Tomaten mögen keinen Regen. Sarah Michaela Orlovský

Tomaten mögen keinen Regen - Sarah Michaela Orlovský


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gestorben ist, nicht?“

      „Ja“, bestätigt Sirup.

      „Also feiern wir, dass er tot ist!“, ruft Tiko triumphierend.

      „Gaya, ruhig Blut!“, sagt Schwester Miki schnell, bevor Gaya mit den Fäusten auf Tiko losgehen kann.

      „Wir veranstalten heute eine Gedenkfeier“, erklärt Schwester Miki und fixiert dabei abwechselnd Gaya und Tiko im Rückspiegel. „Weil sich heute der Tag jährt, an dem Hovanes’ Vater seiner Krankheit erlegen ist.“

      Tiko streckt Gaya blitzschnell die Zunge heraus. Aber nicht schnell genug.

      „Aber du darfst nicht sagen, dass wir ‚feiern‘, Tiko“, sagt Schwester Miki streng. „Denn feiern tut man nur, wenn man Grund zur Freude hat. Und freust du dich etwa, dass Hovanes’ Vater gestorben ist?“

      „Nein“, haucht Tiko unglücklich. „Tut mir leid, Hovanes.“

      Ich lege die Hand auf Tikos Schulter.

      Mir tut es auch leid.

      Mir tut es leid, dass jedes Jahr alle wegen mir zum Friedhof pendeln und eine Gedenkfeier abhalten müssen. Alle bis auf Eilis. Sie ist mit Schwester Rosa zu Hause geblieben. Eilis war nur ein Mal mit. Danach konnte sie nächtelang nicht schlafen. Es war wie ein Albtraum für Eilis, einer, aus dem man nicht mehr aufwachen kann.

      Mein Vater hat sich vielleicht gefreut, dass jemand so lange an ihn gedacht hat. Wer hat denn sonst schon Zeit, in der Nacht an die Toten zu denken?

      Die Fahrt zum Friedhof dauert nicht lange. Schwester Miki parkt das Auto und wir gehen gemeinsam zum Grab des Mannes, der mein Vater war. Fünf Regenmäntel in Rot, Grün und Gelb kämpfen sich durch die Wassermassen. Das Plastik bläht sich knisternd auf im Wind.

      Wir wissen alle genau, wo es ist. Zweite Reihe rechts, ganz hinten in der Ecke.

      Heute bin ich zum zwölften Mal hier. An das erste Mal habe ich keine Erinnerung. Ich war noch viel zu klein. Ich konnte noch nicht einmal alleine stehen.

      Wer mich wohl gehalten hat, während sie ihn begraben haben? Ich glaube, als mein Vater gestorben ist, war Mama schon weg. Da hatte sie schon ein neues Leben. Ohne uns.

      Ob ich geweint habe?

      Jemand muss mich gehalten haben.

      Ich kann mich nur an die Gedenktage mit den Schwestern erinnern. Dass mich Schwester Rosa an der Hand genommen und zum Grab meines Vaters geführt hat. Seither ist es jedes Jahr das Gleiche.

      Wir stellen uns rund um das Grab auf. Schwester Miki macht das Kreuzzeichen. Wir machen es gehorsam nach.

      Wir beten.

      Schwester Miki beginnt mit dem Vaterunser. Ich versuche die Lippen zu bewegen, ohne Regen zu schlucken und lasse den Blick schweifen.

      Gaya steht da, das Gesicht halb von der großen Kapuze verdeckt, die Augen geschlossen. Der Wind trägt ein leises Murmeln zu mir herüber. Tiko betet laut und voller Selbstvertrauen ihre eigene Version des Vaterunsers.

      Sirup steht auf dem Stein des Nachbargrabes und versucht, auf einem Bein zu balancieren. Schwester Miki zupft ihn am Mantel. Sirup macht einen Satz, landet mit beiden Füßen am Boden und ruft laut: „Amen!“

      Genau im richtigen Moment.

      Glückselig die Armen im Geist.

      Jetzt kommt mein Auftritt.

      Ich nehme vorsichtig die Rose aus Schwester Mikis Hand und lege sie neben das ewige Licht auf das Grab.

      Das sollte jetzt ein besonderer Moment sein.

      Jetzt sollte ich irgendetwas spüren. Jetzt sollte ich mich mit meinem Vater verbunden fühlen. Spüren, dass er irgendwie da ist.

      Aber ich spüre nichts.

      Ich stehe wieder auf und stelle mich zurück zu den anderen.

      Wer möchte, kann ein kleines Gebet sprechen.

      „Ich bitte für Hovos Papa, dass er es gut hat im Himmel“, betet Tiko mit geschlossenen Augen. Irgendetwas verschließt mir die Ohren. Ich höre nur Rauschen.

      Unterwassersender. Tauchstation.

      Ich würde auch gerne eine Fürbitte sagen.

      Aber ich kann nicht.

      Vielleicht sollte ich weinen. Schwester Miki sagt immer, weinen hilft. Aber das geht nicht. Weil ich nicht will. Weil ich nicht wirklich traurig bin. Ich habe meinen Vater ja nicht einmal richtig gekannt.

      Ich bin nur traurig, dass die anderen für meinen Vater beten.

      Und ich glaube nicht einmal an den Himmel.

      Es regnet immer stärker.

      „Die Engel weinen“, sagt Tiko vergnügt.

      Schwester Miki scheucht alle zurück in den Bus.

      „Gebt mir die Mäntel heraus!“, ruft sie. „Sonst werden die Sitze ganz nass!“

      Ich bleibe einfach stehen und lasse den Regen über meine Augenlider laufen. Sie fühlen sich schwer an. Vielleicht sind es all die Bilder, die darauf drücken. Bilder von meinem Vater, wie er mich auf dem Schoß hält oder in die Luft wirft. Die ganz nahe sind. Nur dass ich sie nicht einfangen kann.

      „Es ist gut, Hovanes“, sagt Schwester Mikis Stimme plötzlich ganz nah an meinem Ohr.

      „Lass es gut sein.“

      In der Küche blubbert der Wasserkocher und Schwester Miki rauscht mit einer Wärmflasche an mir vorbei. Es ist die grüne mit dem Froschgesicht. Es zischt seltsam, als Schwester Miki das Wasser einfüllt. Noch während sie den Verschluss festschraubt, verschwindet sie wieder im Bubenzimmer. Knallt die Tür zu und lässt mich hier sitzen.

      Ich presse die Zähne zusammen und schlucke. Mein Hals drückt. Blinzelnd schaue ich durch den Türspalt ins Mädchenzimmer. Tiko sitzt an Eilis’ Knie gelehnt und frisiert ihre Puppe.

      „Wie spät ist es?“, fragt Tiko.

      „Du bist eine kleine Nervensäge“, sagt Eilis. „Ich hab’s dir doch vor zwei Minuten gerade erst gesagt.“

      „Wie spät ist es?“, wiederholt Tiko unbeirrt.

      Eilis seufzt. „16.53 Uhr“, liest sie von ihrer Armbanduhr ab.

      „Und wie spät ist das?“, fragt Tiko.

      „Das ist eine Stunde vor dem Abendessen“, sagt Eilis. Sie dreht die Hand, sodass Tiko auf die Armbanduhr sehen kann.

      Tiko starrt auf das Ziffernblatt.

      „Und warum liegt Sirup dann noch im Bett?“

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