Neue Zeit 1919. Gerhard Jelinek

Neue Zeit 1919 - Gerhard Jelinek


Скачать книгу
und hat sich in dem kurzen Dezennium, das ein geiziges Schicksal ihm gegönnt hat, nicht merklich geändert; hätte es wohl auch später kaum mehr getan. Die Fähigkeit, in dünnen Umrissen das ganze Leben und den eigentümlichen Ausdruck menschlicher Gesichter, Gestalten und Bewegungen einzufangen, dazu eine aparte Koloristik, waren die bezeichnenden Merkmale seiner Kunst schon in seinen Schülerjahren. Er mag wohl von Klimt und Kokoschka angeregt worden sein, die zu der Zeit, als Schiele heranwuchs, mit ähnlichen Versuchen vor das Publikum traten. Doch haben seine Arbeiten ein eigenes Cachet. Eine fast pathologische Neigung zum Verzerrten, Leichenhaften charakterisiert die Mehrzahl seiner Werke. Aber eine eigentümliche Phantastik hebt diese grimassierenden Fratzen, die an der Grenze der Karikatur stehen, in die Sphäre des Traumhaften, Visionären (…) Auch wer dieser Richtung keinen Geschmack abgewinnen kann, wird zugestehen müssen, daß sie hier einen vollwertigen künstlerischen Interpreten gefunden hat. Die erstaunliche Virtuosität, mit der Schiele seine Konturen hinschreibt, wird am deutlichsten in seinen Naturstudien (…) Hier spricht sich mit dem spärlichsten Aufwand an Mitteln doch die feinste Naturempfindung aus, dabei ein eigenartiger ornamentaler Geschmack und es fehlt auch der pathologische Einschlag, der zwar für viele von den Werken Schieles charakteristisch ist, sie aber doch auch abstoßend macht.«

       3. Februar 1919

      »Der Kampf der Gewalten – Ein Drama der Arbeit«

       Der Film erobert als Massenmedium Wien

      Der Film Der Kampf der Gewalten – Ein Drama der Arbeit wird von der Zensurstelle aufgrund der in der Woche vom 3. Februar bis 18. Februar 1919 vorgenommenen Filmprüfungen zur Vorführung in den Jugendvorstellungen als nicht geeignet eingestuft. Immerhin werden im Winter 1919 schon 56 Filme überprüft, wovon nur 20 auch Jugendlichen zugemutet werden dürfen. Der Kampf der Gewalten greift ein fast tagespolitisch aktuelles Thema vor der Drohkulisse einer »roten« Räteregierung in Bayern und Ungarn auf. Die Arbeiter einer Fabrik werden von einem Bolschewiken namens »Borski« gegen ihre Arbeitgeber aufgewiegelt und übernehmen den Betrieb. Am Ende scheitert die Selbstverwaltung kläglich und die Aufrührer begrüßen die Rückkehr der Direktoren zur Leitung der Firma. Da sich »Borski« auch noch als Frau in Männerkleidern entpuppt, wird hier nicht nur vor den verhängnisvollen Folgen des Bolschewismus gewarnt. Das Filmdrehbuch macht unterschwellig Ängste der Männer gegenüber einer neuen starken Frau sichtbar.

      Mit dem Zusammenbruch der Monarchie und dem Ende des Krieges ist die allgemeine Zensur aufgehoben worden. Das Medium Film bleibt von der neuen Freiheit ausgeschlossen. Die republikanischen Behörden orientieren sich weiterhin an den Bestimmungen des Jahres 1912: Die Polizeidirektion Wien fertigt für jeden neuen Film »Erlaubniskarten« an. Auch in den Bundesländern entscheiden Beamte über die Zulassung von Filmen in den Lichtspieltheatern. Anfangs steht weniger die politische Absicht im Vordergrund, als der Schutz vor flimmernder Zügellosigkeit. Was in Wien erlaubt ist, darf aber möglicherweise in Salzburg nicht gezeigt werden. Gerade im Bereich des »Jugendschutzes« beharren die Landesregierungen auf die lokale Sittenstrenge. Daran wird sich auch die nächsten hundert Jahre wenig ändern.

      Filme mit klaren politischen Botschaften sind auch eher die Ausnahme. Erfolgreicher sind Filme wie Der Mann der Tat, die sich gleich mehrerer Klischees bedienen: Der später berühmte Emil Jannings agiert als reicher, aber »etwas verwilderter« Amerikaner namens Jan Miller. Er trifft auf eine reiche, schöne Witwe mit dem blumigen Namen Hendrica van der Looy. Die Dame kann sich nicht zu einer zweiten Heirat entschließen. Sie wartet auf einen »Mann der Tat«. Über Vermittlung eines Bankiers trifft sie den amerikanischen Herrn Miller, sie zeigt kokettes Interesse, muss ihn aber zuerst europäische Umgangsformen lehren.

      Für mehr Aufsehen sorgt der unter der Regie von Hans Otto Löwenstein produzierte Streifen Mayerling, der sich mit der Tragödie von Kronprinz Rudolf beschäftigt. Auch in der Republik ist das Thema so heikel, dass der Film zunächst von der Zensur verboten wird. Er könnte monarchistische Bevölkerungskreise verstören. Erst 1924 darf dieser Film in Österreich öffentlich vorgeführt werden. In Prag kommt Mayerling schon im Herbst 1919 in die Kinos. Synchronisiert muss der Stummfilm ja nicht werden. Regisseur Hans Otto Löwenstein entwickelt sich zu einem der prägenden Filmemacher der Ersten Republik. Mehr als 400 Produktionen werden seinem Schaffen zugeschrieben. Im Herbst des Jahres flimmert ein weiterer Mayerling-Film (Die Tragödie des Kronprinzen Rudolf) in gleich 94 Wiener Kinos. Regie in diesem deutschen Spielfilm führt Rolf Randolf. Die Zensur schaut diesmal weg. Der Film als Massenmedium hat Wien längst erobert.

      Als eigentliches Geburtsjahr des österreichischen Spielfilms gilt 1908, als der Fotograf Anton Kolm gemeinsam mit dem Schauspieler Heinz Hanus den nicht mehr erhaltenen Streifen Von Stufe zu Stufe dreht. Die schwarz-weißen, mit 18 Bildern pro Sekunde flimmernden Minidramen leiten einen regelrechten Kino-Boom ein. Innerhalb der wenigen Jahre bis zum Ausbruch des Weltkrieges werden allein in Wien 150 Lichtspiel- oder, wie es damals heißt, Kinematografentheater eröffnet. Mit der Zahl der Filmtheater explodiert die Filmproduktion. Zwischen 1908 und August 1914 werden in Österreich mehr als 210 »Dokumentarfilme« und über 120 Kurz- und Langspielfilme hergestellt.

image

       Der Film wird zum neuen Massenmedium. Schon im ersten Jahr der Republik flimmern in fast 200 Kinos kinematografische Werke. Filme dienen vornehmlich der Unterhaltung, dokumentieren aber auch gesellschaftliche Missstände.

      Der mährische Adelige Alexander (Sascha) Kolowrat-Krakowsky wird zum Wiener Filmmogul. Seine »Sascha-Film« dreht und produziert am laufenden Band, und im Jahr 1913 wagt sich Kolowrat-Krakowsky mit seiner Produktionsgesellschaft in Wien an den ersten »abendfüllenden« Spielfilm: Der Millionenonkel. Regie führen die Brüder Hubert und Ernst Marischka, die Hauptrolle des Millionenonkels spielt Burgtheater-Schauspieler Alexander Girardi. Noch verschwimmen die Grenzen zwischen Theater und Film. Der fehlende Ton erzwingt ein gestenreiches Schauspiel, durchaus so wie es das Publikum vom Theater kennt.

      Der Erste Weltkrieg befreit zunächst die österreichischen Produzenten von der mächtigen französischen Konkurrenz. Immer öfter rücken die heimischen Kameraleute an die Front aus, um im Dienste der Propaganda Kriegsberichterstattung zu machen. Viele der dokumentarischen Szenen sind freilich inszeniert und die Filme unterliegen einer strengen Zensur durch die Filmstelle des Kriegspressequartiers. Zur Produktion der Filmaufnahmen braucht es professionelle Filmschaffende, wie eben Alexander Kolowrat-Krakowsky, der zum Leiter der k. u. k. Filmstelle gemacht wird und sich dabei der Ressourcen seiner »Sascha-Film« bedienen kann. Auch der routinierte Filmemacher Hans Otto Löwenstein führt bald bei den Produktionen Regie. Die Filme werden der Bevölkerung im regulären Kinobetrieb, aber auch den Truppen in eigenen Feldkinos vorgeführt.

      Die Regierung hat großes Interesse am Einsatz des neuen Mediums Film, dessen propagandistischer Wert erkannt wird. Die »Filmstelle des k. u. k. Kriegspressequartiers« wird ohne Schnitt als »deutsch-österreichische Filmhauptstelle« direkt der Staatskanzlei unterstellt und mit dem vorhandenen Personal weitergeführt. Die Aufgabe dieser neuen Institution ist vor allem die Produktion von wissenschaftlichen Filmen zu Unterrichtszwecken, aber auch von Unterhaltungsfilmen und Filmen, die zur Hebung des Ansehens der jungen Republik im Ausland beitragen sollen. Schon bald werden auch die Förderung des Fremdenverkehrs und die Schönheit der Landschaft kinematografisch belichtet. Die erste erhaltene Produktion entsteht mit Unterstützung der amerikanischen Kinderhilfsaktion und soll die Not der Bevölkerung Wiens einem mutmaßlich internationalen Publikum vor Augen führen. Das Kinderelend in Wien ist der Versuch, mit dokumentarischen Bildern über die Hungersnot von Kindern und das Elend von Familien internationale Hilfe anzuregen, ja geradezu einzufordern. Die für den rund zehn Minuten langen Streifen gedrehten Bilder werden sich in den 1920er- und 1930er-Jahren immer wieder in Propagandafilmen wiederfinden.

      Das Kinderelend in Wien zeigt im 35-Millimeter-Format in drastischer Weise die reale Situation der Nachkriegsgesellschaft im ersten »Friedenswinter«, der vor allem für städtische Kinder zum Hungerwinter wird. Im Stil eines Lehrfilms werden zunächst Kinder einer Wiener Volksschule


Скачать книгу