Die ganz Großen. Georg Markus

Die ganz Großen - Georg Markus


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ich das Haus von innen sah und ihr gegenüber saß, da wusste ich es längst. Ich hatte sie im Burgtheater gesehen oder in Aufzeichnungen ihrer großen Rollen. Als Genia Hofreiter im Weiten Land, als Mrs. Arbuthnot in Eine Frau ohne Bedeutung, als Nora Melody in Fast ein Poet. »Meine Theaterauftritte, das sind Erinnerungen an eine andere Zeit«, sagte sie. »Inzwischen ist so viel passiert, so viel versunken am Theater und in der Welt überhaupt. Gleichgeblieben ist nur der Mangel an guten und publikumswirksamen neuen Bühnenstücken. Abgesehen davon nimmt das Theater nicht mehr die Stellung ein, die es zu meiner Zeit hatte. Das tut mir weh, denn es hat mir und meiner Generation so viel Freude bereitet.«

      Zurück nach Prag, 1926. Dort lernt sie Attila Hörbiger kennen. »Ich war neunzehn Jahre alt, wurde als blutjunge Schauspielerin des Deutschen Theaters vom Ehepaar Dittrich liebevoll als ›Kind im Haus‹ aufgenommen. Wir wohnten Smečka – so hieß die Straße – Nummer 33. Vom Wenzelsplatz links hinein, das weiß ich noch. Durch die Familie Dittrich, er war Professor für Gerichtsmedizin, und beide waren unglaubliche Theaterliebhaber, begegnete ich damals, wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der Monarchie, einem bunten Kreis interessanter Menschen. Die Gesellschaft in Prag war doch ganz anders als die in Wien. Ich habe ungeheuer viel gelernt, was mir menschlich und in meinem Beruf zugute kam, auch deshalb war Prag so wichtig für mich.«

      Rund fünfzehn Prozent der Prager waren deutschsprachig, »ein phantastisches Publikum«, für das sie Komödien und Klassiker spielte. Die neuen Herren hieß das Stück, in dem sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem jungen Schauspieler namens Attila Hörbiger auf der Bühne stand. Damals, in Prag, Premiere 10. September 1926. »Wir hatten eine Liebesszene, ich lief auf ihn zu und rannte ihn fast um. Von einer Beziehung keine Rede, ich wusste nicht viel mehr von ihm, als dass er sportbegeistert war, irgendwas mit Fußball. Erst in Wien haben wir uns näher kennengelernt, an der Josefstadt.«

      Neun Jahre nach dem ersten Treffen in Prag sollten sie heiraten.

      Noch im hohen Alter – er war schon gestorben – freute sie sich, »wenn ich Gelegenheit habe, einen Film mit Attila im Fernsehen zu sehen. Da sehe ich nicht nur den Schauspieler Attila Hörbiger, sondern auch meinen Mann. Es ist wie ein Wunder, ihn lebendig vor mir zu haben, und mir kommen eine Fülle von Gedanken über die Zeit, wie es damals war, auch außerhalb der Dreharbeiten, als dieser Film entstanden ist.« Sie sah zum Fenster hinaus, in den schönen Grinzinger Garten inmitten der Weinberge, als blickte sie den vielen Stunden nach, die sie da unten mit ihm verbracht hatte. »Ich kann gar nicht glauben, dass er nicht mehr da ist. Er hatte die seltene Gabe, auch das Negative positiv zu sehen.«

      Eine Gabe, die ihr wohl fehlte.

      1936 erhält Paula Wessely ein Traumangebot aus Hollywood, sie lehnt ab und hat es nie bereut. Es gab mehrere Gründe dafür, auch private. »Für mich galt, auch im Film, was Helene Thimig einmal im Salzburger Café Tomaselli zu mir sagte: ›Man kann in einer fremden Sprache nur Theater spielen, wenn man sie von Kindheit an spricht.‹ Die Warner Brothers verlangten, ich müsste zwei Jahre Englisch lernen – das Risiko schien mir zu groß, um dafür meine hiesige Film- und Theaterlaufbahn aufzugeben.«

      Die ging mit Riesenschritten voran. Millionen Frauen kleideten sich, trugen ihr Haar wie sie. Die Wessely wurde zum Idol. Doch das waren nur die äußeren Zeichen einer Karriere (verzeihen Sie, Paula Wessely, jetzt hab ich das »eitle« Wort doch niedergeschrieben). Einer Karriere, die hart erarbeitet war. »Zugeflogen ist mir nichts, ich hab’ es mir sehr schwer gemacht, habe mir auf den Proben jede Rolle erkämpfen müssen. Mir ging es um die Glaubwürdigkeit in der Darstellung, das war alles. Zufrieden war ich selten. Theater, Film, Erfolg – vieles war dann ganz plötzlich da.«

      In den Jahren der Naziherrschaft wirkte sie in einem Propagandafilm mit, den sie besser nicht gedreht hätte. Und den man ihr später zum Vorwurf machte. Sie wollte das in unserem Gespräch nicht beschönigen, es lag ihr nur daran, »dass am Ende meines Lebens nicht das von mir übrig bleibt, und sonst gar nichts. Ja, es war ein Fehler, ein schwerer Fehler, dass ich nicht den Mut aufgebracht habe, abzulehnen. Es tut mir leid, dass ich die Dreharbeiten nicht abgebrochen habe – welche Konsequenzen das für mich und meine Familie auch immer gehabt hätte.«

      Sicher: Damit konnte sie den Film Heimkehr nicht ungeschehen machen. Aber es war ein klares Wort. Das von ihren Gegnern – allen voran Elfriede Jelinek in dem Tendenzstück Burgtheater – nicht akzeptiert wurde. Simon Wiesenthal, zweifellos die oberste Instanz in diesen Fragen, bezeichnete das Jelinek-Stück als Höhepunkt einer »miesen Hetzjagd«. Zumal bekannt ist, dass das Ehepaar Wessely-Hörbiger Freunden zur Ausreise verhalf, seine gefährdete Sekretärin weiter beschäftigte und sich dafür einsetzte, dass diese mit ihrem jüdischen Ehemann zwischen 1938 und 1945 in ihrer Wohnung verbleiben konnte. Nach dem »Anschluss« kaufte Paula Wessely formell die Villa Kalbeck, um sie so vor der sicheren »Arisierung« durch die Nazis zu schützen. Florian Kalbeck bestätigte mir gegenüber, dass die Wessely auf diese Weise das Hab und Gut der Familie gerettet hat.

      Paula Wessely wirkte sehr ernst, sehr betroffen, wenn sie über diese Zeit und das, was man ihr vorhielt, sprach. Die Angriffe haben ihr den Frieden der letzten Jahre geraubt, sie hat unvorstellbar darunter gelitten.

      »Glauben Sie«, fragte sie mich und klopfte dabei eindringlich mit der Hand auf das kleine Kaffeetischchen ihres Wohnzimmers, »glauben Sie, Fritz Kortner, der seine Heimat verlassen musste, hätte nach dem Krieg mit mir gearbeitet, wenn auch nur ein einziger Punkt der Anschuldigungen, die ich mir gefallen lassen muss, zugetroffen hätte?«

      Kortner. 1964 spielt sie unter seiner Regie am Burgtheater in dem Ibsen-Stück John Gabriel Borkmann. Die kleine Geschichte sei erzählt, um zu zeigen, dass die Wessely nicht nur sehr ernst sein konnte, sondern – was nur wenige wussten – auch über ein beachtliches Quantum feinen Humors verfügte. Kortner war für seine ausführliche Probenzeit bekannt. Nach zwei Wochen aufreibender Vorbereitungen erscheint Paula Wessely in der Kanzlei des Burgtheaterdirektors Ernst Haeusserman: »Es ist wirklich großartig«, sagt sie, »was Kortner alles sagt. Und wie er es sagt. Und diese Gründlichkeit. Heute, nach 14 Probentagen, sind wir glücklich auf Seite sieben des Rollenbuches angelangt. Sagen Sie, Herr Direktor, ist eigentlich auch daran gedacht, dass es in diesem Stück je eine Aufführung geben wird?«

      Es war daran gedacht, und es gab auch eine. »Als Frau Wessely ihre Verzweiflung über ein verdorbenes Leben mit ganzer Seele und Stimme darbot«, heißt es in einer Rezension, »da reichte Theater weit über Kalkuliertes hinaus in Bezirke, die sonst nur der Musik geöffnet sind.«

      Am 13. Oktober 1984 hatte sie – als Hoffnung in Ferdinand Raimunds Der Diamant des Geisterkönigs – ihre letzte Premiere am Burgtheater, es folgte eine Serie umjubelter Leseabende, 1987 zog sie sich für immer zurück. Ob sie die Bühne vermisste, fragte ich sie. »Eigentlich nicht. Eines Tages war’s für mich ganz klar, dass ich aufhöre. Ich sollte die Fürstin Ettin in Molnárs Olympia spielen, eine Rolle, die mir seinerzeit viel Vergnügen bereitet hat. Als ich dann achtzig war, habe ich mir das nicht mehr zugetraut, weil die körperlichen Kräfte nachließen. Es war mir beschieden, im richtigen Moment aufgehört zu haben.«

      Als Paula Wessely im Herbst 1992 am Wiener Rosenhügel der österreichische Filmpreis für ihr Lebenswerk verliehen wurde, durfte ich die Laudatio halten. Wir setzten uns vorher zusammen, sie legte Wert darauf, dass ich jedes Wort der Bewunderung, der Wertschätzung, der Betonung ihrer Größe vermeide. Ich habe es dann doch nicht ganz geschafft und gesagt, was sie uns allen bedeutet. Ihren strafenden Blick werde ich nie vergessen.

      Sie dankte bescheiden unter Standing Ovations, wie ich sie davor und danach nie wieder erlebte. Wenn sie an die Leistungen der wirklich Großen – der Ärzte, der Forscher und Erfinder – dachte, so sagte sie, »dann war das nicht sehr viel, was ich den Menschen geben konnte«.

      Zurück wieder in die Himmelstraße Nr. 24. Sie sitzt, während sie Bilanz zieht, im ersten Stock des Hauses, der immer ihr Bereich war. Im Parterre logierte Attila Hörbiger, jetzt lebt dort ihre Tochter Maresa. »Es war ein buntes, gnadenreiches Leben«, sagt die Wessely und streift mit einem Blick die vielen Bücher ihrer Bibliothek. »Zwei Kriege, viel Leid, aber auch sehr viel Freude durch Beruf und Familie. Drei gesunde Kinder zur Welt gebracht zu haben, das hat mich


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