schwestern! Wie ihr den liebhaben müßt! Der muß ja völlig verwöhnt sein«, sagten Fremde meist. »Ihn liebhaben? Ihn verabscheuen!« war die honnische Standardantwort. Debo erwiderte auf die Frage eines Volkszählers, aus wem die Familie bestehe, wütend: »Drei Riesen, drei Zwerge und ein Vieh!« Die Riesen