Die ganz Großen. Georg Markus
es bis kurz vor dem Ende des Krieges weiter. Im Frühjahr 1979 fanden wir, während der Recherchen zu seinem Buch, im American Document Center in Berlin einen dicken »Paul-Hörbiger-Akt«, in dem sämtliche »Untaten« des aufmüpfigen Volksschauspielers penibel aufgelistet sind. Daraus geht auch hervor, dass er lange Zeit viel zu populär war, um ganz »aus dem Verkehr gezogen« zu werden.
Doch Hörbiger ging noch weiter, »zu weit« für die Machthaber. Nachdem er schon einmal in Prag vorübergehend festgenommen wurde, weil er dort das von den Nazis verbotene Lied »Pisnička Česka« gesungen hatte, wird er in Wien ein zweites Mal verhaftet. Der Grund: In den Räumen einer Widerstandsgruppe tauchte ein Scheck über 3000 Mark mit Paul Hörbigers Unterschrift auf.
»Am 20. Jänner 1945 kamen Gestapoleute in mein Hietzinger Haus, um mich abzuholen. Da hab ich plötzlich die Nerven verloren.« Hörbiger läuft ins Badezimmer, schneidet sich mit einer Rasierklinge die Pulsader der linken Hand auf. Nachdem ihm ein benachbarter Arzt erste Hilfe erteilt, wird der Schauspieler ins Gefangenenhaus abgeführt.
Ich habe mit ihm, als wir sein Leben dann auch für das Fernsehen verfilmten, die Zelle besucht, in der er bis Kriegsende gesessen ist. Wiener Landesgericht, E-Trakt, 4. Stock, Zelle 289. Paul standen die Tränen in den Augen, als er hier die Stunden seiner Todesängste nach 35 Jahren noch einmal Revue passieren ließ. »Da bin ich g’sessen, und es war furchtbar. Wir haben alle mit unserem Ende gerechnet, keiner konnte ernsthaft glauben, dass er da wieder lebend herauskommt. Dann brach auch noch Typhus aus, wir wurden kahl geschoren, und es hat entsetzlich gestunken. Viele meiner Zellennachbarn sind an der Epidemie elend zugrund gegangen.«
Seine Tochter erhielt in diesen Tagen die Nachricht, dass im »Feindsender« BBC eine Aufnahme von Pauls Fiakerlied gespielt und danach vom Sprecher gemeldet wurde: »Diese Stimme ist für immer verklungen, der beliebte Wiener Schauspieler Paul Hörbiger wurde heute Nacht im Wiener Landesgericht hingerichtet«.
Das war zwar ein wenig übertrieben, »aber meine Familie stand unter einem großen Schock, man hat mit dem Schlimmsten gerechnet«.
Am 5. April 1945 ist der Spuk vorbei. Als die Truppen der Alliierten näher rücken, werden die Gefangenen überraschend freigelassen. Paul Hörbiger ist der erste »Politische«, der durch das große Tor des Wiener Landesgerichts in Freiheit gelangt. Ihm folgen der spätere Bundeskanzler Leopold Figl und dreitausend weitere Häftlinge.
Paul Hörbiger hat sich nie als Held gesehen, er lehnte es ab, Widerstandskämpfer genannt zu werden – »dafür habe ich zu wenig geleistet. Ich habe nichts weiter getan, als meine Meinung gesagt. Was eine Diktatur wirklich ist, das habe ich, wie die meisten anderen, viel zu spät erkannt.«
Die Gespräche führten wir fast immer in seinem Haus in Wieselburg. Dass es in der Paul-Hörbiger-Gasse lag, war verständlich – die Gemeinde hatte ihren berühmtesten Sohn auf diese Weise geehrt –, dass das Gasthaus, in dem wir hin und wieder einkehrten, »Haus Moser« hieß, war hingegen reiner Zufall – der Wirt hieß wirklich so. Meist bereitete Paul Hörbiger, der leidenschaftlich gerne kochte, unser Mittagessen aber selbst zu. Am Nachmittag erzählte er dann weiter aus seinem Leben, während wir, begleitet von mindestens vier Hunden, über das kleine Grundstück hinüber zu seinen Glashäusern spazierten, in denen der begeisterte Hobbygärtner jede Menge Orchideen, Obst, Gemüse und Salate gepflanzt hatte.
Irgendwann fragte ich ihn, warum er sich denn ausgerechnet in dem kleinen Städtchen, hundert Kilometer westlich von Wien, angesiedelt hätte. Weder der Ort noch das schmucklose Haus in einer Arbeitersiedlung entsprachen den Vorstellungen des Publikums, wie ein Filmstar zu wohnen hat.
»Ja, das ist so eine Geschichte«, lachte er. »Ich hab’ einmal in der Gegend gedreht, da lud mich der Verwalter eines benachbarten Schlosses ein, ich könnte auf dem an der Erlauf gelegenen Gut jederzeit fischen. Es war ein Paradies für Petrijünger, und so kaufte ich das kleine Grundstück hier im nahen Wieselburg und baute das Haus drauf. Ein paarmal habe ich dann auf dem herrschaftlichen Gut den Fischereihimmel auf Erden erlebt. Aber das Glück hielt nicht lange an. Mein Sohn Thommy hatte damals ein Tanzlokal in der Wiener Innenstadt, in dem eines Abends ein Betrunkener randalierte. Thommy wies ihn aus dem Lokal. Was soll ich dir sagen – der Randalierer war ausgerechnet der Sohn des Verwalters vom Schloss. Seither sitz ich in Wieselburg, aber zum Fischen bin ich nicht mehr gekommen.«
Paul Hörbiger setzte seine Karriere nach dem Krieg fort. Spielte wieder am Burgtheater – von dem aus er jeden Abend per Bahn ins entlegene Wieselburg fuhr – drehte Filme, vor allem und am liebsten mit seinem kongenialen Partner Hans Moser, der, wie er sagte, »ein einmaliger Glücksfall für mich gewesen ist«. Hofrat Geiger, Hallo Dienstmann, Ober zahlen, Hallo Taxi … zeugen davon.
Zwei Volksschauspieler, die auch außerhalb des Studios der Typ Wiener waren, den sie im Film verkörperten. Moser blieb, auch als reicher und berühmter Mann, der raunzende Kleinbürger. Hörbiger war immer Lebemann. Und wie sie lebten, so sind sie auch gestorben. Moser, der Sparsame, als Millionär. Hörbiger, der Bonvivant, hatte die Gagen seiner Filme aufgebraucht. Er hatte, im wahrsten Sinne des Wortes, gelebt.
Es bereitete Paul Hörbiger sichtliches Vergnügen, in den vielen Gesprächen, die wir miteinander führten, einmal noch sein langes, reiches Leben Revue passieren zu lassen. Seine Töchter Christl und Monica sagten mir nach seinem Tod, das Erinnern und der anschließende Erfolg des Buches, das wir Ich hab’ für euch gespielt nannten, hätten ihm ein Jahr voller Freude geschenkt.
Als wir, wie erwähnt, seine Memoiren, nach Erscheinen des Buches, an den Stätten seiner Karriere verfilmten, fuhren wir auch nach Berlin, Reichenberg und Prag. Im Prager Restaurant Opera Grill hatten wir nach Drehschluss, beim Abendessen, ein berührendes Erlebnis. Wie so oft, wenn der große Mann mit dem schlohweißen Haar ein Lokal betrat, applaudierten die Gäste spontan. Der Pianist unterbrach seine Musik, spielte eine andere Melodie, und Hörbiger rannen plötzlich – wie auch damals schon, in seiner Zelle – dicke Tränen über beide Wangen. Als das Lied verklungen war, stand er auf und umarmte den Klavierspieler.
Was war geschehen? Der Musiker Arnos Vrana hat jenes tschechische Volkslied »Pisnička Česka« intoniert, das 1940 Anlass für Hörbigers Verhaftung durch die Gestapo gewesen war, nachdem es die Nazis verboten hatten. Und jetzt, vierzig Jahre später, spielte derselbe Pianist, als er Hörbiger erkannte, dieses Lied noch einmal. Und beide lagen einander weinend in den Armen.
Paul Hörbiger stand bis zuletzt auf der Bühne des Wiener Burgtheaters. Er starb am 5. März 1981 im Lainzer Krankenhaus in Wien. Wo ich ihn wenige Tage vor seinem Tod ein letztes Mal besucht hatte. Fast 87 Jahre alt und gezeichnet von der Schwäche seines Herzens, war er auch im Angesicht des Todes der Alte geblieben, hatte seinen Humor nicht verloren. Als ich ihm am Krankenbett erzählte, dass dem beliebten Schauspieler Alfred Böhm – seinem Nachbarn in Wieselburg – als Nächstem die Goldene Kamera überreicht würde, sagte Paul, dem sie vier Jahre zuvor verliehen worden war: »Jetzt ist Wieselburg die Stadt mit den meisten Goldenen Kameras pro Kopf der Bevölkerung.«
Mit den Worten »Ihr werdet’s net so lang um mich weinen, wie ihr über mich g’lacht habt’s«, ließ Paul Hörbiger seine Memoiren ausklingen. Wenn wir heute einen seiner Filme sehen, sind wir glücklich, über ihn lachen zu können. Und traurig, dass es ihn nicht mehr gibt.
Wir können sein komödiantisches Talent nur erahnen, kaum jemand der heute Lebenden wird Alexander Girardi noch auf einer Bühne gesehen haben. Und wir können seine Zeitgenossen zu Rate ziehen. Felix Salten etwa, der »Schauspieler wie Girardi als Naturereignisse« bezeichnete, »die auch wie diese mit unwiderstehlicher Macht wirken. Erscheinungen wie er gehen neben der Kunst einher, gehen, wenn man will, manchmal hoch über die Kunst hinaus. Man muss sie hinnehmen, wie man ein Wunder hinnimmt, muss sie als Wunder staunend genießen.«
Alexander Girardi, so wird erzählt, hätte einmal den alten Kaiser bei einem Spaziergang durch Bad Ischl begleitet, da drehten sich die Leute um und fragten: »Wer ist denn der alte Herr neben dem Girardi?« Es wird schon nicht ganz so gewesen sein, aber die Episode zeigt, wie populär der Volksschauspieler war. Jeder Wiener, der auf sich hielt, trug einen Girardihut,