Die ganz Großen. Georg Markus
sehen. Aber leider – ich besitze kein Videogerät.«
Eher aus Höflichkeit denn in der Annahme, sie würde von meinem Angebot Gebrauch machen, erwiderte ich, dass ihr mein Recorder jederzeit zur Verfügung stünde.
Ein paar Wochen später erschien sie tatsächlich in meiner Wohnung. Und sah sich Maskerade an.
Ich wusste an diesem Nachmittag nicht recht, auf welche Wessely ich mehr achten sollte – auf die neben mir sitzende oder auf die im Film agierende, fand aber einen guten Mittelweg.
Nach einer halben Stunde etwa – im Ballsaal, bei ihrer ersten Begegnung mit Adolf Wohlbrück – holte die junge Wessely in ihrer Rolle als Leopoldine Dur zu einer wunderbar grazilen Handbewegung aus, mit der sie aber im Rückblick nicht ganz zufrieden schien. »Zu dumm«, unterbrach die neben mir sitzende Paula Wessely die im Film agierende, »zu dumm, das hätte ich anders machen sollen.« Und sie zeigte mir vor, wie’s vielleicht besser gewesen wäre.
Auch wenn die kleine Begebenheit nicht wirklich weltbewegend war, bleibt mir unvergesslich, dass die – wie viele meinen – größte Schauspielerin des Jahrhunderts, als sie ihren berühmtesten Film wieder sah, mit einer kleinen Handbewegung, die sie vor sechzig Jahren durchführte, nicht ganz zufrieden war.
Das alte Winzerhaus in der Himmelstraße am Stadtrand von Wien, in dem sie ihr halbes Leben verbrachte, strahlt so viel Ruhe aus und ist voll von Erinnerungen. Die Erzählungen der Paula Wessely waren mit keinem anderen Gespräch zu vergleichen. Da war das Ereignis, einer Jahrhundertkünstlerin zu begegnen, da war der Zauber ihrer Sprache, der Klang, dieser einzigartige Klang.
Für ein Interview mit der Wessely – so man je das Glück hatte, eines zu bekommen –, musste man sich viel Zeit nehmen. Man ging hin, sprach mit ihr, nahm alles, was sie sagte, auf Band auf, schrieb es zu Hause nieder, kam wieder zu ihr zurück. Korrigierte das Geschriebene, kam noch einmal, korrigierte das Korrigierte … Bis der letzte I-Punkt stimmte, bis alles so da stand, wie sie ihre Worte im Druck vorzufinden gedachte. Ja, wenn jemand ein Leben lang so präzise ist im Rollenerarbeiten, in der kleinsten Bewegung, in jeder Nuance des gesprochenen Wortes, dann ist er auch präzise, wenn es gilt, etwas aus diesem Leben niederzuschreiben. Es war anstrengend, zweifellos. Aber faszinierend.
Sie erzählte damals aus ihren Erinnerungen an Kindheit und Jugend, über ihre Eltern und die Tante Josefine – gesprochen: »Tant’ Josefin’«. Sie sprach über ihr Leben mit Attila Hörbiger, ihre Film- und Theaterstationen (»Karriere dürfen Sie nicht schreiben, das klingt so schrecklich eitel«), über ihre Töchter, über die Religion und den Tod.
»Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich hundert«, schmunzelte Paula Wessely, als sie mir – rund ein Jahr nach unserem gemeinsamen »Maskerade-Erlebnis« – die Erinnerungen an ihr Leben anvertraute. Die langen Gespräche damals, die sich über mehrere Wochen hinzogen, waren gleichzeitig das letzte große Interview ihres Lebens. So viel hatte sie erlebt, dass sie selbst es nicht fassen konnte, erst 85 Jahre alt zu sein.
Von Millionen bewundert, angehimmelt zu werden, das war ihr nicht in die Wiege gelegt worden. Sie kam als Tochter des Fleischermeisters Carl Wessely und seiner Frau Anna, geb. Orth, am 20. Jänner 1907 in der Vorstadt Wien-Sechshaus zur Welt. Ihre Tante, die große k. u. k. Hofschauspielerin Josefine Wessely, war die Schwester ihres Vaters, doch sie war, als Paula geboren wurde, schon seit zwanzig Jahren tot. »Dennoch hörte und las ich in meiner Jugend viel von der Tant’ Josefin’ und vom alten Burgtheater, an dem sie engagiert war. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages selbst dort auftreten würde. Die Scheu vor dem großen Haus war ungeheuer.« Josefine Wessely wurde als Luise Miller, als Klärchen und als Gretchen gefeiert. Sie starb im Alter von nur 27 Jahren während eines Theatergastspiels in Karlsbad.
»Mein Vater«, setzte Paula Wessely fort, »war ein begeisterter Theatergeher, meine Mutter wäre gar zu gerne Tänzerin geworden.« Mit fünfzehn, in der Bürgerschule, wusste Paula bereits, »dass das Theater mein Wirkungskreis in späteren Jahren werden soll«.
Dabei wollte sie ursprünglich Lehrerin werden. »Ich habe als Kind gerne Schule gespielt. Mir war aber sehr bald klar, dass ich für den Lehrberuf viel zu ungeduldig gewesen wäre. Die Entscheidung fiel durch meine Deutschlehrerin Madeleine Gutwenger, die mich zum Vorsprechen in die Akademie für Musik und darstellende Kunst brachte.«
Durch Zufall fiel mir vor ein paar Jahren eine Ausgabe der Theaterzeitschrift Die Bühne vom 11. Dezember 1924 in die Hände, in der sich ein Kritiker unter dem Titel »Theater der Schauspielschüler« als Prophet in Sachen Schauspielkunst versuchte. In seinem Bericht von einer »Übungsaufführung der Akademie für darstellende Kunst« glaubte der Rezensent in Wallensteins Lager die »Marketenderin Mizzi Vlck als kommende Hansi-Niese-Begabung« zu erkennen. Für nicht minder talentiert hielt er »die Damen Duhm, Hradsky und Buschek sowie die Herren Schwandner, Zechel und Aichinger«.
Unnötig zu erwähnen, dass kein einziger der von dem Kritiker »entdeckten« Künstler in die Theatergeschichte eingegangen ist. Neben der Betrachtung in der Bühne findet sich jedoch ein Foto der gesamten Schauspielklasse, also auch jener Damen und Herren, die der Kritiker nicht für würdig befunden hat, als Begabungen zu erwähnen.
Und auf diesem Foto ist klar und deutlich Fräulein Paula Wessely zu erkennen.
Womit besagtem Kritiker eine der bedeutendsten Schauspielerinnen des Jahrhunderts nicht weiter aufgefallen wäre. Die Wessely schmunzelte, als ich ihr den Artikel zeigte. »Ist doch ein Glück, dass mich der Herr Redakteur nicht erwähnt hat. Sonst wär’ vielleicht nichts aus mir geworden.«
Karl Paryla, ihr Jahrgangskollege in der Akademie, erinnerte sich freilich, dass »ihr außergewöhnliches Talent vom ersten Tag an spürbar war«.
Als Siebzehnjährige spielt sie eine Hofdame in George Bernard Shaws Heiliger Johanna. »Die Ehrfurcht vor den Schauspielern war so groß, dass ich es nicht wagte, meinen Fuß ins Konversationszimmer des Deutschen Volkstheaters zu setzen. Denn dort saßen die Schauspieler, die die großen Rollen spielten, und vor ihnen hatten wir tiefen Respekt.«
Zwei Jahre später ist sie am Deutschen Theater in Prag, wo der Kritiker Max Brod, ergriffen durch ihr Spiel, ankündigt: »Nächstesmal werde ich wohl schon ›die Wessely‹ schreiben.« Max Reinhardt holt sie nach Wien und Salzburg, und sie ist »die Wessely«, als ihr 1932 mit Rose Bernd in Berlin der Durchbruch gelingt.
»Reinhardt stand ich zum ersten Mal im legendären Elferzimmer des Theaters in der Josefstadt gegenüber. Man hatte mir vorher verraten: Er bringt junge Schauspieler sehr gerne in Verlegenheit, indem er nichts sagt. Glücklicherweise hatte ich die Kraft, auch nichts zu sagen. So sind wir also eine Zeit lang stumm dagesessen. Dann hat er als erster geredet, mir ein paar Fragen gestellt – und von da an gehörte ich dem Theater in der Josefstadt an.«
1933 ist sie das Gretchen in Reinhardts legendärer Faust-Inszenierung in Salzburg, im darauf folgenden Jahr wird sie durch Maskerade über Nacht weltberühmt. »Am Film faszinierten mich die Möglichkeiten, etwa in der freien Natur zu drehen. Ich war vor Maskerade schon zehn Jahre am Theater, hatte aber ein Gesicht, das als nicht fotogen galt. Willi Forst hat mir ein Tor geöffnet, als er den Mut hatte, mich in Maskerade zu besetzen. Es war mein Glück, zur richtigen Zeit dazugekommen zu sein, als der Stummfilm vom Tonfilm abgelöst wurde.« Episode, Späte Liebe, Der Engel mit der Posaune, Cordula waren weitere Stationen ihres Filmschaffens.
Mitunter ist man enttäuscht, wenn man großen Schauspielern privat begegnet. Was an ihnen fasziniert, ist oft doch »nur« gespielt. Ganz anders war es bei Paula Wessely, die ihr Visavis auch im persönlichen Gespräch bezaubern, durch ihre Ausstrahlung gefangen nehmen konnte. Unsere Gespräche fanden in ihrem Garten, im schattigen Innenhof oder in der Bibliothek ihres Hauses in der Grinzinger Himmelstraße statt. Dieses Haus passte auch in einzigartiger Weise zu ihr. Es ist elegant, ohne schick zu sein, riesengroß und doch verwinkelt. Als Kind bin ich, von Wienerwaldtouren kommend, immer wieder daran vorbei marschiert, und meine Eltern haben jedesmal darauf hingewiesen, dass hinter diesen Mauern die berühmteste Schauspielerin des Landes lebte. Ich war sehr beeindruckt, wenn auch eher von der geheimnisvollen Nachricht und den Mauern des lang