Neue Zeit 1919. Gerhard Jelinek

Neue Zeit 1919 - Gerhard Jelinek


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als Jules Vernes Held. Sie braucht nur 72 Tage und ein paar Stunden. Das Buch, das sie danach veröffentlicht, wird zum Welterfolg. Nellie Blys Rekord hält nicht lange. Schon 1911 reist André Jager-Schmidt in nur 37 Tagen um die Erde. Freilich unter anderen Bedingungen. Nellie Bly konnte 1887 noch nicht mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren. Im Jänner 1919 ist sie wieder in Wien und soll über das Elend in der ehemaligen Kaiserstadt berichten. Die Reporterin der New York World war bereits im Frühjahr 1915 als Kriegsberichterstatterin in Galizien unterwegs gewesen und zeichnete von der k. u. k. Armee ein sehr idealistisches Bild: »In allen Ländern, die ich bereiste, kämpfen die Nationen, weil sie eine andere Nation hassen, in Österreich kämpfen sie alle nur, weil sie Österreich lieben. Es ist ein wunderbares Gemüt in diesen Leuten, die ihr Vaterland glühend lieben und doch seinem Feind gegenüber selbst im Kampfe voller Mitleid sind.«

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       Staatskanzler Karl Renner wirbt in einem Interview mit der Journalistin Nellie Bly für die amerikanische Zeitung New York World um Investitionen in Österreichs Wirtschaft.

      Renner nützt die Journalistin als Augenzeugin der österreichischen Zustände. Er erhofft sich vor allem einen Leser: Amerikas Präsident Woodrow Wilson soll über Nellie Blys Artikel für die Anliegen der österreichischen Republik gewonnen werden. Renners Interview wird zum Appell: »Wenn uns die Sicherheit des Lebens geboten wird, wenn man uns Deutschböhmen und des Sudetenlandes und der Zufuhren aus Deutsch-Ungarn beraubt, ist zu hoffen, daß es den regierenden Parteien gelingt, den inneren Frieden zu erhalten. Ob wir noch eine Revolution haben werden oder nicht, das hängt heute ebenso sehr von den Ententemächten als von uns selbst ab.« Renner wirbt bei der amerikanischen Journalistin um Investitionen der US-Industrie. Ängste, die sozialdemokratische Regierung könne Industriebetriebe verstaatlichen, versucht Renner zu zerstreuen. Lediglich die von Kartellen geleiteten Großbetriebe sollten der Staatsleitung unterstellt werden, zunächst die Kohle- und Eisenbergwerke: »Für den privaten Geschäftsgeist wird noch weiter Raum bleiben. Gewiß! Nichts kann uns erwünschter sein, als wenn die amerikanischen Kapitalisten hier in unserem Lande ihr Geld anlegen und uns helfen, unsere Arbeitslosen zu beschäftigen.«

      Nellie Bly veröffentlich das lange Gespräch mit dem Staatskanzler. Ob Woodrow Wilson es gelesen hat? Renners linker Parteigenosse Otto Bauer ist über die Öffentlichkeitsarbeit des Staatskanzlers nicht gerade erfreut. Er stellt ihn zur Rede: »Du liest offenbar keine ausländischen Blätter und hast daher, wie es scheint, keine Ahnung, welches Unheil Du mit manchen Redewendungen anrichten kannst.«

       1. Februar 1919

      »Von den neun Koryphäen können wir nur eine als talentiert bezeichnen«

       Operndirektor Richard Strauss will Tänzerinnen besser bezahlen

      Das Wiener Salonblatt, gediegene Bastion des großbürgerlichen, jedenfalls aber in Kunstangelegenheiten konservativen Wiens, sorgt sich um die ehemalige k. u. k. Hofoper und zweifelt vorsorglich an dem designierten Direktor Richard Strauss. »Man verzeihe uns, wir sind skeptisch. Richard Strauß wird natürlich diejenigen für besonders aufführenswert erachten, die Richard Strauß als Meister anerkennen und anerkannten. Er ist es ja auch in seiner Art, aber es gibt noch viele andere Arten, und auch Meister, die nach Ansicht ebenfalls vieler anderer ebenso groß oder gar größer sind, und die, fürchten wir, werden dann in der Richard Straußschen Oper zu Wien nicht viel zu Sang und Klang kommen.« Immerhin freut das Salonblatt die Ankündigung des Maestros, die Bezüge der Tänzerinnen beträchtlich zu erhöhen. Die Balletteusen erhalten lächerliche Monatsgagen, wobei sie sich aber auch Seidentrikots, Seidentanzschuhe, Ballettröcke, Dessous auf eigene Kosten anschaffen müssen oder darauf angewiesen sind, einen Galan zu finden, der diese Auslagen bezahlt. Das Hofopernsystem geht unverschämt davon aus, dass die jungen Frauen vom Ballett ihre Reize nach der Vorstellung in harte Währung ummünzen und sich von Liebhabern aushalten und finanzieren lassen. Das heute ehrwürdige Hotel Sacher hat in Gehweite zur Oper über viele Jahre mit Samt und Seide ausstaffierte Séparées fürs Souper danach bereitgehalten. »Das ist eben immer der Ruin der wirklichen Tanzkunst in der Oper gewesen, daß jedes hübsche und talentierte Mädchen darauf angewiesen war, sich unbedingt eine Nebenversorgung zu ertanzen, die ihr dann natürlich Hauptsache wurde und das Weiterstreben in der Kunst, ja auch nur das Sichhalten auf der Höhe des bisher Erreichten, Nebensache. Man zwinge nicht durch Hungerlöhne Tänzerinnen, die Kunst als Mittel zum Zweck auszuüben, sie sollen von der Gage allein wenigstens leben können, Sprünge damit zu machen verlangen sie ja gar nicht, die werden sie sich gerne für die Bühne aufheben.« Auch die tänzerische Qualität der jungen Damen wird in schönen Worten gnadenlos kritisiert: »Von den neun Koryphäen können wir nur eine als talentiert bezeichnen, die auch nett ist und eine hübsche Figur hat, Frl. Pfundmeyer.«

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       Balletteusen an der Oper, aber auch an allen anderen Theatern, müssen sich »eine Nebenversorgung ertanzen«. Die offiziellen Gagen reichen nicht einmal für die Seidentrikots und Ballettröckchen, so knapp sie auch sein mögen.

      Frauen dürfen zwar bei den kommenden Wahlen erstmals ihre Stimme abgeben, den Begriff »Sexismus« gibt es 1919 aber noch nicht.

       2. Februar 1919

      »Eine fast pathologische Neigung zum Verzerrten«

       Ein künstlerischer Nachruf auf Egon Schiele

      Ein Beginn am Ende. Ein Aufbruch in die »moderne Zeit« mitten im Zusammenbruch der »alten Welt«. Mit dem Zerfall der Monarchie erscheint in Wien eine neue Kulturzeitschrift. Der Titel ist Programm: Moderne Welt. »Aus der Fülle und Buntheit der modernen Welt das Charakteristische, Interessante und Aktuelle herauszugreifen und in Worten und Bildern festzuhalten, ist unser Arbeitsplan.« Unter den Autoren finden sich klingende Namen, die doch auch noch der »alten Welt« verhaftet sind: Anton Wildgans, Hermann Hesse, Egon Friedell, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr, Heinrich Mann, Sigmund Freud, Raoul Auernheimer und viele andere, deren Namen heute verklungen sind.

      Die Illustrierte soll »eine künstlerisch gehaltene Revue großen Stils« sein, eine »österreichische und zugleich europäische Zeitschrift, die den Wettbewerb mit den großen ausländischen Revuen aufnehmen kann.« Die Gründung des Heftes steht im bewussten Kontrast zur Wirklichkeit. Chefredakteur Ludwig Hirschfeld sieht mitten in der Niederlage Hoffnung wachsen. »Dieses erwachte österreichische Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen soll auch in kommenden helleren Zeiten gepflegt werden und seinen eigenen österreichischen Ausdruck finden. Dazu möchte die Moderne Welt das Ihrige beitragen. Wir wollen nicht immer nur in den wohlwollenden oder mißgünstigen, aber meistens unrichtigen Spiegeln des Auslandes gesehen werden, sondern uns einmal selbst mit eigenen Worten und Farben schildern und unseren Freunden und denen, die heute noch unsere Feinde sind, zeigen: so sind wir und so sehen wir wirklich aus.«

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       Die neue Zeit verlangt nach einer neuen Zeitschrift. Die Moderne Welt erscheint 1919 mit einem künstlerischen Nachruf auf Egon Schiele.

      In einer der ersten Ausgaben des Jahres 1919 druckt die Monatszeitung – in der Hirschfeld immer nur das Wort »Österreich«, nie »Deutschösterreich« verwendet – vier Zeichnungen eines kürzlich verstorbenen Malers ab: Egon Schiele. Der feuilletonistische Nachruf auf den Maler beweist, dass Genies durchaus schon in ihrer Zeit erkannt und bekannt werden, auch wenn ihr Werk dann über Jahrzehnte zu verblassen scheint, ehe es wiederentdeckt wird. »Noch nicht 27 Jahre alt ist dieser ungemein interessante Künstler vor kurzem an der Grippe gestorben. Wir würden ihn ›vielversprechend‹ genannt


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