Die ganz Großen. Georg Markus
setzen jetzt die Tradition aus meiner und aus der Familie meines Mannes fort. Anfangs war es für sie belastend, immer wieder mit mir verglichen zu werden. Gott sei Dank ist es ihnen gelungen, sich vollkommen zu lösen und einen eigenständigen Weg zu gehen. Jetzt im Alter mache ich für meine Töchter dieselben Ängste durch, die ich seinerzeit um das Gelingen meiner eigenen Rollen durchgestanden habe.«
Hin und wieder sah man die Doyenne des Burgtheaters auch in ihren letzten Lebensjahren noch durch Grinzing schreiten, von Einheimischen und Touristen bewundert wie eine Königin. Sie lebte nicht wie ein Star, wie eine Diva, sondern sehr bürgerlich. »Manchmal«, vemerkte, sie, »scheint es in Wien so zu sein: Ist man wer, haben sie’s nicht gern. Ist man niemand, passt es ihnen auch nicht. Ich persönlich muss den Menschen dankbar sein, dass sie mir über eine so lange Zeit so viel liebevolle Anhänglichkeit zeigen.«
Paula Wessely war gläubig und befasste sich zuletzt intensiv mit dem Sterben. »Ich lese darüber in den Schriften bedeutender Theologen«, sagte sie, »ich lande aber doch wieder bei meinem Kinderglauben nach altkatholischem Bekenntnis. Und so erhoffe ich mir, im Jenseits all den Menschen, die ich geliebt habe, wieder zu begegnen.«
Als sie dann, im Mai 2000, am Ende ihres Jahrhunderts und am Anfang des neuen, im Alter von 93 Jahren gestorben war, fragten viele, warum die Wessely – ausgerechnet die Wessely! – nicht mit einer großen Trauerfeier verabschiedet worden sei. Sie hatte ihre Töchter in ihrem Letzten Willen ersucht, nur ja nicht, wie das bei Ehrenmitgliedern des Burgtheaters üblich ist, im Foyer des Bühnenhauses aufgebahrt und dann um das Gebäude getragen zu werden. Paula Wesselys schriftlich deponierte Begründung lautete: Sie hätte sich nie als reine Burgschauspielerin, sondern vielmehr als österreichische Schauspielerin gesehen. Sie hätte auch gefunden, es gäbe Berufenere, die dem Burgtheater mehr gedient haben. Und sie war der Auffassung, dass ein so großes Zeremoniell zu teuer wäre.
Sie dachte schließlich, dass ihr Abgang »ein privater« sein sollte.
»Privat« war dann auch die Trauerfeier in der kleinen Grinzinger Kirche, in der nur Familie und enge Freunde Platz fanden. Der Abschied war so ruhig, so schlicht, wie das Leben, das sie gerne geführt hätte. Sie selbst hatte noch alles minuziös geplant, von der ökumenischen Einsegnung mit zwei katholischen und zwei altkatholischen Priestern, bis hin zu Schuberts »Streichquintett«, dargeboten von fünf Herren der Wiener Philharmoniker. Es waren dieselben Klänge, mit denen man einst Attila Hörbiger verabschiedet hatte.
»Privat« ist schließlich auch der Ort ihrer letzten Ruhe. Werner Krauß, Curd Jürgens, Hans Moser, Paul Hörbiger und viele andere der ganz Großen wurden am Wiener Zentralfriedhof bestattet. Alle recht nah beisammen, in Ehrengräbern, als stünde der letzte – gemeinsame – Auftritt noch bevor. Paula Wessely hingegen ließ sich an der Seite ihres Mannes, in Grinzing, begraben. Fernab von den Freunden und Kollegen aus der alten Zeit.
»Manchmal«, schreibt Joachim Kaiser in seinem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung, »gibt es auch Gründe, die ein höheres Alter vorteilhaft erscheinen lassen. Und wäre es nur der, die Wessely noch erlebt zu haben – und dafür dankbar zu sein.«
Man verwendet das Wort »unersetzlich« vielleicht allzu leichtfertig. Einige Jahre nach dem Ableben eines großen Künstlers stellt sich dann oft heraus, dass auch er zu »ersetzen« ist. Nicht als Mensch und Persönlichkeit, aber doch in seinem Beruf. Selbst die Darsteller der klassischen Rollen haben ihre Nachfolger gefunden. Wenn die Erinnerung an die ganz Großen auch noch so wehmütig stimmen mag – andere spielen ihre Rollen, müssen ihre Rollen spielen.
Aber wer ist Hans Mosers Nachfolger?
Auch nach so vielen Jahren scheint das Wort »unersetzlich« für ihn keineswegs übertrieben. Es wird keinen geben, der sein »Fach« übernimmt. Ein Fach, das in keine der üblichen Kategorien des Theaters und des Films einzustufen ist. Sein Fach ist nicht das des Komikers oder Charakterdarstellers. Sein Fach heißt »Moser«. Und es konnte im Film nur einmal, ein einziges Mal, besetzt werden. Oder wäre eine Neuverfilmung des Dienstmanns mit einem anderen denkbar?
Könnte irgend jemand sonst seinen Tanzlehrer Hofeneder in Wir bitten zum Tanz spielen? Oder die tragikomische Figur des Dieners in Herrn Josefs letzte Liebe?
Meinen Zugang zu Hans Moser fand ich über Paul Hörbiger, der mir viel von ihm erzählte, von den Extempores, mit denen die beiden ihre Rollen bis fast zur Unkenntlichkeit verändert hatten, aber auch von der tiefen Menschlichkeit, die Moser außerhalb des Studios zeigte. Geliebt hab’ ich ihn schon früher, wenn er in seinen Filmen, sich mehrmals um die eigene Achse drehend, über den Bildschirm huschte.
Als im Herbst 1989 – also ein Vierteljahrhundert nach Mosers Tod – der künstlerische Nachlass des Volksschauspielers freigegeben wurde, wurde mir die Ehre zuteil, mit der Veröffentlichung betraut zu werden. Der Moser-Schatz war bis dahin in Kisten und Kartons verpackt. Tausende Fotos und Erinnerungsstücke lagerten jahrzehntelang in einer leer stehenden Wohnung aus Mosers Besitz, ohne dass irgendjemand davon Kenntnis hatte. Mehr als sechzig Jahre hatte seine Ehefrau Blanca alles gesammelt: jedes einzelne Bühnen- und Filmfoto der langen Karriere ihres Mannes, Kinoplakate und Theaterzettel, Hunderte handgeschriebene Rollenhefte, Kritiken und Zeitungsausschnitte. Aber auch Kurioses wie das »Polizeiliche Führungszeugnis für Herrn Hans Moser-Julier«, Bahn- und Flugbilletts seiner Reisen und ein Arztrezept aus dem Jahre 1928. Oder den Kaufvertrag seiner Villa, Mosers Burgtheatervertrag (öS 17 000,- brutto pro Monat) und sämtliche Honorarnoten seiner Filmengagements (für Hallo Dienstmann, 1951 gedreht, erhielt er als Gage 200 000 Schilling).
Da lagen sie also vor mir, die riesigen, prall gefüllten schwarzen Kartons, und ich konnte nicht fassen, was Österreichs großer Volksschauspieler neben seinen Filmen noch alles hinterlassen hatte. »Wie nehm’ ma’n denn«, stand da in verwinkelter Kurrentschrift auf einem vergilbten Blatt Papier – zwischen Filmplakaten und alten Rechnungen steckte Mosers eigenhändig verfasstes Manuskript des Dienstmanns, der berühmten Szene, die er sich 1923 auf den Leib geschrieben hatte.
In einer anderen Kiste fand ich einen dramatischen Brief an Hitler, in dem er in verzweifelten Worten für seine jüdische Frau interveniert und den »Führer« anfleht, »die für Juden geltenden Sonderbestimmungen gnadenweise zu erlassen«.
Doch Hitler kannte keine Gnade – Blanca Moser musste emigrieren, lebte viele Jahre von ihrem Mann getrennt.
Im »Polizeilichen Führungszeugnis« aus dem Jahre 1948 ist eingetragen, dass Moser »weder als Bettler (!) noch als Mitglied der NSDAP« eingestuft wurde. 1960 ersuchte der als sparsam bekannte Schauspieler die Erzdiözese Wien in einem Brief um »Erlass der Kirchensteuer«, weil er – wie er schreibt – »seit zwei Jahren nichts verdiente, weder beim Film noch am Theater«.
Dabei hatte er in diesen beiden Jahren sieben Filme gedreht …
Hans Mosers Leben stellte sich mir nun in den vielen Dokumenten und Aufzeichnungen seines Nachlasses dar. Zuallererst erstaunt, wie lange es dauern sollte, bis man die wahre Größe dieses Mannes erkannt hatte. Es war ein schmerzlicher Weg, der ihn erst in reifen Jahren zum Erfolg und damit zu den Rollen führte, die er so unnachahmlich spielte.
Er wurde am 6. August 1880 als Sohn des Franz und der Serafina Julier in Wien geboren. Die Mutter war Wienerin und betrieb am Naschmarkt ein kleines Milchgeschäft. Den Vater, einen gebürtigen Ungarn, hatte es als jungen Mann in die Haupt- und Residenzstadt verschlagen, wo er als Maler und Bildhauer arbeitete. Dem Umstand, dass seine Vorfahren ursprünglich aus Frankreich stammten, verdankte Hans Moser – der wienerischste aller Schauspieler – seinen so unwienerischen Namen Julier.
»Schauspieler willst werden? Mit der Stimm’ und der Figur?« Das war die erste Reaktion des Vaters, als er erfuhr, dass sein Sohn nach Abschluss der Handelsschule zur Bühne wollte. Auch die Aussage von Direktor Gutmayer – dem Leiter der privaten Theaterschule Otto – war alles andere als ermutigend: »Talent haben S’ keines, junger Mann, aber wenn S’ wollen, können S’ bleiben!« Diese »Gnade« wurde Johann Julier zuteil, weil sich die Theaterschule