Tomaten mögen keinen Regen. Sarah Michaela Orlovský

Tomaten mögen keinen Regen - Sarah Michaela Orlovský


Скачать книгу

      In der Schule haben wir besondere Wörter gelernt. Für Augenfarben. Es gibt meergrüne Augen oder eisblaue oder bernsteinfarbene. Aber diese Wörter passen nicht zu Lucine.

      Lucines Augen sind schön. Sie sind ein bisschen wie Sonne oder Stroh.

      Ich glaube, Lucines Augen sind blond.

      „Hoi, Hovo“, sagt Lucine.

      Ich nicke ihr zu und versuche ein Lächeln ohne Spucke. Es ist so heiß hier. Tiko zieht an Lucines Hand. Immer will sie Prinzessin spielen, wenn Lucine kommt.

      Sirup steht da, mit offenem Mund, als wollte er etwas sagen. Aber es kommt nichts mehr.

      Ich kneife die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und starre Sirup an. Er starrt zurück. Langsam wird er unsicher. Ich zeige mit dem Kopf in Richtung Haus.

      Sirup knurrt und trottet davon.

      Gewonnen.

      „Was hat er denn?“, fragt Lucine verwundert. Ich zucke mit den Schultern und greife mir einen neuen Nagel. Ich will das Drahtgitter am Holzrahmen befestigen. Verflixt! Immer rutscht das Gitter über die Nägel und dann hängt es durch. Das kann doch nicht sein!

      „Das wird wohl der Hasenstall, von dem mir Sirup erzählt hat?“, meint Lucine.

      Sie geht in die Hocke. Noch immer hält sie Tikos Hand. Tiko steht ganz schief da. Sie weiß nicht, ob sie stehen, sich hinhocken oder Lucines Hand auslassen soll.

      „Hovanes bastelt das schon drei Tage lang“, sagt sie und kauert sich doch neben Lucine, auf den heißen Kies, die Nase zwischen den Knien. Ich seufze zur Bestätigung.

      „Ganz schön viel Arbeit, so ein Stall, hm?“, meint Lucine. „Kann ich die Hasen mal sehen?“

      „Sie sind im Schuppen! Komm, ich zeig sie dir!“, ruft Tiko, verwandelt sich in einen Gummiball und springt davon.

      Unsere Augen müssen sich erst an die dunkle Staubluft gewöhnen. Aber den Albino sehen wir gleich.

      „Oh, sind die süß!“, haucht Lucine. „Und schon so groß!“

      „Die werden noch größer“, prahlt Tiko. „Das sind nämlich Hasenriesen.“

      Lucine starrt gebannt in die Kiste. Die drei Mümmelmänner hoppeln herum. Sie kümmern sich gar nicht um uns. Lucine liest einen Grashalm vom Boden auf und steckt ihn durch einen Spalt in die Kiste.

      „Tststs“, lockt sie.

      „Das ist langweilig“, mault Tiko. Sie schlurft hinaus.

      Wir sind allein.

      „Brauchst du vielleicht Hilfe?“, fragt Lucine.

      Lucine hilft immer. Sie ist ein Engel, sagt Schwester Rosa. Ich nicke begeistert und strecke beide Daumen hoch. Das sieht dämlich aus. Aber Lucine schaut sowieso nur auf die Kaninchen.

      Vier Hände schaffen viel mehr als zwei. Lucine ist so geschickt. Sie bohrt Löcher in den Holzrahmen und fädelt den Blumendraht abwechselnd durch das Holz und das Drahtgitter. Es dauert gar nicht lange. Ich schraube noch die vier Stelzen an, damit der Stall nicht direkt am Boden steht. Ratzfatz.

      Fertig!

      Nebeneinander hocken wir in der Sonne und bewundern unser Werk.

      Lucine dreht ein Gänseblümchen zwischen ihren Fingern. Dann steckt sie es sich zwischen die Zehen.

      „Wie willst du die Hasen da reinbringen?“, fragt sie nach einer Weile.

      Meine Kinnlade klappt nach unten. Ich spüre einen Speichelfaden im Mundwinkel.

      Da ist ein Fehler. Ich habe einen Fehler gemacht. Der ganze Stall ist falsch. Die Kaninchen können nicht rein. Der Stall ist auf allen Seiten zugenäht. Knallbumm zu!

      Lucine ist ganz rot im Gesicht. Sie presst die Hand gegen den Mund. Sicher findet sie mich blöd.

      Sie lacht und legt mir dabei eine Hand aufs Knie.

      „Sei mir nicht böse“, prustet sie. „Aber sieh dir das einmal an! Das ist grenzgenial! Das gehört ins Museum!“ Sie lacht und lacht und lacht, bis ihr die Tränen kommen.

      Ich lache mit. Ich kann gar nicht anders.

      Ich habe einen Fehler gemacht.

      Aber das macht nichts.

      KAPITEL 4

      Schweißgebadet wache ich auf und weiß im selben Augenblick: Es war nur ein Traum. Es ist immer nur der eine, selbe, hässliche Traum. Er kommt daher wie eine Erinnerung, verschwommen, in Braun-Grau. Bis Mama mir den Rücken zudreht und die Tür aufmacht. Ihr Mantel ist gelb. Ich sehe ihre schmalen Schultern und den eckigen Koffer und ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht. Das Geräusch ist so laut wie die Stille.

      Ich möchte ihr hinterherlaufen. Mich ihr in den Weg stellen. Sie soll mich ansehen.

      Wenn sie mich sieht, bleibt sie hier.

      „Mama!“, möchte ich schreien. „Mama!“

      Ich möchte ihr nachlaufen, aber ich habe kein Gefühl in den Beinen. Ich habe überhaupt kein Gefühl, außer dieses eine, das mir ins Genick drückt, diese Angst. Ich öffne den Mund und ich fühle, wie meine Stimmbänder aneinander reiben.

      Es kommt kein Ton. Weil mein Leben ein Stummfilm ist.

      Ich bleibe einfach sitzen, wo ich bin, und weine.

image

      „Weißt du, welcher Tag heute ist?“, kräht Tiko.

      Erschrocken fahre ich hoch. Der Radiowecker zeigt 6.15 Uhr.

      Welcher Tag? Mir ist schnurzpiepegal, was für ein Tag heute ist! Die Lider kleben schwer auf meinen brennenden Augen. Ich falle zurück in mein Kissen. Tiko hüpft auf mein Bett. Sie stößt mir ihr Knie in die Rippen und setzt sich rittlings auf meine Beine.

      Ich versuche, sie abzuschütteln.

      „Aber du musst aufstehen!“, ruft Tiko störrisch. „Heute ist doch ein besonderer Tag für dich!“

      Es wäre ein besonderer Tag für mich, wenn ich endlich einmal in Ruhe ausschlafen könnte.

      „Komm schon, steh auf!“ Tikos Piepsstimme ist jetzt ganz nah an meinem linken Ohr. „Wir müssen uns fertig machen! Heute feiern wir doch, dass dein Vater gestorben ist!“

      Gayas Kopf bewegt sich im Rhythmus der Scheibenwischer. Hin und her, hin und her, hin und her. Das ist ihr Lieblingsspiel. Wenn sie weiß, dass wir einen Ausflug mit dem Auto machen, betet sie schon am Vorabend um Regen. Die Zunge zwischen den Lippen, folgt sie den Scheibenwischern mit den Augen und wiegt sich in die Wischbewegung ein.

      Der Heilige Petrus erhört Gayas Gebete fast immer. Der Regen peitscht gegen die beschlagenen Scheiben des Wagens. Draußen ist nichts zu sehen außer Massen von Wasser, die vom Himmel stürzen. Sirups Finger öffnen und schließen den Aschenbecher in der Beifahrertür. Klickklackklickidiklack. Tiko schaut angestrengt zwischen den Sitzen nach vorne.

      Ein LKW überholt uns hupend. Als er sich mit einem Mördertempo vor uns wieder einreiht, schwappt eine Riesenwelle auf die Windschutzscheibe. Schwester Miki schaltet die Scheibenwischer auf die höchste Frequenz. Gaya versucht einen kurzen Moment mitzuhalten, dann gerät sie ins Schleudern. Sie greift sich mit beiden Händen an die Ohren und rollt mit den Augen. Ich muss lachen.

      „Wasser“, brummt Gaya empört und dreht sich zum Fenster.

      Das Lachen bleibt mir im Hals stecken. Ich glaube, ich sollte nicht lachen.

      „Heute feiern wir, dass Hovanes’ Papa tot ist“, sagt Tiko zu Sirup, als hätte sie ihn gerade zufällig getroffen und müsste ihm die neuesten Neuigkeiten stecken.

      „Hör


Скачать книгу