Hunnen und Rebellen. Jessica Mitford

Hunnen und Rebellen - Jessica  Mitford


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Oberhaupt: Nancy«.

      Tatsächlich war die Anti-Tuddemy-Kampagne, die während unserer ganzen Kindheit tobte, nur Ausdruck unserer Zuneigung für ihn, gemäß den Regeln der merkwürdigen honnischen Spiegelwelt. Über Jahre war er das einzige Familienmitglied, mit dem keines der anderen je den Kontakt abgebrochen hätte; alle sprachen mit ihm.

      Trotz häufiger, nicht besonders dauerhafter Allianzen – zu Boudledidge-Zwecken oder wegen honnischer Projekte oder gegen einen gemeinsamen Feind (gewöhnlich eine Gouvernante) – waren die Beziehungen zwischen Unity, Debo und mir nicht ganz einfach und von gegenseitigen Ressentiments geprägt. Wir waren wie allzu verschiedene Tiere, die mit ihren Leinen am selben Pfahl angebunden sind.

      Gelegentlich taten Unity und ich uns zu dem verbotenen Vergnügen zusammen, »Debo zu plagen«. Dies mußte weit außer Hörweite meines Vaters geschehen, denn Debo war sein erklärter Liebling, und es konnte fürchterliche Folgen haben, wenn wir sie zum Weinen brachten. Sie war ein ungewöhnlich weichherziges Kind, und es war leicht, ihre großen blauen Augen von Tränen übergehen zu lassen – im Familienkreise als »Überlauf« bekannt.

      Unity erfand eine tragische Geschichte mit einem kleinen Pekinesen. »Das Telephon klingelte«, hieß es da. »Großvater erhob sich aus seinem Sessel und ging hinüber, um den Hörer abzuheben. ›Babette im Bett?‹ rief er aus …« Babette lag auf dem Totenbett, Opfer einer Lungenentzündung. Der letzte Wunsch der Sterbenden war es, daß Großvater für den armen kleinen Pekinesen sorgen sollte. Doch in der ganzen Aufregung des Begräbnisses vergaß man den Hund, und er wurde mehrere Tage später am Grab seiner Herrin gefunden, gestorben vor Hunger und an gebrochenem Herzen.

      Diese Geschichte ließ Debo jedesmal in schrecklichem Kummer versinken, ganz gleich, wie oft sie schon erzählt worden war. Uns wurden dafür Monate unseres Taschengelds konfisziert, und oft wurden wir noch dazu ins Bett geschickt. Ein Grenzfall war es, wenn man lediglich mit tragischem Vibrato sprach: »Das Telephon klingelte …!«, worauf Debo so laut heulte, als hätten wir die Geschichte bis zum bitteren Ende erzählt.

      Seltsame Beschäftigungen in der Tat, und kein Wunder, daß der Refrain meiner Mutter stets lautete: »Ihr seid wirklich sehr alberne Kinder.«

      Meine Mutter plante und überwachte unsere Erziehung persönlich, und bis wir acht oder neun waren, unterrichtete sie uns selbst. Danach kamen wir ins Schulzimmer, wo eine rasch wechselnde Serie von Gouvernanten herrschte. Sicherlich diskutierten damals auf der ganzen Welt die Pädagogen den Streit zwischen den Anhängern von John Dewey und den Traditionalisten; sicherlich strömten Tausende zu den Vorträgen über die neue »Kinderpsychologie«. Wenn jedoch irgendwo – als Teil der das Jahrhundert prägenden Auseinandersetzung um die Gleichberechtigung – der Kampf um die weibliche Bildung geführt wurde, so erreichten uns in Swinbrook davon keinerlei Signale. Tom war natürlich mit acht ins Internat geschickt worden und dann nach Eton, aber meine Mutter war der Meinung, für Mädchen wäre diese Art Schulbildung überflüssig, wahrscheinlich schädlich, und auf jeden Fall viel zu teuer. Sie war stolz darauf, daß sie unsere gesamte Erziehung aus den Erträgen ihres Hühnerhofs finanzieren konnte, der nach Abzug aller Kosten (darunter der Lohn des Hühnermanns, der sinnvollerweise »Lay« hieß) etwa hundertzwanzig Pfund im Jahr abwarf, damals in etwa der Jahreslohn einer Gouvernante.

      Die Lektionen bei »Muv« im Wohnzimmer sind in meiner Erinnerung immer noch viel klarer umrissen als irgend etwas, das ich später von den Gouvernanten gelernt habe. (Der Name Muv, schwarz auf weiß niedergeschrieben, mag übrigens das Bild einer zierlichen, zärtlichen Mutti beschwören, umgeben von Kindern, die sie als »meine Küken« bezeichnet. Ebenso läßt Farve vielleicht an einen jovial-gemütlichen Daddy denken. Für mich bestimmt nicht. In meinen frühesten Erinnerungen sind Muv und Farve himmelhoch groß und breit wie der Marble Arch, und mächtiger als König und Parlament zusammen.)

      Muv lehrte englische Geschichte aus einem großen illustrierten Buch mit dem Titel Unsere Insel und mit einem wunderschönen Bild von Königin Victoria als Frontispiz. »Seht ihr, England und alle unsere Besitzungen im Empire sind auf der Karte ein wunderschönes Rosa«, erklärte sie. »Deutschland ist von einem häßlichen, schlammfarbenen Braun.« Die Illustrationen, der Text und Muvs erläuternde Kommentare ließen eine Reihe eindringlicher Szenen entstehen: Königin Boadicea, die furchtlos ihrem Heer voranritt … die armen kleinen Prinzen im Tower … Karl der Große, von Großvater unter seine Ahnen gezählt … der verhaßte öde Cromwell … Charles I., der Märtyrerkönig … die heroischen Erbauer des Empire, wie sie tapfer die schwarzen Horden Afrikas niederzwangen, zum Ruhme Englands … die bösen Inder und das Schwarze Loch von Kalkutta … die Amerikaner, die aus dem Empire hinausgeworfen worden waren, weil sie dauernd Unruhe stifteten und auf der Weltkarte ihr Anrecht auf das schöne Rosa verwirkt hatten … die dreckigen Hunnen, die im Krieg Onkel Clem umgebracht hatten … die russischen Bolschewisten, die eiskalt die Hunde des Zaren erschossen hatten (tatsächlich auch den kleinen Zarewitsch und die Zarewnas, nur schien deren Schicksal nicht ganz so traurig wie das der unschuldigen Hunde) … die Guten, die so unglaublich gut waren, die Bösen, die so unglaublich böse waren. Die Geschichte, wie Muv sie lehrte, war mir, alles in allem, sehr klar.

      Muv hatte eine Lehrmethode ausgedacht, die alle Prüfungen überflüssig machte. Wir lasen einfach den Abschnitt durch, um den es ging, dann machten wir das Buch zu und erzählten, was uns davon im Gedächtnis haften geblieben war. »Ich bin der Meinung, ein Kind muß sich nur an das erinnern, was ihm wichtig vorkommt«, erklärte sie ein wenig vage. Manchmal funktionierte das System nicht so gut. »Also, kleine D., ich hab dir jetzt ein ganzes Kapitel vorgelesen. Erzähl mir, woran du dich noch erinnerst.« »Ich fürchte, ich erinnere mich an gar nichts.« »Komm schon, kleine D., kannst du dich denn an gar kein einziges Wort mehr erinnern?« »Also gut – ›die‹.« Fataler Satz! Noch nach Jahren konnte es mich zum Weinen bringen, wenn Schwestern und Cousinen im Chor riefen: »Also gut – ›die‹.«

      Als ich neun war, rückte ich ins Schulzimmer auf. Dieser Raum – groß und luftig, mit Erkerfenstern, einem kleinen Kamin für Kohle und chintzbezogenen Möbeln – lag im ersten Stock von Swinbrook House, neben dem Zimmer der Gouvernante. Von den Besuchsschlafzimmern und den Räumen meiner Eltern war er im Korridor durch eine grünbespannte Zwischentür getrennt. Hier verbrachten wir den größten Teil unserer Zeit. Wir aßen mittags und manchmal abends drunten mit den Erwachsenen zusammen, nur nicht, wenn Besuch kam; dann wurde das Essen für uns nach oben geschickt, und wir aßen in der langweiligen Gesellschaft der Gouvernante und malten uns wütend aus, was es drunten für köstliche Dinge geben mochte.

      Unity – »Bobo« für den Rest der Familie, aber für mich »Boud« – war das einzige andere Kind im Schulzimmeralter; Debo war erst sechs und bekam ihre Lektionen noch von Muv und ansonsten im Kinderzimmer unter der Jurisdiktion der Nanny. Nancy und Pam waren schon lange erwachsen, Tom lebte gerade eine Zeitlang im Ausland, und Diana war in Paris, innerlich unruhig zwischen dem Schulzimmer und ihrer ersten Ballsaison in London schwebend.

      Boud war ein hochgewachsenes, übergroßes Kind von zwölf Jahren. Ich mußte bei ihr immer an den Ausdruck »großes Mädchen« in viktorianischen Kinderbüchern denken. »Ach je, die gute Bobo, sie ist schon enorm groß«, klagte Muv, wenn die halbjährlichen Kartons von Daniel Neal in London mit Kinderkleidern zur Auswahl bei uns eintrafen, anprobiert und im Falle Boud unweigerlich zurückgeschickt und gegen etwas Größeres umgetauscht wurden. Nancy gab ihr den groben Spitznamen »Miss Scheußlich«, aber das war sie nicht. Ihre großen, drohenden blauen Augen, die langen, unbeholfenen Gliedmaßen, das völlig glatte flachsblonde Haar, manchmal in sauberen Zöpfen, meist lose herabströmend, ließen sie aussehen wie einen struppigen Wikinger oder wie Little John. Sie war der Fluch aller Gouvernanten, von denen wenige längere Zeit ihrer unerbittlichen Ungezogenheit gewachsen waren, und es blieb deshalb kaum eine über einen nennenswerten Zeitraum hinweg. Sie kamen und gingen in verwirrender Folge, und jede brachte eine neue Perspektive auf das Wissen der Menschheit mit.

      Miss Whitey lehrte uns, zu wiederholen: »a-Quadrat minus b-Quadrat gleich a-Quadrat minus 2ab plus b-Quadrat«, doch blieb sie nicht lange genug bei uns, um zu erklären, warum das so war. Boud fand heraus, daß sie Todesangst vor Schlangen hatte, und ließ eines Morgens ihre Lieblingsringelnatter Enid säuberlich um die Ziehkette im WC geringelt zurück. Wir


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