Tomaten mögen keinen Regen. Sarah Michaela Orlovský
Gaya ist nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hat sie sich längst ins Mädchenzimmer verdrückt. Wundert mich nicht.
„Na, wo sind denn meine starken Burschen?“, ruft Schwester Rosa aus der Einfahrt herauf. Ich mag nicht, wenn sie so mit mir spricht. Wie mit einem kleinen Kind. Ich bin kein kleines Kind mehr. Aber sag das einmal einer Nonne.
Schwester Rosa steht unter der Heckklappe des Minibusses und dirigiert das Ausladen.
„Hier, mit besten Grüßen aus Bella Italia!“, sagt sie zu Sirup und zeigt auf eine Riesenladung Spaghetti. Sirup packt den Karton und grinst mich dabei an. Damit ich auch ja sehe, dass das ein Klacks ist für ihn. Dann rennt er davon und heult dabei wie eine Sirene.
„Und für dich die Bananen, mein Guter“, sagt Schwester Rosa und klopft mir auf die Schulter. Ich runzle die Stirn.
„Natürlich bio!“, ruft sie entrüstet, als sie meinen Blick sieht. „Nun hab dich nicht so, aufs unterste Regalbrett, Marsch Marsch!“
Ich nehme also die Bananenschachtel und mache mich auf den Weg. Sirup kommt mir schon bei den Apfelbäumen entgegengerannt. Er stürmt an mir vorbei, als gäbe es beim Auto gratis Eiscreme.
Ich schlichte die Bananen ordentlich ins Regal, damit sie nicht faulig werden. Sirup würde sie wahrscheinlich einfach hineinwerfen und wir müssten wieder zwei Wochen lang braunes Bananenmus essen. Den leeren Karton stelle ich zum Altpapiersammeln in die Abstellkammer. Ich mache alles genau richtig. Das sollte Schwester Rosa jetzt sehen. Aber sie ist noch immer draußen. Das muss wirklich ein Rieseneinkauf gewesen sein. Ich laufe noch einmal hinaus, um den Rest zu holen.
Sirup hebt gerade etwas Großes aus dem Bus. Ich kann nicht genau erkennen, was es ist, aber es muss schwer sein, so wie er dabei in die Knie geht. Damit schafft er es nie bis ins Haus. Egal, wie breit er grinst.
„Nein, Hovo, nicht!“, schreit Tiko, als ich zum Bus gehe.
Keine Ahnung, was nicht. Sirup taumelt unter seiner Last. Ich mache zwei schnelle Schritte. Da schiebt sich ein Schatten vor die Sonne.
Es ist Schwester Rosa. Sie sollte auch nicht so viel essen.
„Hovanes, bitte sei so gut und trag die Eier hinauf“, sagt sie.
Die Eier? Da bleibt mir der Mund offen. Ernsthaft! Sirup schleppt sich kaputt und ich soll eine Packung blöde Eier in die Küche tragen?
„Hovanes, bitte, stell dich nicht so an“, stöhnt Schwester Rosa. „Schwester Miki wartet schon. Sie braucht die Eier zum Kochen.“
Sie drückt mir den Karton in die Hand und macht auf den Fersen kehrt. Mit Sirups Hilfe wuchtet sie die Riesenlast aus dem Auto, gemeinsam torkeln sie in die Garage.
Ich presse die Lippen aufeinander. Immer darf Sirup alles machen. Immer werde ich behandelt wie ein Baby. – Die Eier! – Ich bin älter als Sirup. Ich kann auch schwere Sachen tragen. Mindestens so gut wie Sirup.
Und die Gießkanne soll Schwester Rosa das nächste Mal alleine schleppen. Das mit den Bandscheiben kann sie ab jetzt jemand anderem erzählen.
ANA
„Ana?“, fragt Levon schüchtern. „Hat das noch bis Montag Zeit?“ Der Praktikant legt einen Packen Papier auf den Schreibtisch der Chefredakteurin.
„Hat was Zeit?“, fragt Ana und blättert die Unterlagen blitzschnell durch.
„Bis heute sollte ja das Konzept stehen, nicht? Für die Reportage über Menschen mit Behinderung“, erinnert sie Levon. „Aber ich stecke noch immer mitten in den Recherchen. Das ist so ein umfangreiches Thema. Kann ich da bitte noch übers Wochenende dran schreiben?“
„Ist gut“, seufzt Ana. „Ich komme vor Montag sowieso nicht dazu, mir das anzusehen.“
„Danke“, sagt Levon. „Und – ach ja – für die Sitzung morgen um 11.00, soll ich da noch etwas vorbereiten?“
„Welche Sitzung?“
„Ähm – die Redaktionssitzung für die Herbstausgabe.“
„Die Redaktionssitzung“, flucht Ana. „Verdammt.“
Levon starrt Ana verblüfft an.
„Ist alles in Ordnung?“, fragt er vorsichtig.
Ana holt tief Luft.
„Sowieso“, lächelt sie. „Es ist nur gerade etwas dicht, alles zusammen.“
Einen kurzen Moment lang steht Levon da, unschlüssig, ob er gehen oder noch kurz bleiben soll.
„Magst du vielleicht auf einen schnellen Kaffee gehen?“, fragt er schließlich.
Ana sieht auf ihre Uhr. „Warum nicht“, sagt sie. „Eine Pause kann nicht schaden.“
Ich habe den Kopf fest zwischen die Knie geklemmt, um den Schmerz in meinem Kopf wegzudrücken. Trotzdem höre ich den Wagen. Das Tor schlägt klirrend gegen die Mauer und dann heult ein Motor auf.
Ich schiebe mich hinter dem schweren Regal hervor. Mein Hals und mein Rücken sind ganz steif vom langen Sitzen. Ich steige auf zwei Kartoffelsäcke, um aus dem Fenster sehen zu können. Von der Speisekammer aus sieht man nur die kleine Ecke der Einfahrt, in der die Mülltonnen stehen. Das Auto ist genau davor geparkt. Ich kann nur die offene Seitentür erkennen.
Es ist der Rettungswagen.
Sie sind zurück aus dem Krankenhaus.
KAPITEL 2
Die Leute fragen immer, wie das so ist, in einem Waisenheim zu leben.
„Es ist so, dass wir keine Eltern haben“, sagt Eilis dann. „Aber wir haben hier trotzdem eine Familie.“
„Das Essen ist okay“, sagt Sirup dann, „oder was meinst du?“ „Ein Waisenheim ist halt ein Waisenheim“, sagt Gaya dann. Wenn sie überhaupt etwas sagt.
Ein Waisenheim ist halt ein Waisenheim. Und wenn man sein ganzes Leben in einem Waisenheim gewohnt hat, weiß man auch gar nicht, wie es anders sein könnte. Es ist eben so.
Ich hätte nur gerne ein eigenes Zimmer, für mich allein. Oder zumindest irgendetwas, das nur mir gehört. Das Haus gehört allen, der Garten gehört allen, wir essen und beten und atmen zusammen, Schwester Miki regiert in der Küche und Schwester Rosa kontrolliert unsere Schränke. Dazwischen ist kein Platz für Wut und keine Zeit zum Spazierengehen.
Ich stopfe die Gartenhandschuhe in meine Hosentasche und schlüpfe in die Gummistiefel. Das raue Material reibt an meiner Ferse, als ich zu den Gemüsebeeten stiefle, aber ich bin zu faul, zurückzugehen und mir Socken zu holen.
Schwester Rosa kratzt mit Schere und Feile die Trauerränder unter Tikos Fingernägeln heraus. Eilis sitzt daneben und wartet, bis sie an die Reihe kommt. Sie lächelt mir zu. Aber mir ist nicht nach Lächeln. Mir ist nach Vasenzertrümmern und Ziegelwerfen.
Stattdessen hebe ich den Deckel von dem Eimer mit der Brennnessel-Jauche. Schnell drehe ich den Kopf weg. Der Gestank haut mich fast um. Seit fünf Tagen schwimmen die Brennnesseln im Wasser. Der Sud ist bestimmt längst giftig.
Für Menschen.
Aber nicht für Tomaten. Die Tomatenstauden trinken Brennnesselsaft wie verrückt. Besonders jetzt, wo sie Blüten kriegen. Ich muss den Sud noch mit reinem Wasser mischen, damit er nicht zu stark ist. Mit angehaltenem Atem greife ich nach der Gießkanne.
Da plätschert es. Und dabei habe ich die Kanne noch nicht einmal gekippt …
Regnet es? – Blödsinn. Blitzblauer Himmel, kein Tropfen von oben. Ich drehe mich um.
Es ist Sirup. Er steht breitbeinig da in seinen Gummistiefeln und wäscht den Kiesweg mit dem Gartenschlauch. Er sieht meinen Blick.
„Alles